Loe raamatut: «Gustaf Gründgens», lehekülg 4

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5. Ein eigentümlicher Mensch, so quer

»Da ich einige Tage auf Reisen bin, wurde mir Ihre Zuschrift nachgesandt. Aus derselben ersehe ich aber, daß Sie mehr Charakterliebhaber sind; ich suche mehr einen jungen Schauspieler, der aufs Charakter- und Väterfach hinaus will und natürlich jedwede Charge mit übernehmen muß. Auch bedauere ich, nicht mehr als 400 Mark Gage zahlen zu können. Wenn Sie unter solchen Voraussetzungen Ihr Angebot aufrechterhalten wollen, bitte ich um Ihre Nachricht nach Halberstadt (ab Freitag werde ich wieder dort sein). Da ich nur Schauspiel im Spielplan habe, wird Ihr Wunsch nach viel Arbeit sich sicher erfüllen lassen«1, schreibt Francesco Sioli, Intendant der Städtischen Bühnen Halberstadt, am 9. Juni 1920 aus Celle an Gründgens. Dieser erhält seine Bewerbung tatsächlich aufrecht – vielleicht, weil ihn das Charakter- und Väterfach wirklich nicht abschreckt, vermutlich aber vor allem, weil das Württembergische Landestheater in Stuttgart, an das Gründgens’ Düsseldorfer Schauspielschul-Leiter Fritz Holl als Oberspielleiter wechseln wird, sich zwar für den Berufsanfänger interessiert, aber mit einer definitiven Zusage zögert. Gründgens antwortet Sioli, damit seine Antwort nur ja nicht zu spät eintrifft, nicht per Post, sondern telegraphiert. Sioli schickt ihm daraufhin den Vertrag zu: »Der ›Sänger‹ braucht Sie nicht zu erschrecken: ich gebe weder Oper noch Operette. Nur ab und zu (in vergangener Spielzeit war es 3 mal) kommt eine Posse heraus, in der dann die Gesangskunst (!!) aufleuchten soll!«2

Gründgens wird also »für die Kunstgattung als Schauspieler und Sänger und für das Kunstfach Charakterfach und Chargen«3 verpflichtet. Sind die Unterschiede zwischen den Städten, dem 400000 Einwohner zählenden Düsseldorf und dem im Harzvorland gelegenen alten Bischofssitz Halberstadt mit seinen nur 48000 Bewohnern, auch enorm, so unterscheidet sich das Schauspielhaus Düsseldorf, auf dessen Bühne Gründgens bis vor kurzem gestanden hat, erstaunlich wenig vom Halberstädter Theater. Es stammt ebenfalls vom Architekten Bernhard Sehring aus Berlin (der dort auch das ganz ähnliche Theater des Westens entworfen hatte, das im Gegensatz zu den im Krieg zerstörten Bühnen in Düsseldorf und Halberstadt noch heute erhalten ist) und war am 30. September 1905, genau vier Wochen vor dem Schauspielhaus, eröffnet worden. Auch dieses Theater besteht aus zwei stilistisch ganz unterschiedlichen Teilen, dem im Louis-Seize-Stil gestalteten Zuschauerbereich und dem Bühnenhaus, das wie in Düsseldorf in Gestalt einer mittelalterlichen Burg errichtet worden ist. Und mit 900 Plätzen faßt es kaum weniger Zuschauer als das Schauspielhaus Düsseldorf.

Die Städtischen Bühnen Halberstadt zählen zu den avantgardistischsten der deutschen Provinz; der gute Ruf des ausschließlich dem Schauspiel verpflichteten Theaters dringt weit über die Stadtgrenzen hinaus und zieht Theaterkritiker selbst aus Berlin an. Zu verdanken hat das Haus dies der soliden und verantwortungsvollen Leitung Francesco Siolis4, des als Siegfried Franz Peter Sioli 1878 in Halle an der Saale geborenen Sohnes eines aus Italien stammenden Apothekers. Nach einigen Jahren als Schauspieler hatte er von 1908 bis 1913 das Stadttheater Tilsit und dann das Stadttheater Halberstadt – auf eigenes Risiko – geleitet, war allerdings 1914 eingezogen worden, hatte daher sein gesamtes Personal entlassen und das Stadttheater schließen müssen. Lediglich einige Gastspiele anderer Bühnen waren dort zu sehen gewesen, bis die Stadtverordnetenversammlung im April 1919 die Wiedereröffnung des Theaters als städtisch geführtes Städtebundtheater der Städte Halberstadt, Quedlinburg und Aschersleben beschlossen und den vom vierjährigen Fronteinsatz zurückgekehrten Sioli zum Intendanten berufen hatte. Bereits nach einem Jahr war das in finanzielle Schieflage geratene Städtebundtheater »hauptsächlich der allgemeinen Verkehrsschwierigkeiten wegen«5 aber wieder aufgelöst worden. In der Spielzeit 1920/21 besteht das Ensemble der Städtischen Bühnen Halberstadt aus 35 darstellenden Künstlern, zu denen neben Gründgens auch sein Freund und Mitschüler Hanns Böhmer, die nach dem Zweiten Weltkrieg am Deutschen Theater Berlin tätige Ruth Baldor und der in den 30er und 40er Jahren als Nebendarsteller in mehr als 80 Filmen beschäftigte Eduard Wenck gehören. Der promovierte Mediziner Albrecht Schoenhals, der 1920 in Halberstadt sein erstes Festengagement als »jugendlicher Held« antritt, wird, durch sein vornehmes Erscheinungsbild für Rollen als weltgewandter Liebhaber prädestiniert, von 1934 an mit Partnerinnen wie Pola Negri, Camilla Horn, Lil Dagover und Olga Tschechowa drehen und zu einem der beliebtesten deutschen Filmschauspieler avancieren. »Gleich im ersten Stück der Saison, in Hebbels NIBELUNGEN, sollte ich mit einem jungen, ehrgeizigen Debütanten zusammen spielen: mit Gustaf Gründgens«, wird sich Schoenhals an sein Halberstädter Debüt erinnern. »Der junge Mann – mehr war er für mich damals noch nicht – schien mit seiner Rolle unzufrieden, jedenfalls gab er mir deutlich zu erkennen, daß er der Meinung sei, man habe ihn bei der Rollenbesetzung zum Narren gehalten und übers Ohr gehauen. Kein Zweifel, er neidete mir die Rolle. […] er als der Junge mußte einen Alten spielen (mit Bart), und ich als der Ältere – ich war damals immerhin schon zweiunddreißig – durfte einen Jüngeren spielen und dazu noch den König Gunther. Und es war die bessere Rolle!«6

Am 2. September beginnen die Arrangierproben zu den NIBELUNGEN, in denen Gründgens unter der Regie des Intendanten Hagens älteren Bruder Dankwart gibt; mit ihnen wird die Spielzeit am 18. September eröffnet. Bereits ab 7. September probiert man parallel dazu Büchners Revolutionsdrama DANTONS TOD, das drei Tage später Premiere hat. Gründgens werden darin gleich mehrere Rollen zugeteilt, darunter immerhin der Thomas Payne, »eine Rolle, die mich ungeheuer interessiert«7, so Gründgens. Ebenfalls noch im September hat er als Lord Caversham in Oscar Wildes IDEALEM GATTEN Premiere: »Die Rolle […] ist fabelhaft. 70jähriger, übervornehmer englischer Fürst. I. Akt Frack, III. Akt Gehrock, IV. Akt Cutaway. Ich bade mich in Eleganz.«8 Anfangs berichtet »Guy«9 seiner ehemaligen Mitschülerin Renée Stobrawa, einem robusten, blonden Mädchen von eher herber Schönheit, in das er sich heftig verliebt hat, noch: »Das Theater macht einen sehr anständigen Eindruck. […] Man hat hier allerlei mit mir vor. Man hält mich für den geistreichsten und expressionistischsten Schauspieler, den H[alberstadt] je gehabt hat. Der Dramaturg ist fabelhaft; der hält außerdem Berge von mir. Ich bin momentan nicht sehr begeistert, aber voll Hoffnung. Mein Bild hängt in jeder Buchhandlung!! Na ja!«10 Der »fabelhafte« Dramaturg und zugleich Oberspielleiter der Städtischen Bühnen ist Martin Kerb, der sich ganz dem zeitgenössischen Drama verpflichtet hat. Kurz darauf wird Kerb tatsächlich Karriere als Regisseur in Berlin machen und 1926 die Leitung des Schauspielhauses in Essen übernehmen11 – seine Theaterauffassung dürfte der von Gründgens weitgehend entsprechen, wird ihn doch der Kritiker Herbert Ihering als einen Regisseur loben, »der in kurzer Zeit mit sicherster Beherrschung des Handwerks eine Aufführung aus den Bedingungen des Stückes und der Schauspieler entwickeln und zum Erfolg führen kann«12.

Immerhin wird Gründgens’ Gage wie die der meisten Kollegen nach einigen Wochen angehoben, um 150 Mark auf 550 Mark, und das sogar rückwirkend zum Spielzeitbeginn. Obwohl er zudem einen Zuschuß von seinen Eltern erhält, ist Gründgens, der den Halberstädtern durch seine »fesche Garderobe«13 auffällt, stets bemüht, sein Einkommen aufzubessern, organisiert Unterhaltungsabende für den »Vaterländischen Frauenverein« (dessen Aufgabe seit Kriegsende darin besteht, die Krankenpflege zu fördern), an denen er mal eine »Stierkampfpantomime«14 zum Besten gibt, mal zum Entsetzen aller »rhythmische Tänze in Trikothöschen«15 vorführt, und engagiert sich in einer auf die Darstellung historischer Totentänze spezialisierten Laienspieltruppe. Kann er – zusammen mit dem Kätzchen »Schnuy«, das er geschenkt bekommen hat – zunächst recht günstig und zudem nur 800 Meter vom Theater entfernt als möblierter Herr in der Kaiserstraße 8 (der heutigen Walther-Rathenau-Str. 8) bei der Familie des Schuhgroßhändlers Arthur Heynemann wohnen, die zu den angesehensten der rund 300 jüdischen Familien in Halberstadt zählt, so muß er, als dieses Zimmer nicht mehr zur Verfügung steht, wie einige seiner Kollegen im Hotel Prinz Eugen logieren: »Mein Hotelzimmer kostet ohne Frühstück pro Nacht 12 Mark. Ein möbliertes Zimmer war für den Moment nicht zu bekommen. Und billigere Hotels gibt es hier nicht. Ich zittere bei dem Gedanken, daß aus unserer Teuerungszulage nichts wird«, schreibt Gründgens seiner »Mui«. Notgedrungen erteilt er den Mädchen des Kaiserin-Auguste-Viktoria-Lyzeums Unterricht in rhythmischer Gymnastik (»Ich placke mich hier mit 9jährigen Kindern ab. Sonst könnte ich überhaupt nicht leben hier.«16) – und das alles neben seinem Engagement an den Städtischen Bühnen.

Dort steht er in der achtmonatigen Saison zwar in 22 verschiedenen Stücken auf der Bühne, assistiert überdies und arrangiert Tanzszenen für Shakespeares WINTERMÄRCHEN, Anna Bethe-Kuhns Märchen DAS NEUGIERIGE STERNLEIN, Christian Lahusens »Ballett zu einem Lustspiel von Molière« mit dem Titel DIE HOCHZEIT DER SCHÄFERIN und Nestroys LUMPAZIVAGABUNDUS. Allerdings wird Gründgens, der vertraglich »ausdrücklich auch zur Übernahme kleiner Rollen und zur Komparserie«17 verpflichtet ist, als Schauspieler nur selten seinem Alter entsprechend beschäftigt, sondern muß meist alte Männer spielen, ausstaffiert mit üppigen Bärten und umgeschnallten »Falstaffranzen«, wie man im Theaterjargon die wattierten Bäuche nennt, die seine schlanke Figur kaschieren. So gibt er in Schillers MARIA STUART nicht etwa die Rolle des Mortimer, die dem fast zwölf Jahre älteren Albrecht Schoenhals anvertraut wird, sondern dessen etwas biederen, pflichtbewußten Onkel Paulet, den Wächter der Stuart (die Kritik nennt seine Darstellung »hoffähig«18) und in Ibsens analytischem Familiendrama GESPENSTER keineswegs den 27jährigen Maler Oswald, sondern den alten Jugendfreund seiner Mutter, Pastor Manders. Immerhin erhält er in Schnitzlers ANATOL die Rolle des Max und erweckt in Lessings EMILIA GALOTTI »den Eindruck eines aalglatten, gewandten Höflings, zeigte aber nicht die teuflische Bosheit und Schlechtigkeit des Marinelli«19, so der Kritiker der Halberstädter Zeitung und Intelligenzblatt. Francesco Sioli weiß mit Gründgens’ nervösem Temperament wenig anzufangen. Gleichwohl verhandelt er für die kommende Saison über einen Vertrag als »1. Charakterliebhaber und jugendlicher Charakterspieler« mit Gründgens, der sich »plötzlich so klein und so unausgeglichen« findet, daß er »starke Zweifel« hegt, ob er »ein solches Fach ausfüllen kann«20, wie er Louise Dumont schreibt, bei der er sich vergeblich um ein Engagement am Schauspielhaus Düsseldorf bewirbt. Doch als Sioli einen Ruf als Intendant nach Aachen erhält, steht eine Verlängerung von Gründgens in Halberstadt ohnehin nicht mehr zur Disposition. Nach Aachen mitnehmen will Sioli den Anfänger, der ihm »technisch brillant, aber seelisch ein Embryo«21 scheint, nicht: »Sie engagiere ich erst wieder, wenn Sie ein dicker Komiker geworden sind!«22


Gustaf Gründgens als Marinelli und Hanns Böhmer als Hettore Gonzaga in Lessings EMILIA Galotti, Vereinigte Städtische Theater zu Kiel, 1921

© Theatermuseum Düsseldorf

Gründgens hatte sich indessen in Halberstadt nicht immer wohl gefühlt: »Ich bin eigentlich immer allein gewesen hier, und wie gut das für mich war, glaube ich jetzt zu sehen. Obwohl ich gerade unter dem Alleinsein gelitten habe.«23 Davon zeugen nicht zuletzt die Gedichte, die er Renée Stobrawa schickt: »Tanzt ihr Gedanken / Auf den Gräbern der Verlorenen / Stammelt über verzerrte Trugbilder / Gewesener öder Alltäglichkeit / Sucht abgegraste geschwundene Schönheit auf / Verpestet Euch im Erinnern an erlebte Kloaken / Jagt ihr Gedanken / Weit in die Zukunft / Baut Irrtümer auf / Brecht Wege ins Nichts / Hofft Welten, heiligt kommendes Glück / Nur / Schweigt / Über meine Einsamkeit.«24 Noch im Oktober hatte er seine »Göttin«, seinen »Engel«25, sein »Herzele liebes«, seine »Süße«26 beschworen: »Meine Renée, mir ist nie so klar gewesen wie jetzt, daß mir ein Leben ohne Dich unmöglich ist. Ich liebe Dich so innig und heiß, daß ich hier immer mit Dir bin und mit Dir erlebe. […] Glaub mir, mir fehlen einfach die Worte, die mein Gefühl zu Dir ausdrücken sollten. Ich möchte Dich ganz umarmen, küssen und dann ganz ruhig in Deinem Arm liegen, ganz nahe bei Dir.«27 Doch als ihr Gründgens im Juni 1921 seine gesammelten Gedichte mit dem Titel ALTES UND NEUES widmet, ist die Liebe bereits erkaltet. »Ich habe nie darüber schreiben mögen: sie ist so anders als ich; vielleicht besser. Wir haben viel korrespondiert im Anfang, und dann konnte ich nicht mehr schreiben; eben, weil ich mußte, nicht. Ich mußte mich nach Erhalt eines Briefes hinsetzen und antworten, sonst kam am nächsten Tag ein Telegramm (ich meine das nicht buchstäblich). Und dann kam eine Zeit, in der hier in mir alles drunter und drüber ging, und dann schrieb ich noch weniger. Und dann fand Renée, daß wir nicht zusammenpassen. Vielleicht fand sie es damals nur aus irgendeinem Kokettsein und wartete auf meine Gegenteilbezeugungen. Aber ich hatte auch nachgedacht und war zu dem gleichen Resultat gekommen. (Nicht wegen dem Unterschied im Briefeschreiben.) Aber ich bin nicht der Mann, der Renée zufriedenstellen kann. Ich setze zum Beispiel einen großen Teil meiner Erotik ins künstlerische Schaffen um. Und Renée schafft nur aus einer Erotik heraus, die dauernd nach einer Befriedigung verlangen muß. Ich kann entweder nur ihr Mann sein oder nur ein guter Schauspieler werden«, schreibt Gründgens erstaunlich offen seiner Mutter im April 1921. »Ich weiß nicht, ob Du mich verstehst, es ist das erste Mal, daß ich mir selbst in Worten Rechenschaft darüber ablege. Ich kann, glaube ich, weder mit der Frau als Herrin noch mit der ›Käthchen von Heilbronn‹-Natur etwas anfangen. Für eine rein physische Erotik ohne starkes geistig-seelisches Band werde ich nie Verständnis haben.«28

Was da »alles drunter und drüber ging«, erläutert »Gui« seiner geliebten Mutter nicht: Er ist zerrissen zwischen der Sehnsucht nach einer Geborgenheit bietenden, bürgerlichen Existenz, also Ehe und Kindern, und seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen. Vielleicht sieht Gründgens in einer Heirat lediglich eine Möglichkeit, die noch nicht akzeptierte eigene Homosexualität zu unterdrücken, vielleicht sehnt er sich tatsächlich nach einer Beziehung zu einer Frau – wobei hier »das überwertige Frauenideal der eigenen Mutter sicher eine dominante Rolle«29 spielt, wie später ein Psychiater meint, der Gründgens behandelt; auch Renée Stobrawa ist für Gründgens »immer das Höchste und Reinste, die Höhe, die ich erreichen muß«30. Auf alle Fälle empfindet er seine homosexuellen Wünsche als höchst problematisch. Zum einen ist er geprägt vom rheinischen Katholizismus seines Elternhauses (der bigotterweise unberührt bleibt von der Tatsache, daß der Vater zahlreiche Affären pflegt) und der in der Wilhelminischen Ära noch weitverbreiteten Schamhaftigkeit – so hatten etwa Düsseldorfer Stadtverordnete 1902 zur Frage Stellung genommen, ob ein Schwimmverein in »sittlicher Beziehung eine segensreiche Thätigkeit« entfalte: »Es diene doch nicht zur Hebung der Sittlichkeit, wenn Knaben mit dem nackten Körper und nur mit dem dünnen Badehöschen bekleidet, sich […] gegenseitig mit Blicken bemessen könnten.«31 Zum anderen, das darf man nicht vergessen, stellt das deutsche Strafgesetzbuch Homosexualität unter Strafe; im Jahr 1921 werden in Deutschland immerhin 425 Männer nach Paragraph 175 verurteilt.32 In dessen seit 1872 gültiger Fassung33 heißt es: »Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.« Alle Versuche, das Sexualstrafrecht zu reformieren, sind bislang fehlgeschlagen, schon 1897 war eine erste, unter anderem vom SPD-Vorsitzenden August Bebel unterzeichnete Petition des Arztes Magnus Hirschfeld dem Reichstag vorgelegt worden und, wie alle folgenden, gescheitert. Und so ist der pubertierende Gründgens sicher geprägt worden von Zeitungsmeldungen wie beispielsweise jener über einen Vorfall 1914, als in Duisburg »in einer Sonnabendnacht von der Kriminalpolizei eine homosexuelle Gesellschaft entdeckt und aufgehoben [wurde]. Von der Düsseldorfer Polizei war die Nachricht eingelaufen, daß Leute aus diesen Kreisen planten, in Duisburg einen sogenannten Männerball abzuhalten. Da auch der Zeitpunkt bekannt war, stellten sich an jenem Abend einige Kriminalbeamte am Bahnhof auf, um auch das Festlokal in Erfahrung zu bringen. […] Um zwölf Uhr nachts wurde die gesamte Kriminalpolizei an dieser Stelle zusammengezogen […] Die Anwesenden gehörten durchweg der guten Gesellschaft an; unter ihnen befanden sich Ärzte, Kaufleute, Beamte, Apotheker u.a. Einige Teilnehmer versuchten, durch die Fenster zu flüchten, wurden aber durch die draußen postierten Beamten abgefangen.«34 Dramatischer als eine Verurteilung sind für die Betroffenen oftmals die gesellschaftlichen Folgen, drohen doch neben der Ächtung durch den Bekanntenkreis die Kündigung von Arbeitsstelle und Wohnung.35

Ob Gründgens’ Sexualität seine Berufswahl mit beeinflußt hatte, sei dahingestellt – Magnus Hirschfeld schätzte bereits 1914 den Anteil Homosexueller unter den Schauspielern doppelt so hoch wie im Durchschnitt36, die 1920 von der Homosexuellenzeitschrift Freundschaft publizierte Behauptung, daß sich Homosexuelle, vor die Wahl gestellt, in mindestens 75 Prozent aller Fälle für den Beruf des Schauspielers entschieden37, scheint indes übertrieben. Spätestens während seiner Zeit an der Hochschule für Bühnenkunst muß sich Gründgens jedoch mit seiner Bisexualität, die im Laufe seines Lebens immer stärker zur Homosexualität hin tendiert, auseinandergesetzt haben, durch die enge Freundschaft mit Hanns Böhmer und nicht zuletzt auch durch Louise Dumont, die den Schülerinnen und Schülern ihre an die Zwischenstufentheorie Magnus Hirschfelds38 erinnernden Überlegungen zur sexuellen Orientierung vermittelt hatte. In ihrem Buch VERMÄCHTNISSE formuliert sie diese so: »In der Pubertätszeit, so lehrt die moderne Psychologie, ist die Bisexualität ziemlich allgemein. Goethe aber lehrt uns: der geniale Mensch erlebt öfter im Leben die Periode der Pubertät. Mithin darf angenommen werden, daß der künstlerische Mensch im allgemeinen zu den Grenzerscheinungen gehört, in denen männlich-weibliches Wesen immer zusammenklingt. Die Dominante ist hier das Entscheidende.«39 Dabei scheint sie bisexuelles Empfinden für Künstler zwar für notwendig zu erachten, trennt dieses aber von der körperlichen Sexualität. Ein »Geheimnis« solle vor der »Aufdeckung aller Beziehungen des niedrigen Eros« schützen, die »auch zum Teil als schicksalhafte Tragik«40 gesehen werden.

In seinem in Halberstadt entstandenen, Fragment geblieben Drama GLÜCKSSUCHER. BILDER AUS DEM LEBEN versucht nun der junge Schauspieler Gründgens, die ihn quälende Erkenntnis, wie stark sein bislang verdrängtes homosexuelles Verlangen ist, den schwierigen Prozeß dessen, was man heute Coming-out nennt, literarisch zu verarbeiten – freilich ohne damit an die Öffentlichkeit zu treten. Der 18jährige Desider – der sprechende Name ist abgeleitet vom lateinischen desiderium: Verlangen, Sehnsucht – wartet im elterlichen Musikzimmer verzweifelt auf einen Anruf: »Sei barmherzig bitte! Mach der Qual ein Ende. – Ich kann nicht mehr. (sieht auf die Uhr) Zu spät. Schon ½ Stunde nach der versprochenen Zeit. (kniet) Lieber Gott, laß ihn bitte anrufen. Bitte (fast schreiend). Ich warte nicht länger (setzt sich wieder daneben und starrt wie vorher auf das Telefon). (murmelt wie abseits) O komm, o komm, komm.« Endlich kommt der ersehnte Anruf von Walter (ein »frischer, gerader Mensch, 18 Jahre«): »Ich habe gewartet, oh so lange! Aber jetzt – (sich unterbrechend – hastig, glücklich) ja nun – ich rief schon dreimal an heute! Ich muß dich sprechen. Ich hatte solche Sehnsucht nach dir. – Ja! – Findest du das so merkwürdig? – Ja, ich muß dir unbedingt etwas sagen. Ich (zögernd) bin zu einem Entschluß gekommen. – Ja! Wann kannst du kommen? Heute abend! Bitte! – Geht nicht? Ja dann – aber morgen! – Erst um 6 Uhr? Na ja, aber bitte pünktlich, ja! Auf Wiedersehn, lieber Walter (horcht noch nach). Noch jemand da? (hängt ein und kommt vor) Ha (glücklich erleichtert). Er kommt! (geht zum Klavier, spielt, steht auf, rennt durchs Zimmer) Gott ich danke dir –« Am folgenden Abend gesteht Desider dem überraschten Walter (der, so erfährt man, vor einiger Zeit mit Desiders Freund Gert »so intim« war) seine Liebe, doch das Gespräch wird abgebrochen, als Desiders Mutter ihn bittet, eine Bekannte nach Hause zu bringen, Desider bleibt also im Ungewissen darüber, ob Walter seine Zuneigung erwidert. Er sucht den Rat der 22jährigen Asta, laut der Charakterisierung des Autors eine »gerade großzügige Natur«: »Weißt du, ich bin doch ein eigentümlicher Mensch, so quer. Wenn ich doch nur wüßte, was ich wollte. […] Siehst du, jetzt zum Beispiel bin ich vollständig auf Frauen eingestellt. Aber siehst du, andererseits – momentan natürlich nicht – andererseits glaube ich auch, in mir ein Faible für die andre Art Liebe zu haben.« Asta hält das für »Unsinn«: »Ach Gott, […] das bildest du dir ja doch bloß ein. Du bist doch so ein kluger Mensch – nein, nein. […] Desi, nein, das redest du dir da ein. Das ist doch das Schmutzigste, was es gibt, dieses – Gott, ich habe immer normal gefühlt und kann das ja nicht beurteilen, aber das ist doch einmal unnatürlich und deshalb schmutzig.« Doch Desider bleibt beharrlich: »Nein, Asta, im Gegenteil. Ich empfinde in solchen Fällen so etwas Reines und Gutes. Siehst du, das ist so. Denn seh’ ich den Betreffenden, und dann zuckts in mir zusammen, und dann muß ich ihn immer anrufen. Aber wenn ich ihn dann endlich gesprochen habe, mit ihm ein Stück spazieren gegangen bin – oder das noch nicht mal –, dann ist es wieder gut. Mehr will ich nicht.« Auf Astas Entgegnung: »Aber Desi, dabei bleibt es nicht«, insistiert Desider: »Doch, dann bin ich zufrieden.« »Gott, Junge, ich möchte dir so gerne helfen, aber – das ist ja vollkommen unmöglich, daß es dabei bleibt. Das kann es gar nicht. Wenn du wirklich so bist, und du hast manchmal so was, zum Beispiel mit den schönen Beinen, eben das war auch wieder so was – dann ist das noch nicht so ausgeprägt, dann führt das bestimmt dazu«, meint Asta. Desider versucht sie zu überzeugen: »Nein, das ist ja unmöglich, denn diejenigen, die ich so liebe, die würden da gar nicht drauf eingehen.« Worauf die Szene mit Astas Replik schließt: »Das ist ja noch schlimmer, denn dann wirst du bestimmt einmal unglücklich.«


Gustaf Gründgens

© bpk / Staatsbibliothek zu Berlin

Es scheint, als nehme Gründgens in seinem dramatischen Versuch sein eigenes Schicksal vorweg: Auch er wird sich überwiegend in heterosexuelle Männer verlieben und erfahren, daß selbst da, wo seine Liebe körperlich erwidert wird, sich etliche Partner dem anderen Geschlecht zuwenden, der Maler Jan Kurzke, seine große Liebe Mitte der 20er Jahre, ebenso wie sein langjähriger Lebensgefährte Peter Gorski. »Ich habe oft und viele Menschen verzaubert […] durch die Kraft und den Einsatz, durch die Unbeirrbarkeit meiner Zielsetzung – und habe sie überrannt, gewonnen und verloren. Denn es waren nicht sie, die sie waren, sondern die, die ich wollte, daß sie waren«41, wird Gründgens 1946 bilanzieren. Im Schlußbild der GLÜCKSSUCHER wälzt sich Desider schlaflos im Bett: »Gott gib mir eine andre Natur! Warum kann ich nicht so empfinden wie alle Menschen – (er stöhnt). Was tat ich denn, wem tat ich was, daß ich so leiden muß! Verlacht, unverstanden, über die Achsel angesehn! (ausbrechend) Ich halte das nicht mehr aus. (in rasender Angst): Gott was ist mir, Erbarmen, (schreit) Luft! (weint wie ein Kind) Mama – Mutter! (steht taumelnd auf, bleich mit irrsinnigen Blicken. Die Augen tief in den Höhlen) Ja, ja. Eine nette Galerie. Wenn man sieht, wie man sinkt! Tief, tief, immer tiefer! (schreiend) Wenn es wenigstens noch einen Boden gäbe! (stöhnt; dann ohne Übergang kalt beherrscht) Pah – was ich mir daraus mache! (lacht) Ich tu ja doch nur, was ich will. (Pause. Spiel vom kühlen Berechnenden zum Gequälten, Geängstigten) Aber die Folgen! Die Folgen. Und der Ekel! Nicht denken! (schreit irrsinnig) Vieh! Du! (beißt sich in den linken Arm)42

»Mein lieber Hanns, was sagst Du nun zu all dem? Ich glaube bei einzelnen Stellen hast Du Dich krank gelacht. Das wäre sehr schade! Also, es ist Erlebtes, Empfundenes mit Gedachtem, Erdichtetem zusammengesetzt«, schreibt Gründgens seinem Freund Hanns Böhmer. »Desider bin ich vielleicht. Walter ist L. Gert: Du. Bei der Asta habe ich an Ilse gedacht. Der ganze Dreck ist Dir gewidmet von Deinem alten dummen Gustav, der Dich schrecklich vermißt und sonst nie auf so dumme Gedanken gekommen wäre.«43 Obwohl die Beziehung zwischen Gründgens und Böhmer nicht unproblematisch ist, wechseln beide gemeinsam das Engagement: Als der Intendant der Vereinigten Städtischen Theater zu Kiel, Max Alberty, im April 1921 nach Halberstadt kommt, um Hanns Böhmer als Marchbanks in CANDIDA zu begutachten, sieht er auch Gründgens, der in George Bernard Shaws Komödie den etwas nachlässigen, um Vornehmheit bemühten Unterpfarrer Alexander Mill spielt. »Ich lernte ihn dann kennen, da er im selben Hotel wie ich wohnte, ich hatte ihm sehr gut gefallen, und im Gespräch stellte sich dann heraus, daß er grade eine Individualität wie meine suchte«, berichtet Gründgens seinen Eltern. Alberty läßt ihn am nächsten Morgen einige Monologe vorsprechen und verpflichtet ihn ebenso wie Böhmer für die kommende Spielzeit 1921/22. »Ich hatte mir noch 2 Tage Bedenkzeit ausgebeten, um mir vorher mit Böhmer klar zu werden, und fand ihn auf demselben Standpunkt wie mich, nämlich, daß es zwar besser für uns beide wäre, wenn wir endlich einmal getrennt arbeiteten, daß aber in den gegenwärtigen Verhältnissen man es nicht verantworten könnte, eine solche Chance sich entgehen zu lassen. Wir haben also beide vorläufig abgeschlossen, nachdem mir Alberty im Zuge der Unterhandlungen (natürlich nur im allgemeinen) erklärte, daß er sich zum Prinzip gemacht hätte, niemanden bei sich zu halten, der nicht gern käme. Böhmer verhandelt zur Zeit noch aussichtsreich mit Bochum, und ich habe ja noch die Berliner Geschichte44 am laufen; wenn nur das eine oder das andere zum Klappen kommt, lösen wir Kiel. Ich ginge ja lieber nach Kiel wie nach Berlin, weil ich dann mehr spiele. Andererseits stehen wir menschlich so zu einander, daß ein Zusammenarbeiten nicht gerade ersprießlich sein würde. Mir wär es ja eher egal, ich denke da irgendwie praktischer, aber Böhmer ist seit einiger Zeit so von der gänzlichen Verschiedenheit unseres Charakters durchdrungen, daß ihm es besonders schwer fallen wird. Aber schließlich ist Kiel ja groß und mit der Zeit kommen wir wohl auch zu einem inneren Vergleich.«45 Als Gründgens am 18. April 1921 eben jenen Vertrag unterzeichnet, in dem erstmals die Schreibweise »Gustaf« auftaucht, durchschaut er offenbar noch nicht den Hintergrund seines Engagements. In einem Brief Böhmers an Gründgens aus dem Jahr 1952 heißt es: »Als mich vor Jahren und Tag Alberty holen ließ, und mir sagte, er habe Sie meinetwegen engagiert, teils mit meiner Gage, und er hätte Sie lieber nicht mehr bei sich, sagte ich ihm – wie begabt Sie seien, und ohne Sie ginge ich auch! Und daß ich immer für Sie so kämpfen würde!«46

Daß Böhmer in diesem Brief den einstigen Freund siezt, hat einen jahrzehntelangen Vorlauf. Gründgens reagiert zutiefst verletzt, als er in Kiel erfährt, nur »als Knochenbeilage«47 engagiert worden zu sein. Während er jedoch Karriere macht, stagniert die vielversprechende Laufbahn Böhmers, der, wegen seines »verführerischen Zaubers«48 gerühmt, von Hermine Körner ans Münchener Schauspielhaus, 1925 von Max Reinhardt ans Deutsche Theater Berlin engagiert worden war. In Carl Sternheims OSKAR WILDE hatte er dort neben dem Titeldarsteller Rudolf Forster Wildes Geliebten Lord Douglas gegeben, in Klabunds KREIDEKREIS mit Elisabeth Bergner auf der Bühne gestanden. Zwar beschäftigt ihn Gründgens 1930 in seiner Uraufführungs-Inszenierung von Vicki Baums MENSCHEN IM HOTEL, doch nur in dem kleinen Part eines Spielers. Und schenkt man Vicki Baum Glauben, behandelt Gründgens seinen einst so vertrauten Freund keineswegs anständig: »Ach, um meine Ruhe zu haben, mußte ich ihm eine stumme Rolle geben – immer noch besser, als wenn wir ihn ein paar Worte hätten sprechen lassen. Da hab’ ich ihn denn da hinten postiert, mit dem Rücken zum Publikum, Sie sehen’s ja. Sein idiotisches Mondgesicht konnte ich den Leuten unmöglich präsentieren«, soll Gründgens der bei einigen Proben anwesenden Autorin gesagt haben. »Aber keine Angst, wir werden die Ecke so ausdunkeln, daß er kaum zu sehen ist.«49 Bei der Premiere soll Böhmer dann plötzlich nach vorne ins Rampenlicht gestürzt, Gründgens daraufhin »wegen des geschmissenen zweiten Aktes in Weißglut«50 geraten sein. Böhmer ist – nicht unverständlich – tief verletzt. Immer häufiger belästigt er seinen arrivierten Freund mit vorwurfsvollen Briefen. Der verschafft Böhmer im Frühjahr 1935 immerhin ein Vorsprechen an der Berliner Volksbühne. »Ich muß Dich immer nachdrücklich darauf aufmerksam machen, daß Du Dich nun, was mich angeht, wirklich zusammennehmen mußt, denn ich kann mir nicht immer wieder sagen lassen, daß mich an Deiner wirtschaftlichen Situation auch nur die leiseste Schuld trifft«, heißt es in einem Einschreiben von Gründgens vom 21. Mai 1935. »Sie war bereits verfahren, als ich, völlig einflußlos, nach Berlin kam. Meine Versuche, sie einzurenken, hast Du wieder aus Deinem Temperament heraus konterkariert. Du erhältst von mir augenblicklich eine monatliche Unterstützung von 200.– RM (zweihundert Reichsmark), die ich Dir immer wieder mit Rücksicht auf die Tatsache unserer langjährigen Freundschaft gebe. Ich lehne es aber ab, irgendeine moralische Verpflichtung dabei anzuerkennen, die Du in Deinen letzten Briefen immer wieder zu konstruieren versuchst. Ich habe Dir in jedem unserer Gespräche klargemacht, wie sehr ich bedauere, daß es Dir scheinbar nicht gelingen kann, unbefangen und wirklich freundschaftlich zu mir zu stehen, aber wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht. Die Arbeit, die ich zu leisten habe, und die Verantwortung, die ich dabei zu tragen habe, ist zu groß, als daß ich mich Situationen, wie die, in die Du mich durch Deine Briefe bringst, aussetzen kann. Ich erkläre noch einmal, Dir, soweit mir das sachlich möglich ist, mit meinem Einfluß zu Hilfe zu kommen, wie ich das ja auch in den verschiedensten Fällen getan habe. Bedingung dafür ist jedoch jetzt, daß Du mich mit solchen Briefen endgültig verschonst. […] Ich habe mich bemüht, sachlich noch einmal die Situation festzustellen. Es liegt an Dir, sie so zu erhalten. Du mußt endlich über Deine fixe Idee: ich könnte, wollte oder würde Dir schaden, hinwegzukommen suchen, und mir meine Versicherung, daß niemand sich mehr freuen würde, wenn Du wieder in den künstlerischen Arbeitsprozeß eingereiht würdest, als ich, glauben.«51 Doch genau das gelingt Böhmer, der lange nicht aufhört, um eine Zusammenarbeit mit Gründgens zu betteln und zu kämpfen, bis zu seinem Tod nicht. »Die Macht der Politik bestimmte ja auch die Kunst! Und die Macht der Politik hatten Sie ja damals hinter sich, wie heute die allbestimmende Macht des Geldes! Die eine wie die andere künstlerisch zu cachieren ist nun mal Ihre grande affaire!«, heißt es in einem Brief des verbitterten Böhmer aus dem Jahr 1952. »Was Sie mir antaten, wissen Sie vielleicht so wenig, genau so wenig wie anderes – was zu wissen Sie nicht dekorativ finden. Nun, ich wär ausgelöscht! Glauben Sie mir, die Agonie ist gräßlich. Wenn das Mütterchen nur erlöst wäre, dann kann ich auch Schluß machen! Das Mitzuerleben möchte ich ihm nicht noch zumuten.« Und er wirft seinem einstigen Freund vor: »In all Ihrer Macht und Herrlichkeit haben Sie mir nicht die kleinste Chance gegeben. Im Gegenteil! All die Macht und Herrlichkeit haben Sie dazu gebraucht, um mich künstlerisch zu verhindern […]. Nun, ich will mit Ihnen weiß Gott nicht mehr abrechnen und auch keine Epistel über den wahren Gustaf schreiben. Aber irgendwie sind Sie doch ein Geschöpf von mir […]. Vielleicht müssen Sie mich deshalb auch so töten! Sicher ist es bald soweit.«52

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