Der Tote in der Hochzeitstorte

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Der Tote in der Hochzeitstorte
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Thomas Brezina:

Knickerbocker-Bande 4immer

Der Tote in der Hochzeitstorte

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Pablo Tambuscio

Satz: Lucas Reisigl

ISBN 978-3-99001-443-1

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

PLÄNE

Es war alles genau geplant.

Die Hochzeit.

Das Geständnis und die Enthüllung.

Der Mord.

Aber wie heißt es so schön?

Erstens kommt es anders,

zweitens als man denkt.

MONTAG 9. NOVEMBER

DER TERMIN

Poppi musste sich setzen.

»Wann wollt ihr heiraten?«

»Am 21. November.«

Pause.

»Lilo, kein Mensch heiratet am 21. November.«

»Wir schon.«

Pause.

»Mein Geburtstermin ist für den 6. Dezember berechnet. Eure Hochzeit wäre nur eine Woche davor.«

»Zwei Wochen.«

»Aber das Baby könnte früher kommen.«

»Das Baby hat sicher Einsehen und will eher später als früher zur Welt kommen. Du wirst meine Trauzeugin sein, Poppi, da fährt die Eisenbahn darüber.«

Wie konnte Poppi Lilo nur zur Vernunft bringen? Wieder entstand eine Pause am Telefon und Lilo machte sich keine Mühe, sie mit Worten zu füllen.

»Lilo, ich sehe jetzt bereits aus wie ein Osterei auf Beinen. Zwei Wochen vor der Geburt werde ich nur noch Bauch sein und sonst nichts. In mein blaues Kleid, das ich mir für die Hochzeit gekauft habe, passe ich ohnehin nicht hinein. Ich müsste Jogginghosen anziehen oder ein Zelt.«

»Alles kein Problem. Du wirst trotzdem wunderschön sein.«

Poppi hatte ihre Freundin in den vielen Jahren schon einige Male stur erlebt. So starrsinnig aber war sie noch nie gewesen.

»Es wird nebelig auf dem Berg sein und kalt«, gab sie zu bedenken.

»Wir halten uns ohnehin nur im Hotel auf. Um diese Jahreszeit sind dort keine Gäste und wir haben es für uns allein.«

»Es ist also dein voller Ernst und ich werde dich nicht davon abbringen können?«

»Genau so ist es. Wir haben die Hochzeit vom Frühjahr in den Sommer verschieben müssen und dann in den Frühling des nächsten Jahres. Aber ich will einfach nicht so lange warten.«

»Die Absage im Frühling war Pech«, gestand Poppi ein. »Aber ihr wart nicht die Einzigen. Wegen der Corona-Krise mussten viele Hochzeiten verschoben werden.«

»Poppi, spare dir deine Kräfte. Mein Entschluss steht fest. Und du weißt, wieso wir nicht im Sommer geheiratet haben.«

Ja, das wusste Poppi genau. Die ersten fünf Monate ihrer Schwangerschaft waren nicht einfach verlaufen. Sie hatte viel Zeit im Bett verbracht, weil die Ärztin ihr strikte Schonung verschrieben hatte.

Poppi hatte die Hoffnung, schwanger zu werden, schon vor Jahren aufgegeben. Deshalb war die Vorfreude auf ihr Kind jetzt umso größer. Die Blutungen in den ersten Schwangerschaftswochen hatten ihr Sorgen bereitet und so hatte sie alle Anweisungen der Ärztin ohne Widerspruch befolgt.

Poppis Geburtstermin rückte näher und näher. Außer Kreuzschmerzen und geschwollenen Beinen hatte sie aber glücklicherweise keine weiteren Beschwerden gehabt. Die Gynäkologin war sehr zufrieden und Poppi musste schon lange nicht mehr das Bett hüten.

Lilos Ankündigung der Hochzeit war völlig überraschend gekommen. Poppi hatte sich gerade einen Kräutertee zubereitet, den ihr die Gynäkologin empfohlen hatte, als ihr Handy klingelte und sie Lilos Stimme hörte.

»Habt ihr über diese Vorverlegung schon länger nachgedacht?«, wollte Poppi wissen.

»Axel weiß nichts davon. Ich sage es ihm, wenn er zurückkommt. Er hat Fußballtraining mit seinem Spezial-Team.«

Poppi atmete tief durch. »Und was ist, wenn Axel den Termin gar nicht vorverlegen will?«

»Ihm ist alles recht. Das weiß ich. Ihm ist nur wichtig, dass ihr dabei seid und Dominik sein Trauzeuge ist. Aber sonst ist er kein Mann von großen Feiern. Du kennst ihn.«

Ja, Poppi kannte Axel seit Kindheitstagen. Nach der Schule waren sie getrennte Wege gegangen und hatten erst als Erwachsene vor dreieinhalb Jahren wieder zusammengefunden. Seit ihrer Wiedervereinigung aber war die Knickerbocker-Bande, wie sie seit der Schulzeit genannt worden war, mindestens so verbunden wie früher. Sie hatten auch zwei neue Fälle gelöst. Bei einem hätte Dominik fast sein Leben verloren. Aus einem Treffen in London waren die schlimmsten Stunden geworden, die sie sich vorstellen konnten. Das lag nun auch schon wieder fast 18 Monate zurück. Danach hatten sie einander nur per Skype gehört und gesehen.

Es gab für Poppi eine letzte Hoffnung. »Dominik kann sicher nicht so kurzfristig kommen.« Er spielte in einer neuen TV-Serie, die in Toronto gedreht wurde und hatte damit riesigen Erfolg. Seine Rolle war ausgebaut worden und seine Drehtage verdoppelt, wie er beim letzten Skype-Treffen stolz verkündet hatte.

»Ich habe ihn gleich als Ersten angerufen. Er hat rund um dieses Datum zehn Tage drehfrei und freut sich sehr, nach Österreich zu kommen«, entgegnete Lilo.

Poppi sank in sich zusammen. Die Hochzeit Ende November hoch oben in den Tiroler Bergen war also eine ausgemachte Sache.

Lilo hatte bereits Zimmer und ein Hochzeitsessen in einem Hotel gebucht. »Es heißt Alpenschlössel und ich schlage vor, alle reisen individuell an. Das ist einfacher. Ich habe in zehn Minuten ein Gespräch mit Veronika Wunderer vereinbart, der Besitzerin, um die Details für die Hochzeit abzustimmen.«

»Also gut, dann bis zum 21. November.« Poppi klang mehr geschlagen als begeistert.

»Anreise eher schon am 19. Oder spätestens am 20. November«, erklärte Lilo. »Abreise frühestens Sonntag, den 22., am Nachmittag. Ihr werdet doch alle zum Feiern bleiben. Wird Zeit, dass die Bande endlich wieder einmal zusammen ist.«

»Wenn Klaus zum Wochenenddienst eingeteilt ist, wird er nicht mitkommen können.«

»Eure Hunde- und Katzenpatienten können doch ein Wochenende von euren Tierarzt-Kollegen versorgt werden«, brauste Lilo auf.

»So einfach ist das nicht, und außerdem …«

Weiter kam Poppi nicht. Lilo verabschiedete sich hastig, weil sie einen anderen Anruf bekam, den sie annehmen musste.

»Blödes Corona«, brummte Poppi nach dem Auflegen. Es gab Momente, da tat ihr das Baby fast leid. In welche Welt wurde es da hineingeboren? Sie rieb sich kreisförmig über den prallen Bauch. »Keine Sorge, wir werden dir alles geben, damit du ein glücklicher Mensch wirst. So schlimm ist die Welt gar nicht. Du wirst schon sehen.«

Das Aufstehen vom Hocker war für die hochschwangere Poppi eine Anstrengung. In dem leicht watschelnden Gang, mit dem sie sich seit einiger Zeit fortbewegte, ging sie in ihr Arbeitszimmer und setzte sich an den Laptop. Was konnte Lilo bewogen haben, in zwei Wochen zu heiraten?

Poppi googelte Hinweise auf einen Neuausbruch des Coronavirus. Es gab Gerüchte und neue Verschwörungstheorien, Berichte über eine neue Behandlungsmethode, aber keine akute Warnung oder Meldung. Sie konnte sich auch täuschen, aber irgendwie wurde Poppi das Gefühl nicht los, Lilo hatte ihr etwas verschwiegen. Es musste einen Grund für die plötzliche Hochzeit geben. Aber welcher könnte das sein? Hatte Lilo auf einmal die Angst überkommen, Axel könnte sie verlassen?

Nein, das war nicht möglich. Nach Lilos Erzählungen in den letzten Gesprächen wirkte ihre Beziehung sehr solide und harmonisch.

Vielleicht war es einfach nur Lilos Dickkopf, dachte Poppi. Wenn sie sich etwas einbildete, musste es geschehen. So war das immer schon gewesen. Als Erwachsene war es bei Lilo nur noch schlimmer geworden.

DIE E-MAIL

Von: Dominik Kascha

An: Lilo Schroll, Axel Klingmeier, Poppi Reder

Betreff: Hochzeit

Hallo ihr drei,

hier meldet sich Nummer vier.

Die frohe Kunde der bevorstehenden Hochzeit ist bis nach Kanada gedrungen. Was für eine Überraschung. Allerdings halte ich Lilos Idee für nachvollziehbar. Besser jetzt, als dann im Frühling nächsten Jahres womöglich wieder nicht.

Der Termin trifft sich wunderbar mit meiner Drehpause. Es ist mir eine Ehre, Axels Trauzeuge zu sein und ich würde niemals auf diese Auszeichnung verzichten.

Es rührt mich sehr, wenn ich überlege, wie lange es gedauert hat, bis Lilo und Axel endlich erkannt haben, was viele andere immer schon gewusst hatten. Doch wie heißt es so schön: Gut Ding braucht Weile.

Es ist schon wieder so viel Zeit vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Die Rolle im neuen James Bond habe ich damals nicht bekommen, aber der Caspar Jones in Fools Unlimited ist mir ohnehin lieber. Es wurde schon eine zweite und eine dritte Staffel in Auftrag gegeben. Das bedeutet, ich werde die nächsten beiden Jahre in Toronto verbringen.

Viel hat sich in meinem Leben getan. Ich wollte euch manchmal darüber bei unseren Skype-Treffen erzählen, aber nie erschien mir der Moment richtig.

Darum freue ich mich so sehr auf das Wiedersehen. Meine Neuigkeiten möchte ich euch mitteilen, wenn wir einander von Angesicht zu Angesicht gegenübersitzen. Vorweg: Eine Hochzeit ist auch für mich in greifbare Nähe gerückt und Nachwuchs gibt es auch.

Außerdem wird es Zeit, dass ich …

Dominik nahm die Hände von der Tastatur des Laptops, lehnte sich im Sessel zurück und blickte zur Decke.

 

Es wurde an die Tür seines Trailers geklopft.

»Ja, was gibt’s?«, fragte er.

»In zehn Minuten Szene 010947«, rief die Set-Runnerin von draußen. Ihre Aufgabe war es, die verschiedenen Schauspielerinnen und Schauspieler rechtzeitig ins Studio zu bekommen, was mit dem Hüten eines Sackes voller Flöhe zu vergleichen war.

»Komme gleich!«, rief Dominik. Er überflog die E-Mail und verzog das Gesicht. Axel würde seine Ausdrucksweise wieder als »kariertes Quatschen« bezeichnen. Außerdem würden Dominiks Andeutungen bestimmt zahlreiche Anrufe und E-Mails der neugierigen Poppi zur Folge haben. Wollte er jetzt schon mehr verraten?

Pflichtbewusst griff Dominik nach seinem iPad, öffnete es und tippte auf das Manuskript, das er in einer speziellen App für Serienschauspieler gespeichert hatte. Er gab die Szenennummer ein und sofort erschien sein Text für die Szene. Er hatte ziemlich viel Dialogtext, den er besser noch einmal durchsah.

Zuerst wollte er die E-Mail speichern, später ein wenig überarbeiten und dann absenden. Er entschied sich schließlich aber anders und drückte auf »Löschen«. Seine Freunde mussten sich gedulden. Sie würden alles zeitgerecht erfahren. Beim Gedanken an das Gespräch bekam Dominik leichtes Herzklopfen.

Unsinn, sagte er leise zu sich selbst. Es gab keinen Grund, nervös zu sein.

EINE IDEE

Veronika Wunderer saß in dem engen Büro hinter der Rezeption und starrte auf den Bildschirm des Computers.

Beim Googeln der Schlagworte »besondere Hochzeit« hatte sie ein paar Hunderttausend Einträge gefunden. Sie würde sich später am Abend auf Pinterest alle Boards ansehen, die sich mit diesem Thema beschäftigten. Im Augenblick las sie Erlebnisberichte von jungen Paaren: Was ihnen an ihrer Hochzeit besonders gefallen hatte und was sie sich anders gewünscht hätten.

Wenn sie damit fertig war, würde sie sich auf Youtube Videos von Hochzeitsplanern vornehmen und zur Auflockerung ein paar Videos mit den peinlichsten Hochzeitspannen ansehen.

Veronika streckte sich und sah zum Fenster hinaus. Erst vier Uhr und die Sonne versank schon hinter der Bergkette. Oben auf dem Kamm glänzten die Reste des ersten Schnees, der vor drei Wochen gefallen war.

Auf der Anzeige der Wetterstation, die auf ihrem Schreibtisch stand, konnte sie alle Werte lesen, die von den verschiedenen Messstationen rundum gefunkt wurden.

Temperatur: fünf Grad Celsius auf dem höchsten Gipfel.

Veronika hätte sich null Grad gewünscht und Schneefall. Drei schneearme Winter hatten das Hotel an den Rand des Ruins gebracht. Dazu war im März Corona gekommen und der Skandal um die Infektionen in der Après-Ski-Bar in Ischgl. Sie hatten nicht nur die Saison um einige Wochen früher als geplant beenden müssen, bisher waren für diesen Winter nicht einmal ein Drittel der üblichen Buchungen eingetroffen.

Aber Veronika hatte eine Idee. Wenn ihr Vorhaben gelang, würde sie dem Hotel zu allen Jahreszeiten Gäste bringen, nicht nur Skifahrer im Winter und ein paar Wanderer im Sommer.

Die Bürotür wurde aufgerissen und ihr Vater stapfte herein. Er würdigte sie keines Blickes, sondern steuerte ein Regal an der Wand an, das vom Boden bis zur Decke mit Aktenordnern vollgestopft war.

»Schönen Tag, dir auch, Vater«, grüßte Veronika mit sarkastischem Unterton.

Herr Wunderer drehte nicht einmal den Kopf zu ihr, sondern ließ den Zeigefinger auf den Ordnern von einem Schild zum nächsten gleiten.

»Suchst du etwas?«, fragte Veronika höflich. Sie musste sich sehr beherrschen, nicht loszubrüllen.

»Du hast keine Ahnung, wie üblich«, knurrte ihr Vater. Er war klein und gedrungen und selbst mit ausgestreckten Armen reichten seine Hände nicht bis zu den obersten Regalen. Veronika sah ihm zu, wie er versuchte, sich auf die Zehen zu stellen. Sein Übergewicht und die Steifheit in seinen Gelenken, die viel Alkohol und fettes Essen hervorgebracht hatten, machten sich bemerkbar.

Knurrend zog Herr Wunderer einen Stuhl heran, um ihn als Trittleiter zu verwenden. Seine Beine waren zu kurz und unbeweglich, um hinaufzusteigen.

»Soll ich dir helfen?«, bot Veronika an.

»Den violetten Ordner aus dem vorletzten Fach. Den zweiten von rechts.« Er deutete ihr, sich zu beeilen, hatte sie aber noch immer nicht angesehen.

»Was ist drinnen?« Veronika ging zu ihm und angelte ihn herunter. Sie war fast zwei Köpfe größer als ihr Vater und außerdem gut trainiert.

Herr Wunderer entriss ihr den Ordner. »Ich habe gerade ein gutes Geschäft gemacht. Ohne meine Geschäfte könnten wir schon zusperren, aber zum Glück habe ich vorgesorgt, damit wir uns wenigstens Brot leisten können, wenn es schon für die Butter nicht mehr reicht.«

Veronika betrachtete den Ordner im Arm ihres Vaters prüfend. Sie hatte ihn natürlich dort oben stehen gesehen, aber nie einen Blick hineingeworfen. Der alte Aktenschrank war ein Relikt aus der Zeit, als ihre Eltern das Hotel allein und auf ihre Art geführt hatten. Halbherzig hatten sie die Geschäfte vor zwei Jahren an Veronika übergeben, genau in der Zeit, als die Krise in der ganzen Region beonnen hatte. Es wunderte Veronika nicht, dass die Eltern ihr die Schuld dafür gaben.

»Kann ich erfahren, welches ›Geschäft‹ du gemacht hast?« Sie deutete auf den Computer. »Wenn es sich um Zimmerbuchungen handelt, müsste ich sie in das Reservierungsprogramm eingeben. Wenn es Zahlungen sind, muss ich sie ebenfalls eingeben.«

»Du brauchst gar nichts ›eingeben‹, ich mache das allein. Das Geld siehst du auch nicht, weil es in keine Buchhaltung kommt. Du weißt überhaupt nichts von Geld, hast du verstanden?« Ihr Vater verließ das Büro und knallte die Tür hinter sich zu.

Veronika atmete einmal tief durch und kehrte an den Schreibtisch zurück. Als sie begann, die Angebote eines renommierten Hochzeitsplaners auf seiner Homepage durchzulesen, platzte ihre Mutter herein.

»Weißt du nicht, wie spät es ist?«, fuhr sie Veronika an.

»Ich weiß es, aber wieso ist es wichtig?«

»In einer Stunde kommt die Lady. Was ist mit ihrem Essen?«

Frau Wunderer war so klein wie ihr Mann und wie jeden Tag tadellos frisiert und geschminkt. In ihrem dunkelgrünen Trachtenkostüm sah sie aus, als würde sie im nächsten Moment in der Halle neu angekommene Gäste begrüßen.

»Ich habe Spaghetti mit Crevettensoße und Safran vorbereitet«, erklärte Veronika.

»Die Küche ist dunkel.« Ihre Mutter sah sie mit diesem stechenden, kalten Blick an, den ihre Angestellten früher so sehr gefürchtet hatten.

»Die Soße habe ich schon vor ein paar Tagen gekocht und tiefgefroren.«

»Tiefgefroren? Bist du verrückt? Wenn die Lady das herausfindet, kündigt sie uns womöglich die Abmachung auf.« Ihre Mutter stemmte die Hände in die Seite. »Du hast den ganzen Tag nichts zu tun und wirst es doch wenigstens schaffen, unserem einzigen Restaurantgast ein frisches Abendessen zu kochen.«

»Die Küche ist normalerweise deine Verantwortung«, schnappte Veronika zurück.

»Meine Verantwortung ist es, mit der Bank zu telefonieren und jeden einzelnen unserer Stammgäste anzurufen und anzuflehen, doch wieder zu buchen. Man sollte meinen, das ist genug Arbeit für eine Frau, die längst in Pension sein könnte, aber nicht gehen kann, weil die Nachfolgerin mit einem Bein im Ruin steht.«

Die Eltern konnten es nicht lassen, Veronika mindestens einmal am Tag darauf hinzuweisen, dass sie ihre Tochter für völlig unfähig hielten.

Frau Wunderer trat hinter Veronika und warf einen Blick auf den Bildschirm.

»Hochzeitsplaner? Willst du heiraten? Gibt es vielleicht endlich einen Schwiegersohn für uns?«

»Ich habe euch erklärt, dass ich versuchen will, unser Hotel zu einem beliebten Ort für Hochzeiten in den Bergen zu machen.« Sie schaltete den Computer aus. »Dafür brauche ich so viele Informationen wie möglich, um für die Gäste eine Traumhochzeit gestalten zu können.«

Die einzige Reaktion ihrer Mutter war ein verächtliches Schnauben.

»Die Hochzeit am 21. November ist eine Art Testlauf. Wenn sie gut klappt, dann kann ich Fotos an die Presse schicken und ins Internet stellen. Das wäre für uns kostenlose Werbung.«

Ihre Mutter schüttelte langsam den Kopf. »Meine Güte, Veronika, immer diese Schnapsideen. Wer soll hier bei uns heiraten wollen? Und wieso soll irgendeine Zeitung über die Hochzeit von dieser Frau aus Kitzbühel und ihrem Freund schreiben?«

»Weil Zeitungen, das Fernsehen und viele Internetplattformen schon oft und viel über die zwei berichtet haben. Sie sind ein Teil der ›Knickerbocker-Bande‹. Erinnerst du dich nicht? Als Kinder haben sie einige mysteriöse Dinge aufgedeckt. Voriges Jahr waren die Zeitungen auch wieder voll, als sie einen Internetbetrug aufgedeckt haben.«

»Du rennst da Hirngespinsten nach.« Ihre Mutter machte sich ans Gehen. »Denk nicht, dass du für diese Hochzeit Personal anstellen kannst. Wir eröffnen erst am 1. Dezember. Auf uns brauchst du auch nicht zu zählen. Wir halten von diesem Vorhaben nichts.«

»Ich habe bereits alles geplant«, erwiderte Veronika. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es hat sich eine Praktikantin gemeldet, die gerne kommt. Nur für Kost und Logis. Ich werde sie geringfügig anmelden, damit sie versichert ist, und mit ihr gemeinsam die Hochzeit ausrichten.«

Frau Wunderer schüttelte noch immer den Kopf, als sie das Büro verließ.

Veronika schloss die Augen und redete sich gut zu, weder Mut noch Nerven zu verlieren. Um sich ein wenig aufzuheitern, öffnete sie ihre eigene Homepage, die sie für das Hochzeitsschlössel gestaltet hatte. Sie fand sie gelungen. Einfach, aber stilvoll und stimmungsvoll.

»Die besondere Hochzeit in den Bergen« stand in goldenen Buchstaben über einem Werbefoto des Hotels und dem Bild eines Brautpaares, das sich innig umarmt hielt.

Lilo Schroll hatte als Erste auf die Homepage geantwortet. Sie suchte einen guten und originellen Ort, um in Tirol zu heiraten, der kurzfristig verfügbar war. Das Hochzeitsschlössel erschien ihr gut geeignet.

Weil ihre Mutter sicherlich schon in der Küche lauerte, um zu kontrollieren, was Veronika für den Gast kochte, machte sich Veronika auf den Weg. Das Gemecker ihrer Mutter würde sonst noch unerträglicher werden.

Als Belohnung dafür, ihre Eltern auch an diesem Tag nicht erwürgt zu haben, würde sich Veronika später am Abend eine Stunde in ihrer kleinen Wohnung gönnen und verschiedene Datingseiten im Internet durchforsten. Sie hatte mehrere Profile angelegt und die kleinen Flirts, auch wenn sie nur online stattfanden, erfrischten sie. Jeden Tag schlug ihr Herz vor Aufregung, wenn sie überprüfte, ob neue Nachrichten für sie eingetroffen waren.

Vielleicht schaffte sie es auf diesem Weg eines Tages, einen Mann zu finden, mit dem sie das Hotel betreiben konnte. Oder noch besser: einen Mann, mit dem sie von hier wegziehen konnte und ein neues Leben beginnen, in dem ihre Eltern nicht mehr vorkamen.

Vor drei Wochen hatte sie Mario auf einer der Datingseiten kennengelernt. Zuerst hatten sie nur kurze Nachrichten ausgetauscht, aber an einem der nächsten Abende wollten sie miteinander reden. Die Datingseite bot einen Service an, bei dem keine Handynummern ausgetauscht werden mussten. Insgeheim hoffte Veronika, Mario würde sogar zu einem Video-Chat bereit sein. Die Fotos in seinem Profil sahen vielversprechend aus. Sie hoffte inständig, dass sie echt waren.