Jakob Wolff - Der Fluch

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Jakob Wolff - Der Fluch
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Hexenmeister

Jakob Wolff

Hexenmeister Jakob Wolff – Der Fluch

ISBN 978-3-945230- 06-0

2. überarbeitete Auflage

Cover: Marc Hamacher

Satz und Layout: Tanja und Marc Hamacher

Lektorat: Stephan Wonczak und Marc Hamacher

© 2022, Leseratten Verlag, Allmersbach im Tal


www. leserattenverlag.de


Der Leseratten Verlag ist Fördermitglied beim PAN Phantastik-Autoren-Netzwerk e.V. Weitere Infos unter: www. phantastik-autoren.net

Hexenmeister Jakob Wolff

DER FLUCH

- 1495 -

von Tanja Kummer

Wie alles begann …

1.

Frühjahr 1472, in der Nähe von Speyer

Jakob schleppte den Wassereimer vom Brunnen zum Haus. Er war schwer und das grobe Seil schnitt in seine Hand. Doch er war es inzwischen gewohnt und schaffte den weiten Weg, ohne dabei die Hälfte des Wassers zu verlieren und seine Hose zu durchnässen. Sie waren zu zweit unterwegs. Sein älterer Bruder begleitete ihn. Heinz war doppelt so alt wie er und trug gleich zwei der schweren Eimer, was Jakob bewunderte.

Ein Fremder stand bei ihrer Hütte und unterhielt sich mit seiner Mutter. Sie schienen einander vertraut.

»Wer ist das?«, fragte er neugierig. Heinz zuckte mit den Schultern.

»Ein Fremder, der den Weg nicht kennt«, meinte Heinz. Jakob aber glaubte es nicht. Und als sie die Hütte erreichten, sah er, dass ihre Mutter weinte.

»Ist was geschehen?«, wollte Heinz herrisch in Erfahrung bringen. Der Fremde sah ihn verächtlich an, doch Heinz ließ sich von dem Blick nicht einschüchtern. Schließlich war er schon fast ein Mann, wie es ihr neuer Vater zu sagen pflegte.

»Nein!«, antwortete ihre Mutter und wischte ihre Tränen weg. »Heinz, sei ein braver Junge. Geh, hol Agnes und Mariel. Bring sie ins Dorf zu eurer Tante. Jakob, du bleibst bei mir.«

Heinz gehorchte. Er nahm seine Eimer mit ins Haus, holte die beiden Mädchen und machte sich mit ihnen auf den Weg.

Jakob sah den Dreien sehnsüchtig hinterher. Alle waren älter als er und jeder von ihnen hatte das rabenschwarze Haar der Mutter. Nicht er. Sein Schopf war dunkelblond und wellte sich leicht, wenn er länger wurde. Doch Jakob wusste, dass nicht nur seine Haare anders waren. Sein Körperbau war es auch. Genau wie sein Charakter. Er mochte es lieber ruhig und war schlau genug, Ärger aus dem Wege zu gehen. Zumindest in den meisten Fällen. Denn wenn er Menschen berührte, spürte er instinktiv, wie sie sich gerade fühlten. Und Jakob hatte früh begriffen, dass seine Geschwister das nicht konnten.

»Jakob! Begrüße bitte Herrn Markus Wolff.«

Wie befohlen verbeugte er sich tief. Er sah zu seiner Mutter und wartete darauf, dass sie ihm sagte, was er nun tun sollte. Aber sie sah ihn nicht an. Stattdessen spürte er den musternden Blick des Mannes auf sich. Dann kniete dieser nieder.

»Wie alt bist du, Jakob?«

»Sechs«, sagte er tapfer. Eigentlich hatte er keine Angst, doch er ahnte, dass hier Seltsames vor sich ging. Etwas, das mit ihm zu tun hatte.

Jakob sah den Fremden an. Er trug gutes Tuch und teuren Wollstoff. Ein Wanderstab lehnte neben ihm an der Hütte. Der Mann war älter als seine Mutter. Sein mittelblondes, langes Haar war im Nacken zusammengebunden, wo es sich in Wellen über seine Schultern legte. Seine rehbraunen Augen blitzten ihn an und das Gesicht lächelte ihm warm und freundlich entgegen.

»Kannst du zählen?«

»Bis zwanzig, Herr«, verkündete Jakob stolz.

»Und rechnen?«

»Ein wenig.« Beschämt versteckte er seine Hände hinter dem Rücken, weil er die Finger dazu benutzte. Seine Mutter schluchzte und wischte sich die Augen an ihrer Schürze ab.

»Und lesen?«

Jakob schüttelte verschüchtert den Kopf.

Das Lächeln des Mannes wurde breiter. »Das macht nichts. Das werde ich dir beibringen.«

Der Fremde griff nach Jakobs Haar und ließ eine der Locken durch seine Finger gleiten. Selbst als er nur das Haar berührte, war es wie ein Schock, denn er spürte die Freude des Mannes in einem solchen Maße, dass er diese kaum verarbeiten konnte. Zugleich fühlte er, dass der Fremde anders war. Genauso wie er. Jakob schluckte.

»Er sieht gesund aus. War er oft krank?«, fragte der Mann seine Mutter und stand auf.

»Nicht mehr als die anderen Bälger, mein Herr.«

»Ihr habt es gut gemacht, Marie. Es war sicher nicht leicht, wo er so eindeutig nicht wie die anderen Drei aussieht. Ich wäre eher gekommen, wenn ich es geahnt hätte.«

»Sie haben geredet, Herr. Aber das tun sie immer«, sagte sie abwehrend. »Mein neuer Mann weiß aber Bescheid.«

»Es ging wohl nicht anders. Sei’s drum. Jetzt bring seine Sachen, Frau. Ich nehme ihn gleich mit.«

Was? Jakob sah ängstlich zu seiner Mutter. Diese schluchzte erneut und eilte, ohne ihn anzusehen, gehorsam in die Hütte.

Starr vor Angst blickte Jakob flehend auf das Haus. Als seine Mutter wenige Minuten später zurückkehrte, trug sie Jakobs dünnen Reiseumhang und ein kleines Bündel.

Mama, gibst du mich weg? Liebst du mich nicht mehr?

Sie kniete vor ihm nieder und band ihm den Umhang um.

»Vergiss mich nicht«, bat sie ihn und küsste ihn auf die Stirn. Eine Berührung voller Schmerz und Trauer. »Jetzt sei ein artiger Junge und geh mit Markus. Er ist dein Vater.«

Erschrocken sah Jakob zu der fremden Gestalt.

»Aber ich will nicht mit ihm mit!«, rief Jakob verzweifelt. »Agnes hat mir versprochen, dass ich heute Abend …«

»Mein Sohn, als Erstes wirst du lernen, dass du meinen Anordnungen gehorchst!«, erklärte der Mann brüsk.

»Aber Ihr habt gar nichts zu mir gesagt!«, verteidigte sich Jakob. Geschickt wich er dem Mann aus, welcher versuchte, ihm am Ohr zu packen.

»Und dass du mir nicht widersprichst!«, sagte der Fremde nun schon weniger geduldig. Er bekam Jakobs Umhang zu fassen und zog ihn zu sich.

Ehe Jakob begriff, was mit ihm geschah, da hatte der Mann ihn über das Knie gelegt. Mit der flachen Hand schlug er Jakob drei Mal kräftig auf das Hinterteil.

»Einmal für deinen Ungehorsam. Einmal für die Widerworte. Und einmal, damit du es nicht vergisst.«

Jakob brüllte vor Wut und Schmerz. Tränen und Rotz liefen ihm aus den Augen und der Nase.

»Nicht, Herr!«, rief seine Mutter erschrocken. »Er ist ein guter Junge!«

»Das werden wir sehen«, sagte der Fremde. Er stellte Jakob wieder auf die Füße und reichte ihm ein Taschentuch. Verdutzt starrte er auf das Tüchlein in seinen Händen, viel zu benommen, um zu begreifen, was er damit tun sollte.

Nun griff der Fremde unter seinen Umhang, zog einen Beutel hervor und reichte ihn Jakobs Mutter.

»Was soll ich bloß seinen Geschwistern sagen?«

»Das ist mir gleich. Wegen mir sag ihnen, Jakob sei tot. So oder so, ihr werdet ihn niemals wiedersehen.«

Damit nahm der Fremde seinen Wanderstock in die Rechte, packte Jakobs Hand mit der Linken und zerrte ihn einfach mit sich.

»Mutter!«, brüllte er entsetzt. »Mutter!«

Doch diese drehte sich um und lief laut schluchzend ins Haus.

2.

Sommer 1486 in Speyer – vierzehn Jahre später

 

»Mutter!«, brüllte Jakob und erwachte aus seinem Albtraum.

Die Morgensonne eines neuen Tages erhellte die Kammer und ihre Strahlen fielen direkt auf sein Bett. Er keuchte und wischte sich mit der Hand über das Gesicht, das sich rau vom Bartwuchs anfühlte. Er hatte sich gestern nicht rasiert.

In seinem Schädel hämmerten Kopfschmerzen und Erinnerungsblitze der vergangenen Nacht suchten ihn heim. Ein fensterloser Raum. Erfüllt vom Qualm der Talgkerzen und brennender Kräuter im Kohlebecken. Mehrere Personen in dunklen Gewändern. Runen, gezeichnet mit weißer Kreide. Tanz. Blut. Wein.

Sommersonnenwenderitual!

Jakob keuchte erneut und setzte sich langsam auf. Der Raum um ihn herum drehte sich noch immer, als Jakob bereits saß.

»Weißt du eigentlich, wie neidisch ich auf dein lockiges Haar bin?«, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihm.

Jakob sprang erschrocken auf und drehte sich um. Eine Frau rekelte sich auf seiner Lagerstatt. Die Decke bedeckte nur den Teil von ihrer Hüfte abwärts, sodass es ihre festen, kleinen Brüste waren, auf denen Jakobs Blick als Erstes ruhte. Dann sah er in ihr ovales Gesicht, welches von blondem, dünnem Haar gerahmt wurde. Ihre blauen Augen wanderten tiefer und verweilten lüstern auf seiner nackten Männlichkeit.

»Und darauf, was du damit kannst!«, erklärte sie schamlos.

»Lina! Herrgott!«, rief Jakob entsetzt.

»Oh, der kann nichts dafür, dass ich hier bin«, lachte sie.

»Dein Mann wird mich umbringen!«

Ihr Lachen verklang. »Der nicht! Aber dein Vater schon.«

»Als ob das irgendeinen Unterschied machen würde. Du musst sofort gehen!«

»Dafür ist es längst zu spät«, erklärte sie schmollend. »Markus war vor einer Stunde da und wollte dich wecken.«

»Herr im Himmel!« Jakob griff nach seiner Hose und schlüpfte rasch hinein.

»Wo willst du hin?«

»Zum Treffen mit dem Bekannten meines Vaters.«

»Denkst du, es wäre klug, jetzt noch dort hinzugehen? Wenn er wirklich gewollt hätte, dass du ihn begleitest, dann hätte er dich wach gemacht. Komm zurück ins Bett!«, schnurrte Lina verführerisch.

»Du verstehst das nicht! Es ist wichtig.«

»Himmel! Männer und ihre Angelegenheiten.« Missmutig stand sie auf und ging zum Waschgestell. Sie schüttete Wasser in die Waschschale und tauchte das Tuch ein. So aufreizend wie möglich begann sie sich zu waschen.

Doch Jakob war es gleich, denn er empfand nichts für Lina. Sie war einfach zu haben. Und das, obwohl sie verheiratet war. Oder gerade deswegen? Ihr sehr viel älterer Mann wusste von ihrer kleinen Schwäche. Oder ihrer unbändigen Sucht? Man konnte es sehen, wie man wollte. Allerdings hatte ihn sein Vater vor Lina gewarnt. Sie würde wieder in sein Bett wollen und dieses Spiel konnte auf Dauer gefährlich werden. Denn ganz gleich, ob ihr Mann eine solche Schande gestattete: Wenn sie jemand erwischte, dann würde man sie wegen Ehebruchs verurteilen.

»Walter wird dich nach Hause bringen«, sagte Jakob daher nun.

»Euer Diener? Der mit dem vernarbten Gesicht? Ich finde ihn unheimlich. Er soll mich bloß nicht anfassen!«

»Das ist mir gleich. Hauptsache man sieht nicht, wie du von diesem Haus hier weggehst. Ich vertraue ihm.«

»Ich könnte auch bleiben«, schlug sie ihm lüstern vor.

»Wozu? Ich glaube nicht, dass ich dich heute Abend wieder will!«, erklärte Jakob ruppig. Es hatte ihn nie nach ihr verlangt. Doch offenbar war gestern sein Fleisch schwächer als der Geist gewesen und er hatte ihren Anzüglichkeiten nachgegeben.

Lina starrte ihn wütend an, während er in sein Hemd schlüpfte.

»Du solltest besser nicht so mit mir sprechen«, fauchte sie. »Ich bin eine Hexe!«

Jakob lachte kehlig. »Du wirst nicht lange leben, wenn du es jedem so offenkundig gestehst.«

»Treibt es nicht zu weit, Jakob Wolff.«

»Sonst was?«, fragte er barsch. Er packte sie und zog sie dicht an sich. In den zurückliegenden Jahren hatte er von seinem Vater vieles gelernt und sein Talent entfaltet. Er war längst über das Stadium hinaus, nur den Gefühlszustand eines Menschen zu erfassen. Lina war gewiss sauer auf ihn, aber er spürte auch ihre echte Zuneigung. Genau wie ihren beschleunigten Herzschlag. Ihre Nieren arbeiten nicht richtig, was ihr eines Tages sicher Probleme machen würde. Doch noch war sie gesund. Jakob forschte tiefer und spürte, dass er zwar mit ihr geschlafen hatte, dass sie aber keine körperlichen Folgen zu fürchten hatten. Das milderte Jakobs Zorn ein wenig und er ließ Lina los.

»Willst du mich sonst etwa verhexen?« Jakob lachte. »Du solltest dich eher um dein eigenes Ansehen sorgen. Es wäre ein Leichtes, es zu zerstören. Und das macht dich viel verletzlicher als mich.«

Entrüstet starrte sie ihn an. »Solltest du das tun, dann werde ich dich mit in den Untergang zerren. Alle von euch! Jeden lüsternen Bock, mit dem ich je geschlafen habe!«

»Du bist eine Hexe. Ganz sicher hast du einen Liebeszauber angewandt und ich wäre nur ein weiteres Opfer«, schlug er sie nun mit ihren eigenen Argumenten. »Hör zu, Lina. Wir können uns weiterhin bedrohen, oder einfach so tun, als wäre nichts geschehen.«

»Eines Tages wird es dir leidtun, Jakob«, prophezeite sie ihm.

»Ja, vielleicht«, stimmte er zu und verließ mit Umhang und Stiefeln eilig den Raum.

Die Wirtsstube war bis auf ein paar Gäste leer. Für das Frühstück war es inzwischen zu spät und für das Mittagsmahl noch zu früh.

Jakob entdeckte seinen Vater sofort. Er saß an einem Wandtisch mit einem anderen Mann. Sie unterhielten sich entspannt und tranken Bier.

Markus winkte Jakob lächelnd heran.

»Es tut mir leid, Vater. Ich wurde aufgehalten.«

»Wilhelm, das ist mein Sohn Jakob.«

»Sehr erfreut«, sagten Wilhelm und Jakob fast gleichzeitig.

»Ich wusste nicht, dass Ihr einen Sohn habt«, fügte Wilhelm zu Markus gewandt hinzu.

»Für gewöhnlich stelle ich ihn auch nicht als solchen vor.«

»Seine Mutter?«

»Bei der Geburt gestorben.«

»Bedauerlich.« Wilhelm nickte. »Wird er Euer Geschäft übernehmen?«

»Das wird sich zeigen. Noch ist er zu unüberlegt und hitzköpfig. Die Jugend.«

»Auf diese Zeit trinke ich«, sagte Wilhelm, der im Alter von Markus war. Er hob seinen Krug und nahm einen Schluck.

Doch Jakob wusste sofort, auf was sein Vater anspielte. Lina. Er hätte diese Nacht mit ihr gerne ungeschehen gemacht, zumal er sich nicht im Geringsten daran erinnern konnte.

»Habt Ihr es dabei?«, fragte sein Vater nun.

»Selbstverständlich!«

»Zeigt her«, forderte Markus.

Wilhelm legte ein rechteckiges Bündel in einem alten Leinentuch auf den Tisch. Eine Kordel verschnürte es schützend. Markus zitternde Finger lösten die Schlaufe und gaben den Inhalt frei. Zum Vorschein kam ein in Leder gebundenes Buch.

»Wie Ihr gewünscht habt, mein Herr.«

Markus Hände strichen über den Einband und nach kurzem Zögern schlug er es auf.

Jakob las den Titel des Buches: Malleus Maleficarum - Der Hexenhammer. Sein Mund wurde vollkommen trocken und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. In einer unbewussten Reaktion leckte sich Jakob über seine Lippen.

Markus lachte leise.

»Sei ohne Furcht, mein Sohn. Diese Aufschrift ist Zeugnis einer Angst, die viel größer ist als die, welche wir verspüren. Ich bin mir sicher, sie geht rasch vorüber.«

Jakob nickte abgehackt. So gerne er seinem Vater auch glauben wollte, er war hier anderer Meinung. Jakob schätzte, dass sein Vater die Tragweite der Hexenverfolgung nicht richtig erkannte.

»War es schwer, die Abschrift zu beschaffen?«

»Nein, mein Herr. Jedoch hat die Anfertigung, nach Ihren besonderen Wünschen, mehr Zeit in Anspruch genommen als erwartet.«

»Ihr werdet Euren Lohn erhalten. Ich schicke meinen Diener heute Nachmittag zur vereinbarten Stelle.«

»Sehr wohl, mein Herr.« Wilhelm trank aus und verließ das Wirtshaus.

»Vater?«, fragte Jakob nervös. Seine Hände waren feucht und er wischte sie an der Hose ab. »Was habt Ihr damit vor?«

»Es ist klug, seinen Feind zu kennen, Jakob. Und der Mann, der dies hier geschrieben hat, ist gefährlich.«

»Mit Sicherheit. Aber seine auf Papier gedruckten Worte sind die wahre Gefahr. Der Inhalt wird sich rasch verbreiten.«

»Das ist der Sinn eines Buches.« Markus nickte. »Aber wenn wir seine Methoden kennen, dann sind wir ihm einen Schritt voraus.«

»Von welchen Anfertigungswünschen sprach Wilhelm?«

»Ich wollte, dass die Abschrift auf dem Papier erfolgt, das ich ihm gegeben habe. Ich habe es selbst geschöpft und in den Händen von Menschen mit unserer Gabe, wird es seinen geheimen Inhalt preisgeben. Es ist ein perfektes Versteck für das Wissen, welches ich in meinem Leben angehäuft habe.«

»Himmel! Vater!« Jakob sah ihn entsetzt an. Was war ein solches Risiko wert?

Sein Vater war ein starker Mann, geistig wie körperlich. Obwohl man Letzteres nicht mehr sehen konnte, denn eine unheilbare Krankheit krümmte ihn und ließ ihn rasch altern. Trotzdem hatte seine leicht gebeugte, humpelnde Gestalt nichts von der Respekt einflößenden Ausstrahlung verloren. Er war kein Mann, dem man widersprach.

»Du musst sie loswerden«, sagte Markus plötzlich und sah Jakob eindringlich an.

»Wen?«

»Lina.«

»Darum habe ich mich bereits gekümmert.« Trotzdem seufzte Jakob leise.

»Was ist?«

»Ich kann mich nicht mehr an die letzte Nacht erinnern. Ich weiß nicht, wie ich … wie wir nach Hause gekommen sind. Oder wer uns gesehen haben könnte. Und das kann ich mir nicht erklären.«

»Ich hätte dich mitnehmen sollen, als ich gegangen bin. Aber ich dachte, du wärst inzwischen alt genug.«

»In der Tat, Vater. Ich bin kein Kind mehr.«

»Und doch hast du dich töricht verhalten. Du hast dich dem Alkohol und den Ritualen verwerflich ungeschützt hingegeben. Ich habe dich gewarnt, welche Kraft die Zeremonien haben, zumal es ja nicht deine erste Sommersonnenwende war.«

»Du hast Recht, Vater. Es tut mir leid«, gab Jakob zu. »Es wird nicht wieder vorkommen.«

»Gut! Gehen wir nach Hause. Ich habe viel zu tun. Aber wenn nötig, dann suche ich dir erst eine Ehefrau.«

»Ich hab verstanden, Vater.«

Seit Wochen nun war sein Vater mit dem Buch beschäftigt, das er erworben hatte. Er überließ es Jakob, sich um das Geschäft zu kümmern, und vergrub sich in seinem Arbeitszimmer. Es war ungewohnt, die Apotheke allein zu führen. Jakob verspürte aber keine Unsicherheit. All die Zutaten, die sie hier verkauften, waren ihm in Wirkung und Dosierung seit Kindertagen vertraut. Es war eher der Umstand, dass sein Vater von dem Buch besessen war.

Jakob sagte sich, dass sich sein Verhalten nicht von dem unterschied, welches er an den Tag gelegt hatte, als er vor ein paar Jahren eine Lieferung seltener, getrockneter Pflanzen aus dem Orient bekommen hatte: Anastatica hierochuntica - Marienrose.

Wochenlang studierte und extrahierte er von dem Gewächs einzelne Fasern und Säfte. Abschließend war er von der angeblich heilenden Wirkung der Pflanze nicht überzeugt. Stattdessen verkaufte er sie im Laden unter dem Namen Auferstehungspflanze, als segnenden Talisman an Frauen für die bevorstehende Geburt. Im Nachhinein betrachtet war es trotzdem ein lohnendes Geschäft gewesen.

Heute hatten sie viele Stammkunden im Laden gehabt, die Salben und Tränke holten, um ihre Leiden zu mildern. Aber es waren auch zwei Herren gekommen, die abseits von den alltäglichen Dingen eingekauft hatten. Jakob kannte sie, obwohl sie keine Mitglieder des Hexenzirkels seines Vaters waren. Doch sie waren gute Stammkunden, denn die Wolffs betrieben die einzige Apotheke in der Stadt.

Als er am Abend abschließen wollte, klopfte eine vermummte Gestalt an die Tür.

»Es ist spät, ich wollte gerade gehen«, sagte er.

»Bitte wartet!«, flüsterte die Frau leise. »Lasst mich ein!«

Jakob zog die Tür auf und die Frau huschte ins Innere. Sie schlug die Kapuze zurück und sah Jakob ängstlich an. Sie war hübsch und sicher zwei oder drei Jahre jünger als er.

 

»Wie kann ich Euch zu Diensten sein?«, fragte Jakob höflich.

»Gegen mein Leiden gibt es keine Heilung, oder?«, sie packte Jakobs Hand und legte sie auf ihre linke Brust.

»Was tut Ihr da?«, rief er erschrocken, wich zurück und entzog ihr seine Hand. Aber die kurze Berührung hatte genügt.

»Ich wollte wissen, ob es wahr ist!«

»Wer seid Ihr?«

»Das spielt keine Rolle. Doch Ihr wurdet mir empfohlen.«

»Ihr gehört zu meinesgleichen. Daher gehe ich davon aus, dass Ihr mein Geheimnis schützen werdet.« Jakob sah sie eindringlich an.

Sie nickte inbrünstig. »Ja, natürlich werde ich das!«

Jakob seufzte ergeben. »Das Kind ist nicht von Eurem Mann?«

»Das Kind?«, fragte sie nun steif. »Man sagte mir, ich litte an der Schwindsucht!«

»Ihr seid völlig gesund.« Jakob lächelte sie an. »Mehr als das. Wer hat Euch erzählt, Ihr hättet die Schwindsucht?«

»Ich habe die letzten Wochen stark abgenommen und war oft müde. Meine Tante dachte das.«

»Die Hochzeit war sicher anstrengend für Euch.«

»Ja! Woher wisst Ihr das?«

»Es muss Euer erstes Kind sein, sonst hättet Ihr es gleich bemerkt. Darum die Vermutung, dass Ihr kürzlich geheiratet habt.« Und, weil du so jung bist.

Jakob ging hinter die Theke, öffnete eine Schublade und zog ein Säckchen mit getrockneten Kräutern heraus.

»Mein Onkel ist an der Schwindsucht gestorben«, erklärte sie nun. »Der Gedanke hat mich furchtbar geängstigt, jetzt, wo ich so glücklich bin.«

»Euch geht es gut. Ihr habt keinen Husten und auch keinen Auswurf. Denkt das nächste Mal daran.« Jakob füllte einen kleinen Leinenbeutel mit der Mischung. Sie enthielt gewöhnlichen Giersch, Hagebutten und Hopfen. Aber auch Blüten der Kamille und geröstete Zichorienwurzeln. »Dieser Tee wird euren Körper bei der Schwangerschaft unterstützen. Er ist bitter und ihr könnt ihn mit Honig süßen. Jedoch sollte Euch das die Gesundheit des Kindes wert sein. Trinkt einmal in der Woche eine Tasse, das genügt. Und sucht Euch eine gute Hebamme, die Euch berät.« Jakob reichte ihr den Beutel und räumte alles wieder gewissenhaft auf.

»Habt Dank. Das sind freudige Nachrichten, die ich meinem Mann bringen kann. Er wird sehr stolz sein.«

Er lachte erheitert und sah sie an.»Jetzt geht nach Hause. Und das nächste Mal kommt bitte zu einer normaleren Tageszeit.«

»Natürlich!«

Jakob schob sie mit sanfter Gewalt zur Tür.

»Oh wartet!« Sie griff in ihre Kleidung und holte eine Münze hervor. »Genügt das?«, fragte sie unsicher.

»Es ist viel zu viel!«, wehrte er ab.

»Nein! Das denke ich nicht«, lächelte sie und ging. Jakob sah ihr hinterher und stellte fest, wie schön es war, mit seiner Gabe den Menschen helfen zu können.

Und wie gefährlich, wenn solches Wissen in die falschen Hände geriet.

Rasch trug er den Verkauf in die Bestandsliste ein und legte die Münze zum Tagesumsatz. Dann machte er sich auf den Weg nach Hause.

Er hatte bereits die Hälfte der Strecke geschafft, als ihn plötzlich jemand ansprach.

»Jakob?«

Jakob blieb stehen und drehte sich zu dem Mann in der Gasse um. Dieser war älter als er. Groß und mit kräftigem Körperbau. Sein Gesicht hatte grobe, tief gegerbte Züge und sein rabenschwarzes Haar trug er kurz geschnitten. Seine Kleidung war gepflegt, wenn auch von geringer Qualität.

Ein Kunde?, dachte Jakob. Doch eigentlich kannte er sie alle.

»Bist du es wirklich?«

»Heinz?«, fragte Jakob nun seinerseits und seine Augen weiteten sich vor Überraschung.

»Ich bin’s! Herr im Himmel! Wir dachten, du seiest tot!«

Jakob überwand die Distanz und umarmte seinen Bruder. Dann klopften sie einander herzlich auf den Rücken und sahen sich musternd an.

»Ein Mann ist aus dir geworden!«, sagte Jakob. »Wie ist es dir ergangen?«

»Ich habe eine Frau, drei Kinder und arbeite beim alten Müller am Fluss.«

»Was machst du dann in Speyer?«

»Agnes heiratet zum zweiten Mal. Wir sind wegen der Hochzeit da.«

»Sie wohnt hier?«

»Ja, seit einem Monat.«

»Wer ist der Glückliche?«

»Jasper Rhin.«

»Ich kenne seinen Namen. Ein ehrenwerter Herr. Sie wird es gut haben.«

»Was ist mit dir?«

»Ich leite den Laden meines Vaters«, sagte Jakob .

»Von deinem Vater?«, fragte Heinz erstaunt. Ihr vermeintlich gemeinsamer Erzeuger war noch vor Jakobs Geburt gestorben.

»Ja. Markus Wolff ist mein Vater.« Jakob nickte bekräftigend. »Komm, wir sollten das nicht auf der Straße besprechen. Begleite mich auf einen Krug Bier, ich lad dich ein.«

»Gern!«

Jakob führte Heinz zur nächsten Wirtsstube und sie setzten sich.

»Nun erklär es mir«, forderte Heinz, nachdem er kurz an dem Bier genippt hatte.

»Nach dem Tod ihres Ehemanns blieb Mutter mit euch vollkommen mittellos zurück. Sie war ziemlich verzweifelt.«

Heinz nickte zustimmend.

»Wie der Zufall es so wollte, hörte Markus Wolff davon. Und er bat sie, ihm einen Gefallen zu tun, welchen er ihr gut bezahlen würde.«

»Was für einen Gefallen?«

»Mich!« Jakob zuckte mit den Schultern. »Er wollte ein Kind von ihr.«

»Himmel!« Heinz schüttelte den Kopf. »Das hätte sie nie getan!«

»Sie hat. Und nach der abgemachten Zeit ist er gekommen, um mich zu holen.«

»Du lügst!«

»Nein. Frag sie, wenn du mir nicht glaubst.«

»Mutter ist tot.«

»Oh!« Das war alles, was Jakob hervorbringen konnte. Er verspürte einen überraschend tiefen Schmerz bei dieser Nachricht. Obwohl sie bereits seit Jahren nur eine Erinnerung war, nahmen ihm diese Worte die unausgesprochene Hoffnung, sie eines Tages wiederzusehen.

»Sie hatte sich so auf die Hochzeit gefreut. Aber dann wurde sie krank. Sie bekam hohes Fieber und spuckte Blut. Am Ende ging es sehr schnell.«

»Ich …« Jakob fehlten noch immer die Worte. »Mein Beileid«, sagte er daher einfach und rang um seine Stimme.

»Danke.«

Gleichzeitig nahmen sie einen Schluck Bier und für ein paar Minuten sprachen sie beide nichts, sondern sahen einander nur an.

Schließlich nickte Heinz. »Wenn unser späterer Vater wütend auf Mutter war, dann hat er sie als Dirne beschimpft. Und die Dörfler waren derselben Meinung. Unsere Tante äußerte sich erleichtert, als Mutter behauptete, du wärst tot. Du seist Zeugnis ihrer Schande gewesen.«

»Mutter war keine Hure. Sie hat nur getan, was sie tun musste, um für alle zu sorgen. Markus hat sie gut bezahlt, aber nicht, um seine Gelüste zu befriedigen.«

»Es klingt trotzdem seltsam, wie du es sagst.«

»Ich habe oft an euch gedacht«, sagte Jakob um von dem unschicklichen Thema abzulenken. »Wie geht es Mariel?«

»Sie ist vor fünf Jahren im Kindbett gestorben. Agnes hat das Mädchen dann aufgenommen, da Mariels Mann dem Kind die Schuld an seinem Verlust gab.«

»Beim Abendgebet werde ich auch sie ehren«, sagte Jakob traurig.

»Nun erzähl von dir. Was ist das für ein Laden? Er scheint viel Geld zu bringen. Du trägst gutes Tuch.«

»Es ist weniger der Laden, sondern das Schicksal, welches mich beglückt hat. Mein Vater ist wohlhabend.«

»Und du bist nicht verheiratet?«

»Nein.« Jakob schüttelte den Kopf. »Die Richtige hat sich noch nicht finden lassen.«

»Ich werde Agnes von dir erzählen. Ich bin mir sicher, sie will dich ebenfalls sehen.«

Jakob nickte. »Frag nach dem Haus von Markus Wolff, jeder kennt es. Du wirst mich dort finden.«

Heinz nickte und trank den Bierkrug aus. Sie standen auf und umarmten sich erneut.

»Wir sehen uns wieder!«, versprachen sie einander. Dann gingen sie ihrer Wege.

Doch das Hochgefühl, welches Jakob nach dem Treffen ergriffen hatte, nahm rasch ab, je näher er seinem Zuhause kam. Er konnte seinem Vater nicht von der Begegnung berichten und das betrübte ihn. Markus hatte ihm jeden Kontakt zu seiner Familie verboten, denn er war anders als sie und musste vorsichtig sein. Und Jakob hatte ihm gehorcht. Jetzt allerdings hatte er einen Fehler begangen. Er hatte Heinz gesagt, wo er ihn finden konnte. Wie würde sein Vater darauf reagieren, wenn seine Halbgeschwister plötzlich vor der Tür standen? Es war wohl besser, er schickte ihnen gleich einen Boten, dass sie nicht zum Haus kamen.

Kurz vor seinem Zuhause hielt Jakob verwirrt inne.

Etwas stimmt nicht, dachte er. Dann sah Jakob, dass alle Fenster und Türen geöffnet waren, und er stürmte ins Haus.

»Vater!«, rief Jakob, kaum dass er über die Schwelle war. Er sah ihren Diener Walter, der bekümmert im Flur stand.

Im Gesellschaftszimmer saßen mehrere Personen, aber Jakob schenkte ihnen keine Beachtung. Stattdessen eilte er in das Arbeitszimmer seines Vaters, doch es war leer. Danach hetzte er in den ersten Stock und in dessen Schlafgemach. Lina und ihre Schwägerin Olga waren da und wuschen den leblosen Körper auf der Lagerstatt.

»Vater«, flüsterte Jakob entsetzt. Seine Knie zitterten, als er sich dem Bett näherte. Tränen rannen über seine Wangen.

»Wo wart Ihr nur?«, fragte Lina kühl. »Man sucht Euch seit Stunden. Jetzt ist es zu spät.«

»Vater.« Neben dem Bett sank Jakob auf die Knie und griff nach seiner Hand. Sie war kalt und leblos. Die vertraute Wärme, die er sonst zu Körpern empfand, war weg. Trotzdem küsste Jakob die Finger und drückte die Hand an seine Stirn, ehe ein Schluchzer tiefsten Schmerzes aus ihm herausbrach. »Vater.«

»Ihr seid uns im Weg, Jakob«, schnauzte Olga. »Hier könnt Ihr nichts mehr tun.«

»Verschwindet!«, brüllte Jakob rüde.

»Ihr habt hier nichts mehr zu befehlen, Herr Jakob Wolff«, erklang die helle Stimme von Linas Ehemann Rubert Klein.

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