Loe raamatut: «Schlüssel der Zeit - Band 5: Antoniusfeuer»

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Schlüssel der Zeit 5: Antoniusfeuer

Endlich soll Keyra mehr über den geheimnisvollen Orden der Zeitwächter und ihre Bestimmung erfahren – da entführt sie der Schlüssel der Zeit ins Jahr 1502 nach Roßdorf. In einem Kloster, das seine Bedeutung zu verlieren droht, bekommt sie es mit einem gefährlichen Gegner zu tun: einer tödlichen Seuche namens „Antoniusfeuer“. Sie muss herausfinden, was diese Krankheit auslöst. Viele Leben hängen davon ab, auch das eines jungen Malers namens Mathis. Doch das Schicksal arbeitet gegen Keyra – oder ist es doch jemand anderes?

Band 1 „Der Ruf der Schlösser“, Band 2 „Der Hexer von Bergheim“, Band 3 „Das Geheimnis der Kommende“ und Band 4 „Der Fuchs und der Räuber“ der Serie „Schlüssel der Zeit“ liegen ebenfalls als E-Books bei mainbook vor sowie die Bände 1,2 und 3 als Taschenbuch-Sammelband.

Die Serie wird fortgesetzt.


Die Autorin:

2007 legt Tanja Bruske ihren ersten Fantasy-Roman »Das ewige Lied« (neu aufgelegt bei mainbook) vor, mit dem sie den Wettbewerb des Radiosenders FFH »Hessens verheißungsvollstes Manuskript« gewinnt. Ab Juni 2013 erscheint ihre Kinzigtal-Trilogie bei mainbook: »Leuchte«, »Tod am Teufelsloch« und der Abschlussband 2017 »Fratzenstein«. Im September 2018 gewinnt Tanja Bruske mit ihrer Novelle »Der Henker und die Hexe« in Österreich den Titel »Stadtschreiberin von Eggenburg 2018«. Die Novelle wird demnächst in einer Geschichtensammlung veröffentlicht.

Seit 2014 schreibt Tanja Bruske zudem unter dem Pseudonym Lucy Guth für verschiedene Serien des Bastei-Verlages, zB »Maddrax«, seit 2019 auch für »Perry Rhodan Neo«.

Tanja Bruske studierte Germanistik sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt und arbeitet heute als Redakteurin bei der GNZ. Sie wohnt im hessischen Hammersbach mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern.

Mit »Schlüssel der Zeit« legt sie nun eine lokale Histo-Fantasy-Serie vor.

Aktuelles und Lese-Termine finden Sie auf www.tanjabruske.de


Tanja Bruske

Schlüssel der Zeit

-5-

Antoniusfeuer

Lokale Histo-Fantasy-Serie


eISBN 978-3-947612-94-9

Copyright © 2020 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Layout: Olaf Tischer

Covermotive: © fotolia, milosluz + Reiner Erdt

Bildrechte Karte Kloster Roßdorf: Tanja Bruske

Besuchen Sie uns im Internet: www.mainbook.de

Inhalt

1. Antworten

2. Das Ordenshaus

3. Die Hebamme und der Ordensbruder

4. Der Procurator

5. Antoniterschweine

6. Märtyrer und Maler

7. Es brennt

8. Antoniuswein und Saint Vinage

9. Am Hölloch

10. Zweifel

11. Staying Alive

12. Antoniusbalsam

13. Zeitblasen

14. Rückfälle

15. Beweise

16. Der Ring

17. Überführt

18. Im Cellarium

19. Rückkehr

20. Der Feind

1. Antworten

Der Gong beendete den Unterricht für den Zwölfer-Leistungskurs Geschichte der Otto-Hahn-Schule. Die Schüler stießen ein kollektives Seufzen aus und packten ihre Sachen zusammen. Der Mai war heiß und hatte Hanau unter einer Glocke aus trockener Luft eingeschlossen, die nicht nur Keyras Konzentration beeinträchtigte. Selbst ihr Lehrer Sebastian Geiger hatte Mühe gehabt, sich auf den derzeit ziemlich eintönigen Stoff zu konzentrieren. Dabei legte Keyra seit einigen Wochen einen besonderen Lerneifer an den Tag. Seitdem sie wusste, dass sie eine Zeitwächterin war und ihr geheimnisvoller Kristallschlüssel sie jederzeit an jeden Ort in der Vergangenheit katapultieren konnte, saugte sie alles an Geschichtswissen auf, das ihr in die Finger kam.

„Du wirst ja eine richtige Streberin“, hatte ihre beste Freundin Lou neulich kommentiert, als sie in Keyras Zimmer einen Stapel Bücher über das Leben im Mittelalter, die Aufklärung, die Hexenverfolgung und die Politik des 19. Jahrhunderts entdeckt hatte. „Du weißt schon, dass wir bis zum Abi noch ein Jahr Zeit haben?“

Keyra zuckte mit den Schultern und meinte mit einem schiefen Grinsen: „Wer weiß, ob mir dieses Wissens nicht einmal das Leben rettet?“ Sie lachten, doch Keyra hatte einen faden Geschmack im Mund.

Heute allerdings verspürte sie wenig Lust auf schwere Lektüre und war froh, der Schule zu entfliehen.

„Kommst du heute Nachmittag mit zu den Steinheimer Seen?“, fragte Lou beim Hinausgehen.

„Ich würde gerne.“ Keyra seufzte. „Aber ich kann nicht. Ich muss trainieren.“

„Seit wann hast du denn so oft Taekwondo?“ Lou legte die Stirn in Falten.

„Ich bereite mich auf eine Prüfung vor.“ Keyra wurde rot, obwohl es nicht einmal eine Lüge war. Allerdings war es keine Teakwondo-Prüfung, für die sie trainierte. Von ihrem Mentor Leopold hatte sie erst vor Kurzem erfahren, dass sie bis zu ihrem 18. Geburtstag drei Prüfungen ablegen musste. Ziemlich sportlich, denn das war in knapp einem Jahr.

„Schade“, sagte eine Stimme dicht an ihrem Ohr. Keyra machte einen erschrockenen Satz zur Seite: Ben stand neben ihr und grinste. „Wäre bestimmt lustig gewesen, wenn du dabei wärst.“

„Ach, hm, ja, vielleicht, stimmt …“, stotterte Keyra.

Hinter Bens Rücken verdrehte Lou die Augen. Wie immer hatte Keyra in Bens Gegenwart Mühe, einen halbwegs vernünftigen Satz zu formulieren. Während sie zusammen an der Mensa vorbei über den Schulhof gingen, überlegte Keyra, ob sie das Training bei Leopold vielleicht schwänzen könnte, um doch mit an die Steinheimer Seen zu fahren. Eine Abkühlung täte ihr bestimmt gut. Schwimmen war in dem Naherholungsgebiet natürlich streng untersagt, aber man konnte auch lässig die Füße ins Wasser baumeln lassen.

„Was ist denn da los?“ Lou deutete auf eine kleine Menschenmenge, die sich vor dem Schulgelände gebildet hatte. Vor den Toren standen direkt neben der Fußgängerampel häufig nach der sechsten Stunde „Mama-Taxis“, die auf die jüngeren Schüler warteten – was im Übrigen genauso verboten war wie Schwimmen in den Steinheimer Seen. Aber jetzt war die achte Stunde herum und normalerweise weniger los. Außerdem ballte sich die Gruppe, die aus Schülern ihres Jahrganges bestand, an einer Stelle, sodass es höchstens um ein einziges Auto gehen konnte.

Neugierig gingen Keyra, Ben und Lou näher heran. Es war tatsächlich ein Auto, das die Aufmerksamkeit auf sich zog – aber was für eines. Ein knallrotes Cabrio, noch dazu ein Oldtimer.

„Wow, ein Alfa Romeo Giulietta Spider!“, sagte Ben bewundernd. „Was für ein Schmuckstück!“

„Du kennst dich mit Autos aus?“, fragte Keyra.

„Nur ein bisschen. Mein Vater hatte früher so ein Teil, aber er hat ihn gegen einen Tesla getauscht. Ist ja umweltfreundlicher.“

An den Umweltschutz dachte wahrscheinlich keiner der Schüler, die mit glänzenden Augen das Cabrio bewunderten.

Wem mag der wohl gehören?, dachte Keyra, während sie näher herangingen. Dann fiel ihr Blick auf den Fahrer und ihr Mund klappte auf.

„Leo!“, entfuhr es ihr überrascht. Ihr Mentor Leopold von Wachtberg, wie immer korrekt mit schwarzer Hose und weißem Hemd gekleidet, stieg aus und umrundete das Fahrzeug. Keyra konnte nicht ignorieren, dass die anderen Mädchen aus ihrem Jahrgang Leo bewundernde Blicke zuwarfen. Besonders Greta klimperte mit den Wimpern und warf auffordernd ihre Haare zurück.

„DAS ist Leo?“, fragte Lou neben ihr flüsternd. „Der sieht wirklich gut aus.“ Keyra musste ihr zustimmen: Wenn sie übersah, dass Leo sich kleidete, als sei er 65, war er durchaus attraktiv mit seinen schwarzen Locken und hellblauen Augen.

„Da bist du ja endlich, Keyra“, sagte er, was ein verwundertes Raunen rundum auslöste. Keyra war in ihrem Jahrgang nicht gerade als Vamp verschrien. Das Schönste in diesem Moment war Greta Strobl, die aussah, als hätte sie eine Kröte verschluckt. „Ich war mir nicht ganz sicher, wann dein Unterricht heute endet und ob der Geschichtskurs wegen der Hitze nicht vielleicht ausfällt. Deswegen warte ich hier bereits eine Weile.“

„Ach ja?“ Keyra war völlig perplex. Eigentlich hätte sie nicht überrascht sein sollen – der geheimnisvolle Orden war sehr gut über sie und ihre Familie informiert, sodass es wahrscheinlich ein Leichtes war, sich ihren Stundenplan zu beschaffen. Aber irgendwie gruselig war es trotzdem. „Ähm, warum?“

„Weil ich dich abholen will.“ Leo zog die Augenbrauen hoch. „Ich hab dir etwas versprochen, weißt du noch?“

Antworten! Er hat mir Antworten versprochen – wir fahren zu jemandem, der sie mir geben kann. Keyra nickte erfreut. „Ach so! Ja, dann lass uns gleich losfahren.“ Sie zögerte und wandte sich zu Lou und Ben um. „Sorry, das wird heute leider nichts …“

„Alles klar!“ Lou grinste vergnügt und schob Keyra zum Wagen, dessen Tür Leo galant aufhielt. „Viel Spaß, ihr zwei!“

Ben machte große Augen. Es kam wohl nicht oft vor, dass ihm ein Mädchen einen Korb gab. „Okay. Dann sehen wir uns wohl morgen auf Gretas Party?“, rief er. Leo warf ihm einen kritischen Seitenblick zu, den Ben offenbar nicht bemerkte.

Ach ja richtig, die Party von der Schnobl … Der ganze Jahrgang war eingeladen, da hatte Greta Keyra wohl oder übel auch auf die Gästeliste setzen müssen, vor allem weil Ben sich eingemischt hatte. Große Lust hatte Keyra nicht, zumal am Sonntag auch noch ein Schulfest war. Aber Ben würde auf der Party sein. Sie lächelte ihm zu und winkte. „Klar, bis dann!“

Als Leo sich ans Steuer setzte und den Motor aufheulen ließ – ein bisschen provokant, wie Keyra meinte – wichen die Schüler zurück.

„So ein Auto hätte ich dir gar nicht zugetraut“, sagte Keyra, während Leo den Wagen auf der Kastanienallee wendete und zurück Richtung Autobahn fuhr.

„Ein Erbstück meines Vaters. Manchmal denke ich, dass ich mir einen praktischeren Wagen zulegen sollte.“

„Mann, Leo – jetzt dachte ich, ich hätte deine geheime, wilde Seite entdeckt, und dann war es doch wieder nix.“ Keyra lachte. „Wo fahren wir denn hin?“

„Nach Frankfurt, in die Innenstadt.“

„Oh, puh. Das dauert eine Weile.“ Keyra machte es sich bequem. „Dann können wir uns ja schon ein bisschen unterhalten.“

Leo seufzte. „Wenn es sein muss. Aber eigentlich solltest du deine Antworten erst an unserem Ziel bekommen.“

„Komm, ein paar Sachen kannst du mir doch schon mal sagen. Zum Beispiel mein Wächterbuch.“ Keyra holte das ledergebundene Tagebuch hervor, das sie seit Wochen immer bei sich trug. Wenn ihre geheimnisvolle Aufgabe sie in die Vergangenheit verschlug, konnte es eine wertvolle Hilfe sein.

„Was weißt du bis jetzt darüber?“

Keyra verdrehte die Augen. „Also echt, ich habe bei dir immer das Gefühl, in einer Schulstunde zu sitzen. Na schön: Ich habe das Tagebuch von meiner Großmutter bekommen und ich vermute, dass es vorher meiner Mutter gehört hat.“

„Falsch.“ Leo schüttelte den Kopf. „Es gehörte deiner Großmutter. Das Wächterbuch deiner Mutter …“ Er zögerte ein paar Sekunden. „Ist nicht mehr da.“

Keyras Herz wurde schwer. „Ist es mit ihr verschwunden?“

„Ja, ich fürchte, so ist es.“

„Warum war es leer? Hat meine Großmutter es nie benutzt?“

„Doch, sogar sehr häufig, Aber die Seiten können gelöscht werden und sind dann wieder blank. Was weißt du außerdem?“

„Ich kann das Schloss daran mit meinem Schlüssel öffnen. Die Seiten leuchten wie ein E-Book-Reader, was in der Vergangenheit einerseits praktisch ist, wenn man keine Kerze zur Hand hat; andererseits, habe ich mir überlegt, könnte es mich auch ziemlich in die Bredouille bringen, wenn mich jemand dabei erwischt“, zählte Keyra auf. „Wenn ich ein rufendes Schloss ignoriere, das mich in die Vergangenheit bringen will, dann zieht mich das Wächterbuch durch die Zeit – ziemlich fies, finde ich übrigens.“

„Dieser Effekt war uns ebenfalls neu. Bislang hat aber kein Wächter einen Ruf ignoriert – du warst die Erste.“ Der Tadel in Leos Stimme war nicht zu überhören.

Keyra zog ungläubig die Augenbrauen nach oben. „Ist nicht wahr – das hat echt noch keiner gemacht? Alle springen brav los, sobald ein Schloss sie ruft?“

„Das ist nun mal die Bestimmung eines Zeitwächters.“

Das Cabrio bog auf die Autobahnauffahrt Richtung Frankfurt ein, und eine Weile wurde eine Unterhaltung ziemlich anstrengend, denn Keyra hätte gegen den Fahrtwind anschreien müssen. Also versuchte sie es gar nicht erst, sondern lehnte sich zurück und genoss die Fahrt. Erst als sie in Bergen-Enkheim wieder in den Stadtverkehr eintauchten, ergriff Leo wieder das Wort. „Also, was weißt du noch?“

„Sonst nicht mehr viel. Im Buch tauchen immer zwei Schriften auf, wenn ich etwas eintrage: meine eigene und eine andere, die, wie ich jetzt weiß, von dir stammt. Deine Einträge sind meistens Infos, die nach einer Weile wieder verschwinden. Warum ist das so?“

„Nun, ich schreibe nicht wirklich in dein Buch – ich schreibe in mein eigenes, das ein Gegenstück zu deinem ist. Was du siehst, ist eine Kopie von meinem Eintrag. Und ich sehe Kopien deiner Einträge.“

„Aber ich kann nichts selbst eintragen. Nur die Notizen in meiner Schrift, die so etwas wie Prophezeiungen sind, kann ich dauerhaft im Buch halten, indem ich sie nachzeichne. Aber erst, nachdem die Ereignisse eingetroffen sind.“

„Ja, das ist knifflig. Also erstens: Du kannst auch normale Einträge ins Buch machen. Dafür musst du vor dem Schreiben dreimal mit der flachen Hand über die Seite streichen, um die Sperre aufzuheben. Diese Einträge bekomme ich dann zu sehen, so wie du meine. Und was diese, wie du sagst, prophetischen Notizen angeht: Ich sehe diese Einträge in einer bestimmten Farbe leuchten und kann sie, wenn ich sie nachzeichne, ein paar Tage in der Zeit zurückschicken, bevor du sie einträgst. Also so, dass du sie siehst, bevor das entsprechende Ereignis eingetreten ist. Durch das nochmalige Nachzeichnen legst du fest, dass es ein Zeiteintrag ist, den ich in der Zeit zurückschicken muss.“

Keyra war verwirrt. „Aber das mache ich doch erst, wenn ich sie eigentlich schon geschrieben habe? Oder wie? Das ist verwirrend.“

„Das ist es.“ Leo kniff die Lippen zusammen. „Einige unserer Fachleute meinen, dass auf diese Weise ein Paradoxon verhindert werden soll, falls sich in der Zeit etwas ändert.“

„Und einmal ist die Schrift verschwunden, weil ich sie nicht nachgezeichnet habe.“

„Tatsächlich? Das ist seltsam. Welche Worte waren es?“

Keyra wollte antworten, stutzte jedoch. „Ich weiß es nicht mehr …“

„Dann hat es diesen Eintrag vielleicht nie gegeben. Oder etwas ist tatsächlich anders gelaufen und deine Erinnerung hat sich korrigiert. Ich kann es dir nicht beantworten.“

Keyra überlief eine Gänsehaut. „Krass. Wie funktioniert das?“

„Um ehrlich zu sein: keine Ahnung. Keiner weiß das. Es ist entweder eine Technik, die der unseren weit überlegen ist, oder es ist Magie.“ Leo grinste. „Übrigens werden weit fortgeschrittene Technologien von primitiven Kulturen oft als Magie angesehen.“

Während Leo den Wagen durch die Innenstadt lenkte, verdaute Keyra diese Informationen. Ist ja witzig, dass selbst der Orden nicht auf alles eine Antwort hat. Ich dachte, die hätten die ultimative Einsicht oder so.

„Aber die ersten Einträge kamen bereits, ehe wir beide uns kannten“, sagte sie zweifelnd.

„Denk nicht zu linear, schließlich bist du eine Zeitreisende“, sagte Leo. „Ich habe die Einträge natürlich später vorgenommen Du bist doch immer nur ein paar Sekunden weg, wie sollte ich in dieser kurzen Zeit so viele Informationen recherchieren und aufschreiben?“

Keyra stülpte die Unterlippe vor. „Das habe ich mich auch gefragt!“

„Auch das ist einer der Punkte, die schwierig zu beantworten sind. Sobald du eine Zeitreise antrittst, bekomme ich das mit. Und dann … wird es kompliziert.“

Keyra prustete. „Als ob hier etwas nicht kompliziert wäre.“ Dann stutzte sie. „Hey, wenn ich auch Einträge machen kann und wir unsere Einträge gegenseitig sehen können, dann müsste doch direkte Kommunikation miteinander möglich sein.“

Leo runzelte die Stirn. „Theoretisch ja. Das haben wir, glaube ich, nie versucht.“

Die beiden diskutierten diese neue Möglichkeit, bis Leo den Wagen in der Nähe der Zeil in der Töngesgasse vor einem imposanten Sandsteingebäude stoppte. Er griff an Keyras Knien vorbei in das Handschuhfach, holte eine verblichene, hellblaue Parkkarte hervor und warf sie auf das Armaturenbrett.

„Wir sind da.“

„Das ist es? Eindrucksvoll – was ist das für ein Gebäude?“

„Früher war es Teil eines Ordenshauses der Antoniter. Daher kommt der Name der Straße: Tönges leitet sich von Antonius ab.“ Leo stieg aus, und Keyra öffnete die Tür und schwang die Beine hinaus. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah an der Fassade empor.

„Die meisten Gebäude sind abgerissen oder im zweiten Weltkrieg zerstört worden, aber dieses wurde erhalten.“ Leo half ihr beim Aussteigen, was Keyra gleichzeitig charmant und altmodisch vorkam. „Der Eingang befindet sich dort vorne.“

Keyra folgte ihm zu einer kleinen Sandsteintreppe, die zu einer massiven Holztür führte. Über der Tür prangte ein Zeichen, das Keyra bereits gesehen hatte: eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz biss. Darüber, bogenförmig, waren drei Worte eingemeißelt: Hen to pan.

Die Holztür öffnete sich knarrend, und ein breitschultriger Mann in einem eleganten Anzug kam heraus. Er hatte lange blonde Haare, die ihm auf die Schultern fielen, und freundliche braune Augen. „Da seid ihr endlich. Es war wohl viel Verkehr?“

Leopold nickte und drehte sich dann zu Keyra um. „Keyra, das ist Christopher Custos, der Schlüssel-Hüter.“

Der Mann reichte Keyra die Hand. „Herzlich willkommen, Keyra – Willkommen im Ordenshaus der Zeitwächter!“

2. Das Ordenshaus

Staunend sah Keyra sich um, während sie Leo und Christopher in eine Eingangshalle mit hohen Decken folgte. Die Decke war mit Stuck verziert, mehrere Säulen hatten wohl eher einen dekorativen als stützenden Zweck. Vier Türen gingen von der Halle ab, eine breite Freitreppe führte ins nächste Stockwerk.

„Kommen Sie, Keyra – ich darf Sie doch Keyra nennen?“ Christopher winkte ihr zu, ihm zu folgen. „Ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen.“

„Ich freue mich auch, hier zu sein.“ Keyra ging hinter Christopher die Treppe hinauf, Leo blieb dicht hinter ihr. „Ehrlich gesagt, habe ich geglaubt, der Orden interessiere sich nicht sonderlich für mich, bis Leo aufgetaucht ist.“

„Da haben Sie einen völlig falschen Eindruck bekommen.“ Sie erreichten den ersten Stock und standen in einem langen, geraden Gang. Er war weiß getüncht, und an den Wänden hingen zahlreiche Rahmen. Während sie weitergingen, betrachtete Keyra fasziniert die vielen Urkunden, Stammbäume, historische Dokumente und alte Karten. Christopher fuhr fort: „Ich muss zugeben, dass es eigentlich so war, dass wir von Ihrer Existenz nichts wussten, bis Ihre Großmutter Clara uns kontaktiert hat.“

„Das verstehe ich nicht. Es muss dem Orden doch bekannt gewesen sein, dass meine Mutter verheiratet war und ein Kind hatte.“

„Das war es. Ich will es Ihnen gerne erklären.“ Christopher hielt vor einer massiven Holztür an, öffnete sie und machte eine einladende Geste. „Hier ist mein Büro. Bitte, kommen Sie herein.“

Das Zimmer, das Keyra nun betrat, war eines der bemerkenswertesten, in denen sie je gewesen war. Ein riesiger Eichenschreibtisch dominierte den Raum von der Mitte aus. Die polierte Arbeitsfläche war über und über mit ledergebundenen Büchern, Folianten und losen Pergamentschriftstücken bedeckt, sodass der Laptop, der auf der Tischplatte stand, wie ein kleiner, aggressiver Eindringling aus der Moderne wirkte. Die Wände waren ausnahmslos mit Regalen zugestellt. In den meisten davon standen Bücher – nicht nur alte Exemplare, auch neuere Bände. Keyra erkannte geschichtliche Fachliteratur, physikalische Abhandlungen und klassische Romane.

Andere Regale waren mit merkwürdigen Apparaturen verschiedenster Zwecke gefüllt. Keyra erkannte unter anderem einen Sextanten, ein urtümliches Mikroskop, eine Laterna Magica, eine kleine Truhe und eine Porzellanpuppe in einem Biedermeierkleidchen. Vor einem zweiflügeligen Fenster stand ein Globus, der Keyra bis zur Brust reichte und in einem Holzgestell befestigte war. Von der Decke hingen ein hölzerner Käfig mit einem ausgestopften Vogel und das Modell von Leonardo da Vincis Flugmaschine. Über dem Schreibtisch war an der Decke die Schnitzerei der sich in den Schwanz beißenden Schlange in die Holzdecke eingelassen. Keyra kam sich vor wie in einem Antiquitätenladen.

„Setzt euch bitte“, sagte Christopher und wies auf zwei Ledersessel vor dem Schreibtisch. Er ging zu einem Teewagen und nahm eine Kanne und eine Tasse in die Hand. „Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Keyra?“

„Nein, danke, ich trinke keinen Kaffee“, sagte sie und ließ sich auf den angebotenen Sessel sinken. Der Sitzbezug knirschte, und sofort stieg ihr der Lederduft in die Nase. „Wenn Sie einfach ein Glas Wasser für mich hätten, Herr Custos?“

„Bitte, nennen Sie mich Christopher.“ Er schenkte aus einer Kristallkaraffe Wasser in ein schmales Glas ein, gab es Keyra, reichte Leo einen Kaffee und setzte sich schließlich selbst in einen Ledersessel hinter dem Schreibtisch. „Wir haben einiges zu besprechen.“

„Das stimmt. Verraten Sie mir, warum Sie von meiner Existenz nichts wussten?“

Christopher lachte leise. „Nun, wir wussten natürlich, dass Clara eine Enkelin hat. Aber wir sind davon ausgegangen, dass Ihnen die Gabe nicht vererbt wurde.“

„Die Gabe durch die Zeit zu reisen, meinen Sie?“ Keyra nippte an ihrem Wasser. „Wie kamen Sie darauf?“

„Normalerweise zeigt sich diese Gabe recht früh. Wir hatten allerdings nicht bedacht, dass Sie niemals Kontakt zu einem Schlüssel hatten, da ihre Mutter … nun ja, schon so lange verschwunden ist.“

Keyras Finger umklammerten das eiskalte Glas fester. Sie schwieg abwartend.

„Außerdem hatten Sie die Veranlagung nur von einer Seite geerbt. Wir waren deswegen sehr überrascht, von ihrer ersten, ungeplanten Reise zu hören.“

„Von meiner Großmutter?“

„Ja, sie hat uns informiert, ehe sie erkrankte.“

Keyra biss sich auf die Lippen. Ihre Großmutter war nach einem Streit mit ihr zusammengebrochen, und sie gab sich noch immer die Schuld dafür, dass Clara Schlosser nicht ansprechbar war und in der Seniorendependance in Marköbel untergebracht werden musste. „Sie konnte mir nicht viel erzählen. Nur, dass ich eine Zeitwächterin bin und Dinge in der Vergangenheit in Ordnung bringen soll.“

Christopher und Leo tauschten einen raschen Blick. „Das ist richtig“, sagte Christopher. „Und um Sie dafür zu trainieren, stellt Ihnen der Orden einen Mentoren zur Seite. Er ist, wenn Sie in der Vergangenheit sind, Ihre Verbindung zur Gegenwart.“

„Durch das Wächterbuch – das habe ich auf dem Weg hierher erfahren.“ Keyra hatte das Gefühl, dass da etwas war, das ihr Christopher verschwieg. Sie fasste an ihre Kette und holte den Kristallschlüssel hervor, der bislang in ihrem Ausschnitt verborgen gewesen war.

Christophers Augen leuchteten auf. „Claras Schlüssel. Ich habe ihn lange nicht gesehen.“

„Leo sagte, dass der Schlüssel meiner Großmutter gehörte.“ Keyra strich über das glatte Bergkristall.

„Das stimmt, aber sie hat ihn seit einigen Jahren nicht mehr benutzt.“ Christopher verschränkte die langen, schmalen Finger und stützte sein Kinn darauf. „Clara ist das letzte Mal gereist, kurz bevor Ihre Mutter verschwand. Dann hat sie den Schlüssel abgelegt.“

Keyra machte große Augen. „Geht das?“

„Sicher. Aber der Orden war natürlich nicht begeistert.“ Christopher hob die Schultern. „Wichtige Aufgaben blieben hierdurch unerfüllt. Aber Clara wollte für Sie da sein und nicht riskieren, dass ihr dasselbe zustieß, wie Ihrer Mutter.“

„Wer entscheidet denn, welche Aufgaben ein Zeitwächter wann zu erledigen hat?“ Keyra ließ den Schlüssel los, sodass er nun offen auf ihrer Brust hing. „Der Orden?“

„Nein. Das ist … eine diffizile Angelegenheit.“ Christopher zögerte. „Der Schlüssel gibt das Signal; er weiß immer, wann es Zeit ist, etwas zu korrigieren. Der Orden kann nur versuchen, den Zeitwächter darauf vorzubereiten, stets einsatzbereit zu sein, und ihn aus der Gegenwart heraus unterstützen.“

Keyra lehnte sich zurück und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Da sind so viele Sachen, die ich nicht verstehe. Woher kommen die Schlüssel? Stellt der Orden sie her?“

Neben ihr prustete Leo los, als hätte sie einen guten Witz gemacht.

Christopher schaute ihn strafend an. „Das ist eine berechtigte Frage. Keyra kann nicht wissen, welche Funktion der Orden hat. Nein“, er wandte sich wieder Keyra zu, „der Orden ist bei weitem nicht so alt wie die Schlüssel. Sie sind viele hundert Jahre alt.“

Keyra klappte der Mund vor Staunen auf.

„Die Entstehung der Schlüssel geht auf eine Frau namens Maria Prophetissa zurück. Sie war der Überlieferung nach Jüdin und lebte zwischen dem 1. und 3. Jahrhundert in Alexandria. Sie gilt als Begründerin der Alchemie und war die bedeutendste Alchemistin der Antike und zudem Erfinderin. Sie erforschte etwas, das sie Tempus-Energie nannte.“

„Tempus wie lateinisch Zeit?“

„Ganz genau.“ Christopher nickte. „Diese Energie sammelt sich in bestimmten Objekten an, die Auswirkungen auf den Verlauf der Geschichte haben – sei es im Kleinen oder im Großen. Wir wissen heute nicht mehr genau, wie, aber es gelang ihr, diese Energie abzuzapfen und in die Schlüssel zu konzentrieren. So entstanden die Zeitschlüssel und andere Gegenstände, wie das Wächterbuch.“

„Wahnsinn“, hauchte Keyra.

„Maria fand allerdings heraus, dass es gefährlich war, diese Tempus-Objekte zu entfernen, weil das die Zeit aus dem Gleichgewicht bringen kann. Sie gründete den Orden der Zeitwächter, um genau das zu verhindern.“

„Moment: Es geht bei den Zeitreisen also immer um solche Tempus-Objekte?“, fragte Keyra.

„Nicht immer, aber meistens. Wenn Sie sich an Ihre eigenen Reisen erinnern, war gewiss oft ein Gegenstand damit verknüpft, oder?“

Keyra überlegte. „Die Urne in Wilhelmsbad – oder die Urkunde in Rüdigheim. Bei der Sache in Langenbergheim bin ich nicht ganz sicher, aber in Bad Orb könnte es Peters Fuchspfeife gewesen sein …“

„Und Ihre Aufgabe war stets erledigt, wenn Sie diese Gegenstände wieder an ihren rechtmäßigen Ort zurückgebracht haben, oder?“

Keyra nickte, schüttelte aber dann den Kopf. „Aber die Urne wurde später dennoch gestohlen!“

Wieder wechselten Christopher und Leo einen Blick, und Keyra hatte erneut das Gefühl, dass die beiden ihr etwas verschwiegen.

„Aber nicht zu dem Zeitpunkt, an dem du da warst und an dem der Diebstahl nicht vorgesehen war“, sagte Leo. „Wichtig ist, dass am Ende deiner Reise alles im Lot ist. Auch das funktioniert nicht jedes Mal. Du musst es trotzdem immer wieder versuchen.“

Keyra kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. „Wie konnte Maria solche Dinge herausfinden?“

Christopher seufzte. „Vieles verstehen wir auch nicht. Einiges ist im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen. Technisch sind einige Gegenstände, die wir von Maria erhalten haben, so weit entwickelt, dass einige Ordensmitglieder glauben, Maria sei selbst eine Zeitreisende gewesen und aus ferner Zukunft gekommen – dass sie irgendwie im alten Ägypten festsaß. Aber dafür gibt es keine Beweise.“

„Kann man denn nicht in die Zukunft reisen und nachfragen?“

„Nein – die Portale führen nur in die Vergangenheit und an den Ausgangsort der Reise. Und die Reisen steuert der Schlüssel, nicht der Wächter.“

Keyra deutete nach oben, auf die Schlangen-Schnitzerei. „Und was hat das zu bedeuten?“

„Maria hat den Ouroboros als Symbol des Ordens ebenso eingeführt wie den Wahlspruch ‚Hen to pan‘ – eins ist alles. Er ist ein Symbol der kosmischen Einheit. Wir glauben, dass er dafür steht, dass die Zeit im Gleichklang bleiben muss.“

Keyra zog die Stirn kraus. „Aber was bringt die Zeit ins Ungleichgewicht? Ich meine: Ja, ich habe verstanden, dass es geschieht, wenn so ein Tempusobjekt nicht da bleibt, wo es hingehört. Aber dann muss es durch irgendwelche äußeren Einflüsse bewegt werden.“

Christopher schürzte die Lippen. Keyra wartete darauf, dass er eine Erklärung abgab. Als er das nicht tat, setzte sie nach, weil sie eine Ahnung hatte: „Was ist Ihre Aufgabe, Christopher? Was tut ein Schlüssel-Hüter? Und wie viele Schlüssel gibt es überhaupt?“

Leo stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich habe ja gesagt, Keyra stellt viele Fragen. Vielleicht sollten wir …“

„Leopold!“, unterbrach Christopher warnend.

„Aber ich denke wirklich, dass …“

Christopher sprang auf, und der Sessel rutschte quietschend zurück. „Wir sollten uns kurz unter vier Augen unterhalten. Entschuldigen Sie uns, Keyra.“

Verblüfft sah Keyra dem Schlüssel-Hüter und ihrem Mentor nach, die eilig das Büro verließen. Was ist denn in den gefahren? Habe ich einen wunden Punkt getroffen?

Sie saß eine Weile da und nippte an ihrem Wasser. Dann stand sie auf und sah sich in dem Büro um. Sie betrachtete zunächst den Globus. Die Kontinente waren seltsam roh geformt, gelb und braun waren die vorherrschenden Farben. Es war ein wirklich beeindruckendes Stück, und Keyra fragte sich, ob es ein Original oder eine Reproduktion war.

Das Regal mit den antiken Gegenständen zog sie magisch an. Vor jedem Gegenstand befand sich ein kleines Kärtchen, auf dem der Zweck und die Herkunft des Objektes beschrieben waren. „Porzellanpuppe von 1843 aus dem Besitz von Elisabeth Amalie Eugenie, Herzogin in Bayern“, las Keyra und bekam große Augen. „Die Puppe gehörte Sissi! Witzig. Ob das Tempus-Objekte sind?“

Žanrid ja sildid
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142 lk 5 illustratsiooni
ISBN:
9783947612949
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