Loe raamatut: «Gustaf Gründgens», lehekülg 8

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Wie eh und je stürzt sich Gründgens auch nach dem Scheitern seiner Ehe in die Arbeit. Erich Ziegel hatte bereits im Sommer 1926 die Leitung des Deutschen Schauspielhauses übernommen. Nachdem die Kammerspiele unter der Direktion von Mirjam Horwitz und Karl Goldfeld eine Spielzeit lang vom Oberspielleiter Heinz Goldberg geführt worden waren, war Gründgens 1927 zum Oberregisseur avanciert – ein Titel, das garantiert ihm sein Dienstvertrag, unter dem »kein anderer Regisseur […] verpflichtet« werden darf. Zudem hatte er vereinbart, daß niemand eine höhere Gage als er erhalten dürfe, falls doch, sei »sein Gehalt automatisch mitzuerhöhen«41. Er hatte als reaktionärer Nationalist Graf Lande in der Uraufführung von Ernst Tollers zeitkritischem Reportagestück HOPPLA, WIR LEBEN! mitgewirkt (das allerdings in Hanns Lotz’ Inszenierung wenig Beachtung gefunden hatte und erst bei Erwin Piscator in Berlin zum spektakulären Bühnenereignis wird), Stücke von Georg Kaiser und George Bernard Shaw inszeniert. Acht Tage nachdem Erika am 6. Oktober 1927 in die USA aufgebrochen war, spielt er, ebenfalls unter der Regie von Lotz, »mit der Technik moderner Schauspielkunst«42 die lang ersehnte Rolle des Dänenprinzen Hamlet, kurz darauf den Marchbanks in Shaws CANDIDA und die Titelrolle in Schnitzlers ANATOL. Er führt Regie bei Büchners DANTONS TOD sowie bei Sternheims SNOB und verkörpert jeweils die Titelrolle, verantwortet als Regisseur die Uraufführung von Georg Kaisers OKTOBERTAG (und spielt darin den Leutnant Jean Marc Marrien) und die Uraufführung von Hans Henny Jahnns Drama DER ARZT/SEIN WEIB/SEIN SOHN, die er selbst initiiert hatte. Da die Kammerspiele nicht willens sind, das finanzielle Risiko der Produktion zu tragen und das Stück in den regulären Spielplan aufzunehmen, bestreitet Jahnn die Kosten der Privataufführung aus eigenen Mitteln – und erleidet einen existenzgefährdenden Verlust.

Auch wenn Gründgens bereits zu dieser Zeit gerne Werktreue proklamiert (»Man soll die Dichtung sprechen lassen und seine Regie darauf beschränken, alle Mitwirkenden mit dem Geist dieser Dichtung zu durchtränken – was übrigens schon schwer genug ist«43, schreibt er zum Beispiel im Freihafen), scheut er keineswegs korrigierende oder modifizierende Eingriffe in den Text, verzichtet durchaus nicht darauf, Stücke durch Striche und Umstellungen seiner Auffassung anzupassen oder sogar radikale Neufassungen zu erstellen. So bearbeitet er mit Witz und Esprit die Offenbach-Operette DIE SCHÖNE HELENA: Achill tritt als Leichtgewichtsboxer auf, der Seher Calchas als Reklamechef, Gründgens selbst gibt den Paris als Filmstar, »im rosa Crep-Georgette-Anzug, im Silberfrack und kriegerischem Phantasiekostüm als halber Nackedei«44. Die Partitur zu inszenieren, wie er es gerne formuliert, schließt nicht, um im Bild zu bleiben, veränderte Tempi und eine völlig andere Orchestrierung aus. Und wer Gründgens’ Werktreue-Begriff als ahistorisch und als museales Konservieren tradierter szenischer Lösungen begreift, wird bis zuletzt immer wieder von seinem durchaus zeitbezogenen Zugriff überrascht werden, etwa wenn 1957 in Goethes FAUST grell ein Atompilz aufblitzt, nur neun Tage nach der Göttinger Erklärung gegen die Aufrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen.

»Prototyp dekadenter Jünglinge und Neurastheniker, hat er sich aus einer gewissen Einseitigkeit zu einem immer größeren Radius entwickelt – von Palme, dem Ewig-Gekränkten, bis gar zum Hamlet. Das Morbide, Brüchige des modernen Nervenmenschen bekam immer mehr Farbe in seiner technisch von Mal zu Mal reiferen Gestaltung«, rühmt man Gründgens in den Hamburger Nachrichten, als sich dieser Mitte Mai 1928 – natürlich in der Rolle des Hamlet – von der Hansestadt verabschiedet. Man sehe ihn nur »ungern ziehen«. Auch als Regisseur habe er »nicht bloß Sinn für parodistische Einfälle« gezeigt, vielmehr sei »Geist und Geschmackskultur«45 in seinen Inszenierungen zum Ausdruck gekommen. Vor allem von der »gegliederten Sprechkunst des nervösen, springenden Temperaments dieses Hirn- und Nervenmenschen« zeigt sich ein anderer Kritiker angetan. Der Rhythmus der Sprache habe »im Rhythmus des Körpers (in Bewegungen von stärkster Charakteristik) eine schlagkräftige Ergänzung« gehabt. »Alles Spleenige, Blasierte, Satirische, Ironische trifft dieser Skeptiker. […] Gründgens liebte nicht die farbige Breite, sondern den schneidend scharfen Strich: in all seinen Zeichnungen.«46

Insgesamt hatte Gründgens an den Kammerspielen seit 1923 über 70 Rollen übernommen und für mehr als 30 Inszenierungen verantwortlich gezeichnet, Klassiker ebenso auf die Bühne gebracht wie neueste Dramatik uraufgeführt. Daneben hatte er eine ganze Reihe leichter Unterhaltungsstücke inszeniert, für die er mit seinem ausgeprägten Sinn für Tempo und Rhythmus, seiner hohen Musikalität und seinem ironischen Witz ein besonderes Talent hat. Gründgens hat erreicht, was man in Hamburg als junger Schauspieler und Regisseur erreichen kann, und mehr noch: Er ist in Theaterkreisen weit über die Stadt hinaus bekannt und gefragt. Immer wieder waren in den letzten Jahren Angebote etwa der Salzburger Festspiele an ihn herangetragen worden47, hatte ihn sein Berliner Agent auf Vakanzen aufmerksam gemacht, in Dresden ebenso wie in Frankfurt. Otto Mertens, der Gründgens vertritt, gilt seit langem als einer der führenden Künstleragenten und Gastspielvermittler, die renommiertesten Theater wenden sich an den ehemaligen administrativen Leiter der Komischen Oper.

Otto Falckenberg, der Direktor der Münchener Kammerspiele, war bereits im Januar 1928 nach Hamburg gereist, um sich Gründgens anzusehen. Er hatte ihn »ausgezeichnet« gefunden, seine HELENA-Inszenierung allerdings »etwas überklamaukt«, und zeigt sich interessiert daran, den Schauspieler für das in der nächsten Saison vakante Fach des Bonvivants oder auch als Charakterliebhaber zu verpflichten, doch entsetzt angesichts seiner Forderung von 1500 Mark Monatsgage. Allenfalls ein Teilspielzeitvertrag für sechs Monate komme unter diesen Bedingungen in Frage. Da sein Agent ihm dringend zurät – München sei »ein herrliches Sprungbrett für Berlin«48, meint er – gastiert Gründgens für 1200 Mark pro Monat als Regisseur und in der Rolle des Fritz Schwigerling in Frank Wedekinds LIEBESTRANK, ein festes Engagement kommt nicht zustande. Auch Hofrat Franz Herterich, der Direktor des altehrwürdigen Wiener Burgtheaters, hatte eine Vorstellung der SCHÖNEN HELENA im Januar besucht und sogar versuchen wollen, beim »Ministerium einen Antrag [zu] stellen, damit er Ihre Gagenforderung durchdrückt«, so Mertens, der indes nicht verschweigt, daß diese auch in seinen Augen »ein wenig sehr gepfeffert ist«49. Rolf Jahn, der ambitionierte Leiter des Theaters Die Komödie in der Johannesgasse im 1. Wiener Bezirk zeigt ebenfalls Interesse, und natürlich versucht Erich Ziegel, dem Gründgens Anfang März 1928 mitgeteilt hatte, daß er zum Ende der Spielzeit ausscheiden wolle, ihn zu halten – vergebens. Gründgens sucht den Wechsel, den Aufstieg. Zudem verheißt die kommende Saison in Hamburg wenig Sensationelles, sondern bringt erst einmal den Umzug des Ensembles aus den baufälligen Kammerspielen in einen nur 331 Plätze großen Theatersaal im Erdgeschoß der »Kaisergalerie« an den Großen Bleichen mit sich.

Ein angesichts der Gage von 2000 Mark recht lukratives Angebot, das ihn im Juni während seines Münchner Engagements in der nicht sehr behaglichen Pension International an der Von-der-Tann-Straße erreicht, muß Gründgens aus Termingründen absagen: Er soll bei den Salzburger Festspielen im Sommer den Spiegelberg in Schillers RÄUBERN und den Teufel in Hofmannsthals JEDERMANN spielen. Doch im Sommer wird er längst in Berlin sein, bei Max Reinhardt. Bereits 1926 hatte Gründgens bei ihm am Theater in der Josefstadt in Wien gastiert, wenn auch nicht unter seiner Regie50, so aber doch als Partner seiner Geliebten und späteren Ehefrau Helene Thimig – und war als Florindo in Hugo von Hofmannsthals CRISTINAS HEIMREISE von der Kritik arg zerzaust worden: »Bald sieht er alt aus, bald jung; bald ist es um ihn kalt, bald warm; bald gibt er sich männlich, bald feminin; bald ist er anmutig, bald affektiert. Er hat irgendwo Linie und irgendwo Temperament, ist manchmal sehr schmeichelnd, das nächste Mal mehr lockend. Ein beflissener Redner, nicht immer ein Sprecher, dennoch interessant, aber nie packend«51, hatte es geheißen, allenfalls dürfte »seine abnorm feminine Art und seine etwas geckenhaft parfümierte Grazie in einer Posse sehr gut verwendbar sein«52. Und Alfred Polgar hatte knapp und vernichtend konstatiert: »Das Bezaubernde, auf das es ankommt, fehlt ihm.«53 Trotz dieses Mißerfolgs ist Reinhardts Interesse an Gründgens keineswegs erloschen. Seine Mitarbeiterin Gustl A. Mayer hatte bereits im Oktober 1926 in der Konditorei Rumpelmayer am Kurfürstendamm mit Gründgens über ein Engagement nach Berlin verhandelt – damals noch ohne konkretes Ergebnis. Doch Gründgens weiß, wie wichtig der große Sprung in das mondäne, pulsierende Berlin, die unangefochtene Theatermetropole, ist.

Dort kämpfen allabendlich rund 50 Bühnen, zu denen drei Opernhäuser mit zusammen über 6000 Plätzen sowie mehr als 30 Schauspielbühnen mit eigenem Ensemble gehören, um die Besucher, die meisten davon mit einer Zuschauerkapazität zwischen 700 und 1100 Sitzen, dazu große Varietés und über 70 Cabaret- und Kleinkunstbühnen. Im allabendlichen Wetteifer um die Gunst des Publikums, dessen soziale Struktur sich seit dem Krieg deutlich verändert hat, zeigt man nicht mehr so häufig Klassiker wie einst, die von vielen Zuschauern als überkommenes Bildungstheater abgelehnt werden, sondern befriedigt den Wunsch nach Konversations- und Gesellschaftsstücken, gibt moderne Komödien und Revuen. Zeitkritische Dramen und spektakuläre Nacktrevuen konkurrieren mit multimedial inszenierten Agitprop-Stücken und der wiederbelebten Operette. Wer als Schauspieler, Regisseur oder Autor in Berlin reüssiert, dem winkt wie nirgendwo anders die Chance, über Nacht Berühmtheit zu erlangen, dem steht eine glänzende Karriere bevor. Doch Berlin, »das immer noch die echten Begabungen wittert, ›macht‹ sie ebenso schnell, wie es sie abnutzt«54, so Herbert Ihering. Die neben dem Staatstheater renommiertesten Bühnen sind jene des seit langem schon als »Theatermagier« legendären Max Reinhardt, der zwar nicht mehr das Gesicht des deutschen Theaters prägt wie einst, dessen Nimbus aber ungebrochen ist – also läßt sich Gründgens auf dessen Bedingungen ein: Reinhardt hatte bereits 1926 seinen Austritt aus dem Deutschen Bühnenverein erklärt55, muß also keinen »Normalvertrag« ausstellen, und so erhält Gründgens – zunächst – kein fixes monatliches Einkommen wie bisher, sondern Probengeld in Höhe von 25 Mark am Tag und eine Abendgage von 40 Mark.56 Einerlei, Berlin ist verheißungsvoll und der Ruhm lockt …

9. Parfümierte Nebenkünste

»Nichts nützte mir meine fachliche Bewährung: es ging nicht weiter, es fing von vorn an. Nichtssagende Rollen, unwichtige Inszenierungen: nach dem Abitur zurück in die Sexta.« Diese mit einer gewissen Koketterie nach den ersten vier Jahren in Berlin formulierte Selbsteinschätzung Gründgens’ stimmt nur bedingt. Schon seine dritte Rolle macht ihn im Herbst 1928 quasi über Nacht bekannt. Dennoch hat er nicht unrecht, wenn er 1932 konstatiert, daß er »nach Hamlet und Mephisto« jetzt »fade Lebemänner in dummen Stücken« zu spielen bekommen habe und als Regisseur »nach Shakespeare und Büchner, Wedekind und Jahnn« nun »Maugham und Lonsdale als bedeutendste Autoren«1. Erfolge an Provinzbühnen – und dazu gehören selbst die renommierten Hamburger Kammerspiele – zählen hier wenig, die Meriten müssen in der Reichshauptstadt erworben werden. Doch anders als in Hamburg, wo Kritiker Gründgens gerühmt hatten, sein Können sei »nicht rollenmäßig zu umschreiben«2, neigt man in Berlin angesichts der hohen Zahl konkurrierender Bühnen dazu, nicht die darstellerische Vielseitigkeit eines Schauspielers zu fördern, sondern eine einmal erfolgreich erprobte Rolle zu variieren. Ein »Spezialist für Ohrfeigengesichter mit Monokel«3 sei Gründgens, meint der Kritiker Monty Jacobs.

Seinen ersten Auftritt hat Gründgens nach nur vier Probentagen am 8. Juli 1928 im 1400 Zuschauer fassenden Berliner Theater in der Charlottenstraße, das mit dem Deutschen Theater in der Schumannstraße, dem wichtigsten Haus der Reinhardt-Bühnen, sowie den benachbarten Kammerspielen und der 1924 erbauten, am Kurfürstendamm gelegenen Komödie seit diesem Jahr zum Theaterkonzern Reinhardts gehört. Im publikumswirksamen Gerichtsdrama DER PROZEß MARY DUGAN des Amerikaners Bayard Veiller spielt Gründgens die wesentliche Rolle des Strafverteidiger Edward West: Die Tänzerin Mary Dugan, dargestellt von Lucie Mannheim, ist des Mordes an dem vermögenden Edgar Rice angeklagt, doch ihr Bruder kann aufdecken, daß ihr Geliebter West der Täter ist. Die Inszenierung Heinz Hilperts war bereits im Mai herausgekommen, Gründgens übernimmt die Rolle von Paul Otto – selbstverständlich kein Anlaß für die Berliner Großkritiker, die Aufführung erneut zu rezensieren. Ab 1. September wird die Produktion vorübergehend im Residenztheater in der Blumenstraße 9 gezeigt (die Redewendung »Ach du grüne Neune« soll von der grün angestrichenen Fassade des Theaters, in dem früher »Halbwelt-Dramen« gespielt wurden, herrühren), dann übersiedelt sie zurück ins Berliner Theater. Dort ist ab 6. September auch Tolstois LEBENDER LEICHNAM zu sehen, inszeniert von Reinhardt selbst. Der Fedja ist eine der Glanzrollen des Starschauspielers Alexander Moissi, Helene Thimig gibt die Lisa, Gründgens die kleine Rolle des Lebemanns Afremow – dessen Lakai neun Jahre zuvor die erste Rolle des Schauspielschülers gewesen war. Doch wieder wird er von der Kritik kaum beachtet, Monty Jacobs immerhin meint, er habe »das schärfste Profil der Nebengestalten«4. Im Juni 1929 wird Gründgens den Afremow auch am Münchner Residenztheater spielen, dann neben dem Münchner Publikumsliebling Gustav Waldau als Fedja.

Mit seiner dritten Rolle jedoch erregt Gründgens Aufsehen. Am 23. Oktober 1928 hat am Deutschen Theater Ferdinand Bruckners Justizanklage DIE VERBRECHER Premiere, die Reizthemen wie Abtreibung, Homosexualität und Todesstrafe diskutiert: Frau von Wieg hat ihr zur Obhut überlassenen Schmuck veruntreut. Die Köchin Ernestine Puschek ermordet aus Eifersucht die Gastwirtin Karla Kudelka und lenkt den Verdacht auf ihren Freund, den Kellner Gustav Tunichtgut, der daraufhin unschuldig zum Tode verurteilt wird. Josef Berlessen mißbraucht seine Dienstmädchen, sein Bruder Frank schwört aus Angst vor dem Paragraphen 175 vor Gericht einen Meineid. Die Sekretärin Olga Nagerle tötet ihr Kind, das sie aus Geldmangel nicht ernähren kann. Aus Not begangene Delikte werden von der Klassenjustiz mit harten Strafen geahndet, während Kapitalverbrechen ungesühnt bleiben. Die reaktionäre Judikative ist zum Sinnbild des Unrechts verkommen. Bühnentechnisch ist die sozialkritische Zeitdiagnose richtungweisend durch die Wiederentdeckung der Simultanbühne: Den Bühnenraum – im ersten und dritten Akt ein dreistöckiges Mietshaus mit einer Kaschemme im Erdgeschoß und darüber sieben Zimmern, im zweiten Akt ein Gerichtsgebäude mit vier Verhandlungsräumen – hat Rochus Gliese entworfen, der kurz darauf für seine Ausstattung von Friedrich Wilhelm Murnaus Film SUNRISE für einen Oscar nominiert werden wird, assistiert von dem ebenfalls filmerfahrenen Edgar Georg Ulmer, der sich in Hollywood erfolgreich als Regisseur von B-Movies etablieren wird. Er erlaubt nicht nur ein simultanes Nebeneinander von Schauplätzen, Figuren und Handlungen, sondern ein beinahe filmisches Auf- und Abblenden der einzelnen Szenen.

Gustaf Gründgens spielt, »unheimlich echt in der pervers bunten Seidenjacke«5, die Rolle des homosexuellen Ottfried von Wieg, eines zynischen Erpressers und aalglatten Verführers junger Männer. Neben ihm stehen profilierte Darsteller wie Ilka Grüning, Lucie Höflich und Maria Fein, Erhard Siedel und Mathias Wieman auf der Bühne; mit der Rolle des Kellners Tunichtgut kann sich der bislang als Stummfilm- und Revueschauspieler hervorgetretene Hans Albers als ernstzunehmender Künstler etablieren. Heinz Hilpert rückt mit dieser Produktion endgültig in die erste Reihe der Regisseure vor, bis Mitte Februar 1929 wird seine Inszenierung 111mal gezeigt. Gründgens wird »mit seiner eleganten Verworfenheit«6, »kalt, niedrig, seelenlos«7, schlagartig bekannt, das Berliner Tageblatt rühmt seine »eisige Flapsigkeit«8. Vom 18. April 1929 an gibt er den Ottfried auch am Theater in der Josefstadt in Wien, dort unter der Regie von Emil Geyer und mit Attila Hörbiger als Tunichtgut. Gründgens spielt die morbide Rolle, die, wie er findet, »im fatalsten Gegensatz« zu seiner »persönlichen Situation«9 steht, jedoch höchst ungern, fürchtet sich vor der Identifikation mit der Figur. »Sie gab ein Bild von mir, und ich bin manchmal ganz verblüfft, wie wenig das Bild, das man von mir hat, mit dem Bild, das ich von mir habe, zusammenpaßt.«10 Er will eine Rolle spielen, also ein anderer sein, und sich doch in ihr finden – oder vielmehr das Idealbild von sich, das er anstrebt …

In der Tat wird Gründgens aufgrund dieses durchschlagenden Erfolgs rasch auf einen bestimmten Typus festgelegt; schillernde, intrigante Charaktere scheinen für ihn wie geschaffen. 1932 schreibt Herbert Ihering über ihn, er sei »der kälteste unbürgerlichste Darsteller der deutschen Bühne, dessen geistiger Zynismus gestaltend und formbildend geworden ist«11. Dabei sucht Gründgens eigentlich zu gefallen, will geliebt werden, in seinen Rollen schön und begehrenswert wirken – und hält sich, obschon er mit 1,79 Meter Körpergröße12, dem klassischen Profil und seinem auf charmante Weise leicht schielenden »Juwelenblick«13 gar nicht unattraktiv ist, »ein Leben lang für häßlich«, so später einmal sein Psychiater, der dies als »negative Form des Narzißmus«14 diagnostiziert. Doch nun wird Gustaf Gründgens auf der Bühne, vor allem aber im Film vorzugsweise für affektierte Hochstapler und dubiose Elegants genutzt, macht Furore als skrupelloser, aasiger Schurke und moralisch gefährdeter Neurotiker. Der Schauspieler Gründgens, der den metallischen Ton seiner Stimme in ein weiches Gurren umschlagen lassen, zwischen scharf rhythmisierter, prononcierter Diktion und einer sanften Melodik von gefährlichem wie gefährdetem Charme wechseln kann, interessiert in diesen Rollen, er fasziniert – aber er bezaubert nicht.

Vielleicht ist Gründgens in den Augen mancher Produzenten auch durch sein Privatleben für solche Parte prädestiniert. Das in Hamburg noch mit einem Hauch von Selbstironie erprobte Image des blasierten Monokelträgers kultiviert er nun im großen Stil zu dem eines Weltmannes mit leicht dekadentem Einschlag15, verkehrt in den mondänsten Nachtlokalen und mit der jeunesse dorée Berlins. Ist er in späteren Jahren nicht nur bemüht, seine Sexualität hinter einer Maske aus Diskretion und Disziplin zu verbergen, sondern geradezu »prüde und in einem ungewöhnlichen Maße schamhaftig«16, wie sein Psychiater meint, so lebt er Ende der 20er Jahre seinen Narzißmus und seine weibliche Seite recht offen aus.

Schon kurz nach seinem Erfolg in den VERBRECHERN freundet er sich mit dem zwei Jahre jüngeren Bankierssohn Francesco von Mendelssohn17 an, einem Nachfahren des Philosophen Moses Mendelssohn, Cellisten von internationalem Rang und später mäßig erfolgreichen Regisseur, der vor allem ein flamboyanter Paradiesvogel und der wohl exzentrischste glamorous boy der Weimarer Republik ist. »Cesco«, wie ihn alle nennen, rast in seinem Cabriolet mit hermelinbezogenen Sitzen durch Berlin, flaniert im kanariengelben Seidenschlafrock über den Kurfürstendamm oder läßt auf einem der großen Bälle Berlins seinen Pelzmantel fallen und ist darunter splitterfasernackt. Mit ihm streift Gründgens durch die Bars und Tanzlokale der schwulen Subkultur, durch ihn lernt er auch internationale Berühmtheiten kennen wie den weltweit als Nachfolger Rudolph Valentinos gefeierten Filmschauspieler Ramón Novarro, der im Frühjahr 1929 Berlin besucht. Der gebürtige Mexikaner ist mit einer Wochengage von 10000 Dollar einer der bestbezahlten Stummfilmstars in Hollywood, populär als Titelheld des 1926 gedrehten BEN-HUR – eine der zahlreichen Rollen, die dem muskulösen und doch androgyn wirkenden Latin Lover die Gelegenheit geboten hatten, halbnackt vor der Kamera zu agieren. »Wir sind viel herumgezogen in Berlin«, wird sich Mendelssohn an diese Zeit mit Gründgens erinnern, der »damals noch ein großer Ausgeher« gewesen sei: »Er konnte nachts aufbleiben bis in die Morgendämmerung. […] Er war ungeheuer vital und brauchte […] sehr wenig Schlaf.«18


Um 1930

© Scherl / Süddeutsche Zeitung

In Berlin leben Ende der 20er Jahre über 350000 Homosexuelle, rund 150 schwule Bars und Cafés werden trotz des Paragraphen 175 von der Polizei toleriert. Im vornehmen Westen, entlang der Bülowstraße vor allem, um den Nollendorfplatz herum und in den Seitenstraßen des oberen Kurfürstendamms, zelebriert man in luxuriösen Bars das Ideal des Androgynen; im Zentrum und im Norden der Stadt befinden sich eher billige Dielen und kleine Kaschemmen. Zeitschriften für Homosexuelle bewerben und rezensieren die nächtlichen Auftritte von Schauspielern wie Ludwig Trautmann, Georg Alexander oder Conrad Veidt. Im Mikado tanzen die Transvestiten zu Tango-Musik, in der Schnurrbartdiele treffen sich Familienväter zum Stelldichein. Das Florida veranstaltet Matrosenbälle und Strandfeste: »entsprechende Kleidung erwünscht!«19 Von der Eröffnung 1929 an frequentiert Gründgens – wie Francesco von Mendelssohn und Klaus Mann – am liebsten die Jockey-Bar in der Lutherstraße 2 (der heutigen Keithstraße 17). Dort spielt der Pianist Ernst Engel Jazz und mischt manchmal Bach-Fugen und Mozart-Sonaten unter, und zeitweise tritt zweimal pro Woche der finanziell gerade etwas klamme Enkel des 15. Earl of Pembroke auf, David Herbert. Zusammen mit einem jungen Mann namens Hans singt der knapp 20jährige Dandy in einer ausgeliehenen Matrosenuniform Schlager wie IN EINER KLEINEN KONDITOREI und unterhält damit die eng beieinandersitzenden, an kleinen Tischen speisenden Gäste, zu denen auch viele ausschließlich an Frauen interessierte Prominente wie Erich Kästner, Max Liebermann und Erich Maria Remarque zählen. In Künstler- und Intellektuellenkreisen gilt es als in, sich in solchen Lokalen sehen zu lassen. Der Durchschnittsbürger hingegen pflegt weiterhin seine Ressentiments, obschon es um 1930 beinahe ein Muß für aufgeschlossene heterosexuelle Touristen aus der Provinz ist, »lasterhafte« Etablissements wie das Eldorado aufzusuchen, wo nur mit Schamgurten bekleidete Revuetänzer das elegante Publikum animieren, und das Reiseunternehmen Cook sogar spezielle Fahrten durch das schwule Berlin anbietet. In anderen Lokalen bleibt man eher unter sich, etwa im Pan-Palais am Schiffbauerdamm, einem Tanzpalast, der damit wirbt, »das größte individuelle Herrenpalais der Welt« zu sein, 50 Tischtelephone und ein Tanzorchester bietet, eine »original amerikanische Sodafontäne«20 und »streng solide Preise: Kaffee, Liköre, Biere 60 Pfennig«21. Zur Eröffnung 1931 erscheint Gustaf Gründgens im Smoking, begleitet von seinem sieben Jahre jüngeren Freund Charlie Forcht22 im Abendkleid, doch am liebsten verkehren die beiden in der Silhouette, einem verrauchten, von roten japanischen Papierlaternen erleuchteten Tanzlokal in der Geisbergstraße 24, an dessen Bar parfümierte Jünglinge in Frauenkleidern sitzen, in dem aber auch Stars wie Anita Berber und Conrad Veidt anzutreffen sind.

Zu diesem Zeitpunkt ist Gründgens längst ein Prominenter geworden, sein Aufstieg hat sich mit rasender Geschwindigkeit vollzogen. Er gilt als »elegante Verfallserscheinung, stets das Monokel im Auge, Komiker von manchen Graden«23, die großen klassischen Bühnenrollen indes bleiben ihm bei Reinhardt fast völlig versagt: 1929 spielt er im Rahmen von »Reinhardt-Festspielen« den St. Just in Büchners DANTONS TOD achtmal im Arkadenhof des Wiener Rathauses und sechsmal im Münchner Prinzregententheater, 1930 an den Kammerspielen in Berlin 20mal den Orest in Goethes IPHIGENIE AUF TAURIS, inszeniert von dem Dichter Richard Beer-Hofmann mit Helene Thimig in der Titelrolle. »Hier wird ein Gesellschaftsmensch Mensch«, lobt Alfred Kerr den »sonst monokelhaltigen Schauspieler« Gründgens. »Hier wird eine Jambengestalt ein Sohn und Bruder.«24 Immerhin 49mal gibt er im Herbst 1931 am Deutschen Theater den Hofmarschall von Kalb in Schillers KABALE UND LIEBE, entgegen der Tradition nicht als vertrottelten Höfling, sondern als amüsierwilligen Lebemann, auf den eifersüchtig zu sein Ferdinand allen Grund hat. Geradezu zum Mittelpunkt seiner Arbeit werden die leichten Gesellschaftskomödien, wie sie der Engländer William Somerset Maugham schreibt, mit seinen dramatischen Kaminplaudereien Ende der 20er Jahre der meistinszenierte britische Autor in Deutschland: Gründgens’ erste Regieaufgabe bei Reinhardt gilt dem Dreiakter WANN KOMMST DU WIEDER?, der ab 15. März 1929 in der 469 Zuschauer fassenden Komödie gezeigt wird. So banal die Handlung ist (eine Ehefrau gewinnt ihren Gatten, der sie mit ihrer Freundin hintergeht, zurück, indem sie ihn eifersüchtig macht), so prominent ist die Besetzung mit dem hübschen Publikums- und Kritikerliebling Grete Mosheim und mit Adele Sandrock, einst von Arthur Schnitzler geliebter Star der Wiener Moderne, nun die populärste komische Alte auf Berliner Bühnen, mit dem strahlenden Johannes Riemann, dem imposanten Jakob Tiedtke und dem wegen seiner überstürzten Sprechweise vom Publikum liebevoll »Blubberer« genannten Otto Wallburg. An der Wiener Josefstadt spielt Gründgens den Paxton in den OBEREN ZEHNTAUSEND (der Flirt einer jungen Amerikanerin mit einem englischen Lord wird durch ihren Exverlobten gestört), am Münchner Residenztheater und später an der Komödie in Berlin unter Reinhardts Regie den Frederick im mondänen Lustspiel VIKTORIA (eine frivole junge Frau heiratet den besten Freund ihres als gefallen gemeldeten Mannes, der jedoch aus dem Krieg zurückkehrt), besetzt mit Lili Darvas, Hermann Thimig und Richard Romanowsky25. »Ein vierter kommt zu dem Trio der Prominenten hinzu und ist in der Drastik des rutschenden Clowns eher Meyerinck-Ersatz26 als Nachfolger von Curt Goetz, dessen Lustspielrolle er hat, der zweite Gatte, Gründgens.«27

Auch neben Maugham dominieren die Autoren der leichten Muse. 1928 tritt Gründgens in einer einmaligen Silvestervorstellung des Lustspiels IM WEIßEN RÖSSL, das bald darauf als Operette seinen Siegeszug um die Welt antreten wird, als Dr. Siedler auf und steht darin – neun Tage, bevor seine Ehe mit Erika Mann geschieden wird – erstmals mit der 19jährigen Marianne Hoppe, seiner späteren Frau, auf der Bühne. Auch in Shakespeares LUSTIGEN WEIBERN VON WINDSOR, die Heinz Hilpert im Februar 1929 inszeniert, sind beide besetzt, Gründgens als Falstaffs Saufkumpan Pistol, Marianne Hoppe als Jungfer Anna Page. Doch noch kommt es zu keiner engeren Bekanntschaft, auch Ende März 1930 nicht, als Marianne Hoppe in der Gründgens-Inszenierung von André Antoines Komödie DIE LIEBE FEINDIN Erika Mann (auf deren Empfehlung hin!) in der Rolle des jungen Mädchens ersetzt. Daß Erika Mann abermals einen gültigen Vertrag bricht – sie vertraut darauf, daß der Nobelpreisträger Thomas Mann das mit dem »Professor«, wie man Reinhardt nennt, schon regelt –, trägt zur endgültigen Entfremdung des Ex-Ehepaares bei.

Wie zuvor in Hamburg übernimmt Gründgens von nun an auch in Berlin oftmals in seinen eigenen Inszenierungen die Hauptrolle. Als sich 1930 in einer Enquête Schauspieler über ihre Arbeit mit Regisseuren äußern, schreibt Fritz Kortner über Leopold Jeßner, Heinrich George über Jürgen Fehling, Eugen Klöpfer über Karl Heinz Martin – und Gustaf Gründgens über Gustaf Gründgens: »Zunächst ist er der Regisseur, mit dem ich am reibungslosesten arbeite, es gibt zwischen uns keine Meinungsverschiedenheiten. Probleme werden nicht erörtert, Auffassungen nicht diskutiert, und Zwistigkeiten weiß er sowieso auf das geschickteste zu vermeiden. […] Ein Fanatiker der Präzision, ist er ein geschworener Feind alles Zufälligen, Unklaren und Unkontrollierbaren. Der Zuschauer soll verstehen, was der Schauspieler sagt. Der Schauspieler soll verstehen, was der Dichter sagt, und der Dichter soll verstehen, was er selber sagt.«28 Gründgens führt im August 1929 in den Kammerspielen bei Paul Géraldys und Robert Spitzers belangloser Komödie DER UNWIDERSTEHLICHE Regie und spielt darin, »sehr frisch, sehr echt in den tausend komischen Nervositäten«29, den zwischen Frau und Freundin hin- und herhetzenden Ehemann Fernand Jolivet. Neben ihm stehen unter anderem Harald Paulsen in der Titelrolle und Grete Mosheim auf der Bühne, Elinor Büller, kurz darauf für acht Jahre die Lebensgefährtin Gottfried Benns, und Anni Mewes, die einstige Freundin Rainer Maria Rilkes und spätere Lebensgefährtin Marianne Hoppes. In Frederick Lonsdales Lustspiel ZUR GEFÄLLIGEN ANSICHT läßt eine reiche Frau zwei Heiratskandidaten sozusagen zur Ansicht auf ihr Schloß kommen; Gründgens gibt in eigener Regie einen der beiden, den spleenig-egoistischen Herzog von Bristol, mit einem »Zug von penetranter Intelligenz und feminialer Schnoddrigkeit«. Das harmlose Stück, so ein Kritiker, »rutscht gewissermaßen hemmungslos durch die Hirnlappen«30 und erntet nur mäßigen Beifall.

Größere Aufmerksamkeit, ja den eigentlichen Durchbruch als Regisseur erlangt er indes mit seiner spektakulären, die ganze Tiefe des Bühnenraums und die Mechanik der Drehbühne ausnutzenden Inszenierung von Vicki Baums MENSCHEN IM HOTEL, die am 16. Januar 1930 als Gastspiel der Reinhardt-Bühnen im Theater am Nollendorfplatz Premiere hat, bis vor eineinhalb Jahren noch der Schauplatz von Erwin Piscators Agitprop-Theater. Vicki Baums Mischung aus Melodrama, Romanze und Kriminalroman trifft den Nerv der Zeit. Im Jahr zuvor war der bis heute populärste ihrer insgesamt mehr als 30 Romane zunächst als wöchentliche Fortsetzung in der Berliner Illustrirten Zeitung, dann als Buch erschienen. Die durch Gründgens uraufgeführte Bühnenfassung füllt in Berlin 70mal en suite das 1100 Zuschauer fassende Haus, wird an über 120 weiteren Bühnen inszeniert werden und allein am Broadway 459 Vorstellungen lang laufen, die Hollywood-Verfilmung unter dem Titel GRAND HOTEL, besetzt mit Stars wie Greta Garbo und Joan Crawford, 1932 fast eine Million Dollar Gewinn einbringen. In Berlin stehen keine großen Stars auf der Bühne, doch immerhin arrivierte Darsteller: Die schöne Sybille Binder gibt die spätere Garbo-Rolle der alternden Ballettänzerin Gruminskaja, der charmante Komödiant Oskar Karlweis den verarmten Baron von Gaigern, einen Fassadenkletterer und Trickbetrüger. Auch drei einstige Mitschüler an der Hochschule für Bühnenkunst hat Gründgens besetzt: In der stummen Rolle eines Spielers wird, wie erwähnt, Hanns Böhmer geduldet, Paul Kemp stellt den todkranken Angestellten Kringelein dar, der beschlossen hat, bis zu seinem nahen Ende ein luxuriöses Leben zu genießen, Margarete Koeppke spielt die Sekretärin Christine Flamm, »Flämmchen« genannt; noch im selben Jahr wird sich die Lebensgefährtin von Lina Loos gerade einmal 28jährig in Wien das Leben nehmen.

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