Loe raamatut: «Die Schweiz im Kalten Krieg 1945-1990»
Inhalt
Einleitung
Gefangen im Reduit
Der Kalte Krieg als «imaginärer» Krieg
Eine verunsicherte Schweiz
Geistige Landesverteidigung: Abwehr gegen Nazi-Ideologie
«Antitotalitärer Kompromiss» und «helvetischer Totalitarismus»
Der Gotthard: Befestigung, Reduit, Mythos
Parteiische Neutralität
Der Antikommunismus als Glaubensbekenntnis
Die Kommunisten zu Staatsfeinden erklärt
Der «typische» Kommunist
Gesetz gegen «extremistische» Staatsbeamte
Gefahr durch ausländische Redner
Streit um die Landesverteidigung
Abrüstungsinitiativen: Ein Bürgerlicher irritiert
Ungarn 1956: Empörung, Solidarität und Proteste
Hasskampagnen und Ausgrenzung
«Säuberungen» im SMUV
Skepsis gegenüber Ungarn-Flüchtlingen
Topografie der kommunistischen Bedrohungen
Fremdarbeiter und Kryptokommunisten
Antikommunistische Bollwerke
Die Terroristen-Fibel des Majors von Dach
Aufklärungsdienst: enge Verbindung zum Staatsschutz
Psychologische Kriegsführung: Gefahr für Jugend und Familie
«Koexistenz-Propaganda» in Locarno
Die schweizerische Variante des McCarthyismus
Expo 64: Der Igel zeigt seine Stacheln
Manipulatoren der öffentlichen Meinung
Konsumwerbung und Antikommunismus
Schnüffeln und Bespitzeln als Lebensaufgabe
Millionen für Hetz-Inserate
Ostinstitut: das Aus mit dem Ende des Kalten Kriegs
Der SAD passt sich der Zeit an
Atombomben für die Schweizer Armee
Amerikanisierung und Russenangst
Die Militärs verlangen Atomwaffen
Ziviler Atomreaktor: ein teurer Flop
Ein Flugzeug für Atombomben im Feindesland
Der missverstandene Bundesrat und die Folgen
Naivität und Blindheit: der Mirage-Skandal
Verheerender Bericht mit Erschütterungen im EMD
Mobilisierung gegen den atomaren Wahnsinn
Die Antiatombewegung und ihre Gegner zur Rechten und Linken
Pfarrer, Pazifisten, Wissenschaftler: alle von Moskau gesteuert
Auftrieb für die Atombomben-Lobby
Vom Atomkrieg zur revolutionären Bedrohung
Die Welt am Abgrund
Kein Ende der atomaren Fantasien
Letzte Rückzugsgefechte
Ostermärsche als Bedrohung der Landesverteidigung
Vernunft gegen Emotionen
Schwierige Beziehungen Schweiz-Sowjetunion
«Die Schweiz vertritt schärfsten Antikommunismus»
Die Gesellschaft Schweiz-Sowjetunion unter Verdacht
Redeverbot für den Schweizer Botschafter
Das Eis schmilzt langsam
Der Kalte Krieg verschärft sich
Der Osthandel und die Heuchler
Verpönte sportliche Kontakte
Angst vor Musik
Das Militär übernimmt die Geistige Landesverteidigung
Tschechoslowakei: Rückschlag für die Entspannung
Grenzen der Willkommenskultur
Subversion ist überall
Zivilverteidigungsbuch: Anleitung zur Diffamierung
Kritische Bürger stehen unter Generalverdacht – das Szenario
Leben unter dem Boden
Die «totale Landesverteidigung»: Vorbereitung auf den Atomkrieg
Obligatorischer Zivilschutz: Debakel für den Bundesrat
Zivilschutz Ja – Frauenstimmrecht Nein
Verharmlosungen und falsche Behauptungen
Verankerung in der Gesamtverteidigung
Zivilschutzübungen sorgen für Heiterkeit
Überleben im Atomkrieg
Leben und Lieben im Schutzraum
Belegungsversuche jenseits der Realität
Guter Rat – Notvorrat
Zivilschutz im Ernstfall
Grosse Mängel im Zivilschutz und Legitimationsprobleme
Mit wissenschaftlichen Argumenten gegen den Zivilschutz
Tschernobyl und Schweizerhalle: der überforderte Zivilschutz
Aufrüstung in den 1980er-Jahren und Nato-Doppelbeschluss
Harte Strafen für Zivilschutzverweigerer
Verbunkerung heute: von skurril bis teuer
Hysterischer Überwachungsstaat
Ausbau des Staatsschutzes und neue Formen der «Subversion»
Berufsverbote im Dutzend
Bonnard und Curie: zwei Wissenschaftler unter Verdacht
Jugendliche als Spitzel: Roland Gretler
Überwachung von Kommunisten: dürftige Erkenntnisse
Staatsschutz: Gerüchte statt Fakten
Fichenskandal: Schnüffeln ohne Rechtsgrundlage
Vermutungen und Verdächtigungen
Ein noch tieferer Sumpf
P-26: Gefahr für Demokratie oder Operettentruppe?
Auf den Pfaden des Zivilverteidigungsbuchs
Schicksalsjahr 1989
Der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Kriegs
GSoA-Initiative: die «heilige Kuh» zu Fall gebracht
Kommunistenangst und Sonderfall
Ein Wort zum Schluss: Warum der Kalte Krieg nie heiss wurde
Anhang
Anmerkungen
Abkürzungsverzeichnis
Bibliografie
Abbildungsverzeichnis
Zeittafel
Personenregister
Autor
Dank
Bildverzeichnis
Gefangen im Reduit
Landi 1939: Die «Höhenstrasse» mit den 3000 Wappen der Gemeinden war der symbolische Höhepunkt der Geistigen Landesverteidigung.
Der Antikommunismus als Glaubensbekenntnis
Ungarn-Aufstand 1956: Hilfsbereitschaft und Solidarität der Schweizer Bevölkerung waren enorm.
Topografie der kommunistischen Bedrohungen
Expo 64: Der Betonigel steht für die wehrhafte Schweiz.
Manipulatoren der öffentlichen Meinung
1950er-Jahre: Konsumgüter und der American Way of Life halten Einzug in Schweizer Familien.
Atombomben für die Schweizer Armee
November 1966: Das Mirage-Debakel machte den Rücktritt von Bundesrat Paul Chaudet unvermeidlich.
Mobilisierung gegen den atomaren Wahnsinn
Abstimmung Atominitiative II 1963: Das Volk entschied gegen ein Mitspracherecht bei einer atomaren Bewaffnung der Armee.
Vernunft gegen Emotionen
Friedensapostel Max Dätwyler 1964 in Moskau: Seine Appelle verhallten meist ungehört.
Der Kalte Krieg verschärft sich
Herbst 1961: Nach dem Bau der Berliner Mauer gab es heftige Proteste gegen den Osthandel, die oft hysterische Züge annahmen.
Leben unter dem Boden
Überleben im Schutzraum: Filmstill aus Werbefilm, produziert im Auftrag des Bundesamtes für Zivilschutz, um 1975.
Zivilschutz im Ernstfall
Zivilschutz: Die Übungen gaben oft Anlass zu Kritik, im Ernstfall wurde er kaum geprüft.
Hysterischer Überwachungsstaat
Bundesplatz Bern 1990: 35 000 Personen demonstrieren gegen die jahrzehntelange Überwachung von politisch Andersdenkenden.
Schicksalsjahr 1989
GSoA-Abstimmung 1989: Die Armee wurde nicht abgeschafft, aber in ihren Grundfesten erschüttert.
Einleitung
«Da wir keine Kriegshelden waren, wollen wir nun wenigstens die Helden des kalten Krieges sein. Unser Antikommunismus ist daher nicht frei von einem schlechten Gewissen.»
Friedrich Dürrenmatt
Die Schweiz ist seit über 200 Jahren von einem heissen Krieg verschont geblieben. Nicht so vom Kalten Krieg: Die Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion, die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte, war in der Schweiz kälter als anderswo. Diese Kälte spürten insbesondere Linke, am meisten die Kommunisten. Wer sich als Kommunist zu erkennen gab, befand sich ab 1945 ausserhalb der politischen Gemeinschaft, wurde geächtet, überwacht und ausgegrenzt. Der Kommunismus war unschweizerisch, der Antikommunismus war identitätsstiftend und generierte einen helvetischen Konformismus.
Dass in der bis weit in die 1960er-Jahre hinein politisch weitgehend homogenen Schweiz die politische Linke (falls sie nicht dem gemässigten gewerkschaftlichen oder sozialdemokratischen Flügel angehörte) oft stigmatisiert wurde, hat mit einer spezifisch schweizerischen Ideologie zu tun: der Geistigen Landesverteidigung. Dieses nationalkonservative Kulturprojekt, 1938 von Bundesrat Philipp Etter propagiert, diente in den Kriegsjahren als helvetischer Riegel gegen die Verführungen der Nazi-Ideologie. Es betonte die Eigenständigkeit einer schweizerischen Kultur, rühmte die Viersprachigkeit, pries die Vorzüge des politischen Systems, stand fest auf den Pfeilern von Föderalismus und direkter Demokratie. Nach dem Krieg kam der Feind nicht mehr aus Norden, sondern aus dem Osten. Statt Nazis waren nun die Kommunisten die Staatsfeinde, ob in- oder ausländische. Wer linke Sympathien zeigte, war Teil einer sogenannten Fünften Kolonne, die die Unabhängigkeit der Schweiz gefährdete, das Land der roten Diktatur im Osten ausliefern wollte.
Die Geistige Landesverteidigung ist die wohl wirkungsmächtigste Ideologie in der Schweiz des 20. Jahrhunderts. Sie bedeutete nicht nur eine mentale Beschränkung und intellektuelle Isolation nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern sie äusserte sich in einer Bunkermentalität und einem Sicherheitsdenken, die international Ihresgleichen suchten. Die Schweizer Armee begann zwar schon 1882 beim Bau des Gotthardtunnels mit den Befestigungen im Gotthard. Sie baute sie während des Zweiten Weltkriegs sukzessive zum Reduit aus, das erst Jahre nach Kriegsende wirklich funktionstüchtig gewesen wäre. Die eigentliche Verbunkerung der Schweiz fand dann aber erst im Kalten Krieg vor dem Hintergrund der atomaren Bedrohung durch die Sowjetunion statt. Diesem Sicherheitsdenken entsprang die irrwitzige Vorstellung, dass ein Atomkrieg zu überleben sei, was in einem gigantischen Bauprogramm mündete, das jedem Einwohner, jeder Einwohnerin einen Schutzplatz zur Verfügung stellte. Doch diese Phantasmagorien gingen weiter: Nicht nur hätte ein Atomkrieg überlebbar sein sollen, die Schweiz wollte auch mit eigenen Atomwaffen den Preis für einen potenziellen Angreifer hochschrauben. Wie eine atomare Verwüstung zu überleben wäre, darüber wurde die Bevölkerung im Ungewissen gelassen.
Die Schweiz war unter den westlichen Demokratien das antikommunistischste Land, was inländische – bürgerliche – Politiker und Historiker, aber auch ausländische Diplomaten feststellten. Wie kommt es, dass in diesem wirtschaftlich prosperierenden Land, wo die kommunistische Partei der Arbeit (PdA) nur eine marginale Rolle spielte und wo die bürgerlichen Werte in der Bevölkerung solide verankert waren, sich ein robuster bis militanter Antikommunismus entwickeln konnte, der die politische Kultur des Landes in einen einheitlichen, rechtsbürgerlichen Mainstream zwang und missliebige politische Aktionen mit dem Label «kommunistisch» diskussionslos abwürgen konnte? Eine Erklärung mag in der Imprägnierung mit den Werten der Geistigen Landesverteidigung liegen, die sich als probates Mittel gegen die Nazi-Propaganda erwiesen hatte und die nun, um 180 Grad gewendet, gegen den neuen Feind aus dem Osten eingesetzt werden konnte. Das ermöglichte denjenigen Eliten, die mit den Fronten oder dem Nazismus geliebäugelt hatten, sich als glaubwürdige antikommunistische Patrioten zu gerieren und damit von ihrem wenig ruhmreichen Verhalten während der Nazi-Zeit abzulenken. Es ermöglichte aber auch dem Land als Ganzes, das nicht unproblematische Verhalten während dieser Zeit mit dem Mantel des Vergessens zu überdecken und sich mit umso mehr Vehemenz in den antikommunistischen Kampf zu stürzen. Der wegen seiner Deutschfreundlichkeit und des geschäftlichen Opportunismus während des Zweiten Weltkriegs geächtete einstige Paria der westlichen Alliierten zeigte sich nun im ideologischen Wettstreit als Musterschüler.
Der bürgerliche Antikommunismus schloss implizit die Sozialdemokratie mit ein. Er war ein Disziplinierungsinstrument, mit dem die Sozialdemokraten gezwungen wurden, permanent ein Treuebekenntnis zum bürgerlichen Staat und zur bewaffneten Landesverteidigung abzugeben. Mit ihrem eigenen fulminanten Antikommunismus konnten die Sozialdemokraten und Gewerkschafter beweisen, dass sie nicht die «vaterlandslosen Gesellen» waren, als die sie nach dem Landesstreik 1918 vom Bürgertum verdächtigt wurden.
Die vorliegende Untersuchung schildert anhand von wirtschaftlichen und politischen Kraftlinien, nahe an zeitgenössischen Quellen und eingebettet im internationalen Kontext, die vielgestaltigen Folgen des Kalten Kriegs in der Schweiz. Ich male dabei nicht ein Big Picture des Kalten Kriegs, sondern versuche, mit feinem Pinsel die Textur nachzuzeichnen, die die Schweiz im Zeichen des Antikommunismus zusammenhielt, beziehungsweise zu zeigen, wo das Gewebe Risse bekam. Es sollen anhand von Zeitungsartikeln, Verlautbarungen von Parteien und Organisationen der Zivilgesellschaft, offiziellen Dokumenten der Behörden, Korrespondenzen, aber auch von Spitzelberichten die Diskurslinien aufgezeigt werden, um ein Bild der mentalen Verfasstheit der Schweizer Gesellschaft im Kalten Krieg zu zeichnen. Ich werde dabei häufig O-Ton zitieren, weil die Tonalität, die Wortwahl und Diktion den Zeitgeist intensiv wiedergeben.
Alles hängt mit allem zusammen. Ich werde darstellen, wie im Kalten Krieg Geistige Landesverteidigung, Antikommunismus, Überwachungsstaat, Armeekonzeptionen, Sicherheitsdenken und Zivilschutz eine wechselseitige, manchmal skurrile, zwanghafte, gefährliche, für viele schicksalshafte Beziehung eingingen. Dabei setzte die Schweiz aufgrund eines übersteigerten Sicherheitsdenkens wirtschaftliche und intellektuelle Ressourcen auf eine Art ein, die andernorts vielleicht produktiver hätten verwendet werden können. Die Grundthese lautet, dass nur im Klima der Geistigen Landesverteidigung die Atmosphäre eines rabiaten Antikommunismus, geprägt von Misstrauen und Abwehr, entstehen konnte. Wie wir sehen werden, wirkt die Geistige Landesverteidigung auch nach 80 Jahren noch nach.
Gefangen im Reduit
Der Sieg über Nazi-Deutschland gelang dank einer Allianz zwischen den westlichen liberalen Demokratien, vor allem den USA und Grossbritannien, und der kommunistischen Sowjetunion. Das Zentrum des Kommunismus hatte dabei die grösste Last im Kampf gegen Hitler-Deutschland getragen, hatte mit gegen 30 Millionen Opfern die schwersten Verluste zu beklagen. Die Sowjetunion konnte als Sieger- und Opfernation nicht nur einen Macht- und Territorialzuwachs verbuchen, sondern einen starken Imagegewinn bis in bürgerliche Kreise hinein. Doch das Zweckbündnis der Siegermächte zerbrach bereits vor Kriegsende, weil nicht nur die Ideologien inkompatibel waren, sondern auch die Vorstellungen über die Neuordnung Europas. Schon vor Kriegsende versuchten die ideologisch konträren Siegermächte ihre Einflusssphären abzustecken. Der Sowjetunion ging es in erster Linie um Sicherheit und die Schaffung eines territorialen Cordon sanitaire im Westen. Die USA, wo es schon immer eine stark antikommunistische Strömung gab, wollten den Einfluss Stalins in Osteuropa eindämmen.
Mit dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki Anfang August 1945 beendeten die USA nicht nur den Krieg in Fernost, sondern demonstrierten auch ihre waffentechnische Überlegenheit. Stalin betrachtete deshalb diesen Ersteinsatz von Atomwaffen als Bedrohung. «Atombomben-Erpressung ist amerikanische Politik», sagte er kurz nach dem Abwurf.1 Die USA signalisierten, dass sie von dieser Waffe auch Gebrauch machen würden. Für die Sowjetunion war der Abwurf der Atombomben der Beginn des Kalten Kriegs.
Der Kalte Krieg als «imaginärer» Krieg
Die Zündung einer sowjetischen Atombombe 1949 machte die Erpressung gegenseitig. Diese Drohung mit der Atombombe bildete das entscheidende Strukturmerkmal des Kalten Kriegs beziehungsweise des lauwarmen Friedens. Fast prophetisch hatte diese politische Grosswetterlage wenige Monate nach Kriegsende der englische Schriftsteller George Orwell, der einst mit dem Kommunismus sympathisiert hatte, vorausgesehen. In einem Aufsatz vom Oktober 1945 in The Tribune schrieb er, dass der Besitz der Atombombe nicht zu einem Krieg führen würde, weil die besitzenden Mächte dabei selbst untergehen würden. Sie lebten deshalb in einem «permanent state of ‹cold war›». Die grossen Kriege würden aufhören auf Kosten des verlängerten Friedens, der kein Friede sei.2 Schon wenige Tage nach dem Ende des Kriegs in Europa hatte Winston Churchill den Begriff des «Eisernen Vorhangs» gegenüber dem amerikanischen Präsidenten Truman verwendet; dokumentiert ist der Begriff aus seiner Rede am 5. März 1946 in Fulton. Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels benutzte ihn bereits ein Jahr zuvor und meinte damit die sowjetische Besetzung Rumäniens.3 Churchill verstand diesen Vorhang als einseitig durchlässig für die ideologische Expansion der Sowjetunion, die über die Komintern, die Propagandaorganisation der Sowjetunion, und die Fünften Kolonnen die westlichen Länder ideologisch infiltriere.4 Dieses Bedrohungsmuster bestimmte in den folgenden Jahrzehnten den westlichen Diskurs.
1947 brach die schon instabile alliierte Siegerkoalition endgültig auseinander. Nachdem die Sowjetunion ihren Einfluss in Europa verstärkt hatte, bot US-Präsident Harry S. Truman am 12. März 1947 in einer Rede vor dem Kongress an, «die freien Völker zu unterstützen, die sich der Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder dem Druck von aussen widersetzen». Dieser Plan, die Truman-Doktrin, war eine Strategie zur Eindämmung der sowjetischen Expansion mit dem Resultat, dass Stalin die osteuropäischen Staaten noch stärker an die Kandare nahm. Ein Jahr später verabschiedete der amerikanische Kongress das 12,4 Milliarden Dollar schwere European Recovery Program (ERP), das als Marshallplan, benannt nach Aussenminister und Friedensnobelpreisträger Georg C. Marshall, den Wiederaufbau Westeuropas mitfinanzierte. Der Marschallplan unterschied vorerst bei der angebotenen materiellen Hilfe nicht zwischen Ost und West, doch war die von Truman verkündete Containment-Strategie dahinter klar. Das ERP war kein selbstloses Projekt, sondern vereinte gemeinsame Interessen: Die USA hatten untergenutzte Produktionskapazitäten und überschüssige Dollars, Europa lechzte nach Waren und Investitionen.5 Der Marshallplan, der Grossbritannien doppelt so viel zusprach wie Deutschland, war für die wirtschaftliche Erholung Europas nicht entscheidend, aber umso wichtiger war seine symbolische Bedeutung: Das Programm war von Anfang an gedacht als politische Waffe im aufkommenden Kalten Krieg.6 Die Schweiz beteiligte sich ebenfalls am Marshallplan, stellte für Kredite und Zahlungen an Hilfswerke insgesamt 2,5 Milliarden Franken zur Verfügung, pro Kopf der Bevölkerung 532 Franken, womit sie im Verhältnis zum Sozialprodukt mehr leistete als die USA.7
Einen vorläufigen Höhepunkt fand die westöstliche Konfrontation mit dem Putsch in der Tschechoslowakei und der Installierung eines kommunistischen Regimes im Jahr 1948. Weitere Schritte zur Teilung Europas folgten: Bis 1949 entstanden die Nato, der Europarat und die Organization for European Economic Cooperation (OEEC), zu deren Gründungsmitgliedern auch die Schweiz gehörte. Zweck der OEEC war anfänglich die Implementierung des Marshallplans. Damit waren die zentralen politischen und wirtschaftlichen Institutionen zur Eindämmung des Kommunismus etabliert worden.
Der Kalte Krieg war eine schleichende Entwicklung, getrieben von Angst, Unsicherheit und Misstrauen.8 Popularisiert wurde der Begriff Cold War durch den amerikanischen Delegierten Bernard Baruch, der ihn im April 1947 an der UN-Atomenergiekommission verwendete, woraufhin er zum Kampfbegriff westlicher Intellektueller und Regierungsbeamter wurde.9 Aus innenpolitischen Gründen wurde die Bedrohung durch die Sowjetunion lange Zeit übertrieben. Viele amerikanische Politiker hatten eine völlig undifferenzierte Ansicht des Kommunismus. Sie benutzten den Antikommunismus, um ihre globalen politischen Massnahmen zu rechtfertigen und begründeten damit die ideologische Basis des Kalten Kriegs.10
Der Kalte Krieg, der – wenigstens in Europa – nie heiss wurde, wurde in Asien und Afrika als Stellvertreterkrieg ausgetragen. Nach 1945 wurden in der Dritten Welt in rund 150 Kriegen vermutlich 22 Millionen Menschen getötet, wobei nicht alle diese Konflikte Stellvertreterkriege waren, sondern auch koloniale Befreiungskriege. Der «heisseste» und blutigste dieser Kriege war der Koreakrieg, bei dem auf beiden Seiten durch Massaker und Flächenbombardements durch die US-Luftwaffe in Nord- und Südkorea je rund eine Million Koreaner starben. Hinzu kommen 900 000 tote Chinesen und 54 000 gefallene Amerikaner. Der 30 Jahre dauernde Vietnamkrieg war der längste und brutalste Stellvertreter- und Befreiungskrieg, in dem die Amerikaner glaubten, das Land nach der verheerenden Niederlage der früheren Kolonialmacht Frankreich 1954 vor dem Kommunismus bewahren zu müssen. Auf dem Höhepunkt des Kriegs 1968 stand eine amerikanische Truppenstärke von 550 000 Mann in Vietnam. 56 000 amerikanische Soldaten starben; auf der anderen Seite liessen zehnmal so viele Vietcong und nordvietnamesische Soldaten ihr Leben.11 Auf Vietnam fielen mehr Bomben als auf allen Schauplätzen des Zweiten Weltkriegs zusammen. Doch die geballte Macht und die technologische Überlegenheit der USA konnten eine Niederlage nicht verhindern. 1975 zogen die Amerikaner ab; Vietnam wurde wiedervereint und kommunistisch. Die Folgen des Vietnamkriegs sind bis heute sicht- und spürbar, etwa in Form von Giftrückständen und grossflächiger Umweltzerstörung, Schädigung des Erbguts oder Hunderttausenden von unentdeckten Landminen.
Der Kalte Krieg bestimmte die Sicherheitspolitik, die Ideologie und teilweise die Wirtschaft bis 1991. Sein Ende begann mit dem Fall der Mauer, der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Er war primär ein zwischenstaatlicher Konflikt, zwischen den USA und der Sowjetunion, eine Art Joint Venture, der aber bis in alle Tiefen der Gesellschaften in Ost und West hineindrang. Der Ost-West-Konflikt war das beherrschende Moment der Nachkriegsordnung. Er war ein «imaginärer Krieg», ein Begriff, den Mary Kaldor eingeführt hat und den ich im Folgenden als theoretisches Konzept verwenden werde.12 Der «imaginäre Krieg» fand in Szenarien von Militärstrategen, Truppenübungen, rhetorischen Redeschlachten, Propagandafilmen, Spionage oder Zivilschutzübungen statt. Die Vorbereitungen dafür waren real, und er schloss auch die Möglichkeit eines Atombombeneinsatzes nicht aus. Er schuf eine Atmosphäre permanenter Angst. Er legitimierte ständig höhere Rüstungsausgaben auf beiden Seiten. Die durch den «imaginären Krieg» erzeugte Angst vor dem äusseren Feind wurde dazu benutzt, um mit den Konflikten innerhalb des eigenen Blocks fertigzuwerden; er hatte also auch eine Disziplinierungs- und Anpassungsfunktion, wie wir das gerade auch im Fall der Schweiz sehen werden. Die jeweiligen Blöcke definierten sich gemäss ihrem eigenen Wertesystem als sozialistisch oder demokratisch. In der Einbildung bedrohte jedes System die Existenz des anderen. Es war ein Kampf zwischen Gut und Böse, der durch eine reale militärische Konfrontation und durch Stellvertreterkriege in verschiedenen Weltgegenden an Glaubwürdigkeit gewann.
Die Schweiz war bei Kriegsende zwar wirtschaftlich in einer hervorragenden Ausgangslage: Der Produktionsapparat war intakt geblieben, der Finanzplatz hatte selbst während des Kriegs seine Dienste geleistet und würde das auch beim Wiederaufbau Europas tun, die Unabhängigkeit wurde gewahrt, das Staatsgebiet war unversehrt geblieben. Doch politisch war das Land in einer wenig beneidenswerten Lage. Unter der formellen Neutralität hatte Nazi-Deutschland kriegswirtschaftlich und finanziell profitiert und damit der Schweiz ihr Überleben gesichert: Das war die Meinung sowohl in der Sowjetunion und in den USA als auch in fast allen anderen Staaten, die am Krieg teilgenommen hatten. Das Image der Schweiz war in beiden Lagern denkbar schlecht. Gegenüber der Sowjetunion betrieb man Schadensbegrenzung, indem man 1946 die diplomatischen Beziehungen wieder aufnahm. Zuvor hatte sich die Sowjetunion geweigert, diese Beziehungen zu aktivieren und die Schweiz als «profaschistisch» bezeichnet. Als Entgegenkommen konnte sich bereits 1944 die verbotene Kommunistische Partei der Schweiz (KPS) wieder als Partei der Arbeit (PdA) neu formieren. Mit den USA arrangierte man sich 1946 mit dem Abschluss des Washingtoner Abkommens, das eine Zahlung von 250 Millionen Franken für das von Nazi-Deutschland völkerrechtswidrig entgegengenommene Raubgold beinhaltete.