Loe raamatut: «Bekenntnisse eines englischen Opiumessers»
Bekenntnisse eines englischen Opiumessers
Thomas de Quincey
Inhaltsverzeichnis
Impressum
I.
II.
Die Freuden des Opiums
Einleitung zu den Leiden des Opiums
Schrecken des Opiums
Nachwort
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Impressum
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I.
Man hat mich oft danach gefragt, wie es kam, daß ich gewohnheitsmäßiger Opiumesser wurde. Viel habe ich unter der Anschauung der Leute gelitten, die mir die Schuld an der langen Kette von Leiden, die ich durchzumachen hatte, selbst beimaßen und behaupteten, daß ich sie durch den Mißbrauch des Opiums selbst verschuldete, weil ich mir lediglich künstliche und angenehme Erregungen hätte verschaffen wollen. Das stimmt nicht. - Wohl habe ich zehn Jahre lang Opium lediglich des Genusses wegen genommen. Solange ich es aber nur in dieser Absicht nahm, war ich vor üblen Folgen bewahrt, weil ich zwischen den einzelnen Malen immer größere Pausen machen mußte, wenn der Erfolg mir angenehme Lustgefühle verschaffen sollte. Als ich begann, Opium regelmäßig zu nehmen, geschah es nicht um des Genusses willen, sondern um qualvolle Schmerzen zu lindern. Als ich achtundzwanzig Jahre alt war, erkrankte ich von neuem an einem schmerzhaften Magenleiden, an dem ich bereits zehn Jahre vorher einmal gelitten hatte. Durch furchtbares Hungern war in meinen Knabenjahren der Grund zu dieser Krankheit gelegt worden. In den hoffnungsvollen Jahren neu erblühenden Glückes zwischen meinem achtzehnten und vierundzwanzigsten Lebensjahre war sie nicht wieder aufgetreten, in den drei folgenden Jahren belästigte sie mich hin und wieder, und schließlich trat sie, unter allerlei ungünstigen Umständen, von denen der schlimmste eine andauernde seelische Depression war, wieder mit solcher Heftigkeit auf, daß sie keinem anderen Linderungsmittel als dem Opium zu weichen vermochte. Da die Jugendleiden, die dies alles zur Folge hatten, sowohl an sich als auch durch die Begleitumstände interessant sind, will ich sie hier kurz berichten:
Mein Vater starb, als ich fast sieben Jahre alt war, und hinterließ mich der Sorge von vier Vormündern. Ich wurde auf verschiedene Schulen - bedeutende und weniger bemerkenswerte - geschickt, an denen ich mich bald eines guten Rufes wegen meiner Kenntnisse der klassischen Literatur, insbesondere aber im Griechischen, erfreute. Griechisch schrieb ich mit dreizehn Jahren mit Leichtigkeit, und mit fünfzehn war ich bereits so weit, daß ich nicht allein lyrische Verse in dieser Sprache schreiben konnte, sondern sie geläufig und ohne Anstoß zu sprechen vermochte. Das war eine Fähigkeit, die ich bei keinem anderen Mitschüler beobachtet habe. Ich verdankte sie der Gewohnheit, die Tageszeitungen extemporierend ins Griechische zu übersetzen; die Notwendigkeit, selbst aus der Phantasie allerlei Ausdrücke zu schaffen für moderne Begriffe, die sich in keinem Wörterbuche finden ließen, verhalf mir zu einem solch reichen, fließenden Stil, wie ich ihn durch Übersetzung langweiliger moralischer Essays nie mir angeeignet haben würde. Einmal stellte mich einer meiner Lehrer einem Fremden vor: »Dieser Knabe könnte an eine athenische Volksmenge eine bessere Ansprache halten als Sie oder ich an eine englische!« Der Herr, der mir dieses Lob spendete, war ein Gelehrter und von all meinen Vormündern der einzige, den ich liebte und verehrte. Leider - und wie ich später erfuhr, zum besonderen Leidwesen dieses tüchtigen Mannes - vertraute man mich bald darauf der Sorge eines Nichtswissers an, der beständig in der Angst lebte, seine Unwissenheit könne durch mich zutage kommen. Schließlich sollte ich von einem alten Gelehrten erzogen werden, der Leiter einer großen, altberühmten Schule war. Dieser Mann war von einem Oxforder College zu seiner Stellung befördert worden und war ebenso gesund und vierschrötig wie plump, rauh und ungeschliffen; er bildete einen unangenehmen Gegensatz zu der Etoner Vornehmheit meines verflossenen hochverehrten Lehrers. In dieser Schule waren bedauerlicherweise fast alle Lehrer so wie der Leiter. Es ist eine böse Sache, wenn ein Knabe seinen Lehrern sowohl an Wissen als an Urteilsfähigkeit überlegen ist - und besonders schlimm ist es, wenn er selber das weiß. Das war bei mir der Fall, und nicht ich allein, sondern auch die beiden Knaben, mit denen ich gemeinsam die erste Abteilung der Klasse bildete, waren bessere Griechen als der Rektor - wenn sie auch nicht eben sonst besonders gute Schüler waren. Als ich eintrat, lasen wir gerade den Sophokles. Da hatten wir stets das Vergnügen, zu beobachten, wie unser »Archididaskalos« - wie er sich gern nennen hörte - vor der Stunde immer mit Lexikon und Grammatik das Pensum regelrecht präparierte, um nur nicht von den Schwierigkeiten in den Chören überrumpelt zu werden. Wir dagegen pflegten unsere Bücher nie vor dem Beginn der Stunde auch nur einmal aufzuschlagen, sondern vertrieben uns die Zeit damit, Spottverse auf seine Perücke oder auf ähnlich wichtige Dinge zu verfassen. Meine beiden Klassenkameraden waren arm, und ihre Zukunft an der Universität hing von den Empfehlungen des Rektors ab. Ich dagegen besaß ein kleines Erbteil, dessen Zinsen genügten, mich für meine Studienjahre sicherzustellen. So wünschte ich nichts sehnlicher, als bald die Hochschule beziehen zu können. Ich machte meinen Vormündern mancherlei briefliche Vorstellungen. Es war alles erfolglos. Der eine, der ein weitsichtiger, weltgewandter Mann war, lebte zu weit entfernt; die beiden anderen überließen alles der Entscheidung des vierten, und gerade der war ein eigenwilliger Mann, der sich nichts sagen ließ und immer nur seinen Willen durchzusetzen wünschte. Nach vielen Briefen und Bitten wurde mir klar, daß ich von meinem Vormunde nichts zu erhoffen hätte. Er verlangte unbedingten Gehorsam. So beschloß ich, auf andere Wege zu denken. Schnell kam der Sommer und mit ihm mein siebzehnter Geburtstag heran - der Tag, zu dem ich mir geschworen hatte, nicht länger als Schulbub gezählt werden zu wollen. Geld war das Wichtigste, was ich brauchte; deshalb schrieb ich an eine vornehme Dame meiner Bekanntschaft und bat sie, mir fünf Pfund zu »leihen«. Als nach einer Woche immer noch keine Antwort da war, begann ich schon zu verzweifeln; da brachte mir ein Diener einen großen Brief mit einer Krone auf dem Siegel. Der Brief war freundlich und nett. Die Schreiberin befand sich gerade in einem Seebade, und deshalb hatte sich die Antwort verzögert. Sie sandte mir doppelt soviel, als ich verlangt hatte, und deutete schalkhaft an, daß »es auch nicht gerade ihr Ruin sein würde«, wenn ich ihr das Geld überhaupt nicht zurückerstatten könne. Nun konnte ich meinen Plan ausführen. Die zehn Goldstücke, und zwei von meinem Taschengelde ersparte, die ich außerdem noch besaß, schienen mir für ziemlich lange Zeit zu genügen: In diesem glücklichen Alter, in dem man noch keine bestimmten Grenzen kennt, die dem eigenen Wollen entgegenstehen, rückt der Geist der Hoffnung und Erwartung Grenzen ja tatsächlich in unabsehbare Ferne.
»Wenn man etwas lange Zeit gewohnheitsmäßig verrichtet hat und es dann einmal bewußt zum letzten Male tut, dann empfindet man eine gewisse Trauer« - hat Ben Johnson einmal geschrieben. Die Wahrheit dieser Behauptung empfand ich, als ich nun die Schule verlassen sollte, diesen Ort, den ich nie geliebt hatte, an dem ich nie glücklich gewesen bin. An dem Abend, an dem ich, vor dem Abschiede für immer, zum letzten Male in dem alten hohen Schulzimmer den Abendchoral singen hörte, wurde ich plötzlich traurig. Später, als beim Namensaufruf ich - wie gewöhnlich - zuerst genannt wurde, trat ich vor und verbeugte mich wie immer vor dem Rektor, der dabeistand, sah ihm ernst ins Gesicht und dachte bei mir: »Er ist alt und gebrechlich, und in dieser Welt werde ich ihn wohl nicht wiedersehen.« - Ich habe damals richtig gedacht. Ich habe ihn nicht wiedergesehen, und ich werde ihn wohl auch nicht wiedersehen. Er blickte mich ruhig an und lächelte gutmütig, als er meinen Gruß - oder besser mein Abschiednehmen - erwiderte, und wir trennten uns - er wußte es nicht! - für immer. - Sein Verstand hatte mir nie große Achtung abgerungen. Aber er war stets freundlich zu mir und hatte mir manchmal Nachsicht erzeigt; der Gedanke an die Kränkung, die ich ihm zuzufügen im Begriffe war, machte mich nun doch ein bißchen traurig.
Der Morgen kam, der mich in die Welt sandte und von dem mein ganzes folgendes Leben in mannigfacher Hinsicht seine Färbung empfing. Ich wohnte im Hause des Rektors und genoß, seit meinem Eintritt in die Schule, den Vorzug, ein eigenes Zimmer zu bewohnen, das mir sowohl als Schlafraum wie als Arbeitszimmer diente. Um halb vier Uhr stand ich auf und blickte in tiefster Gemütserregung auf die Türme der Schulkirche, die »in frühestes Licht gekleidet« sich im Strahlenglanze eines wolkenlosen Julimorgens zu röten begannen. Ich war fest und unwandelbar in meinem Vorsatze, und doch überkam mich eine unbestimmte Ahnung von kommender Not und Gefahr; aber - wieviel mehr hätte ich mir Sorgen gemacht, hätte ich gewußt, was mir bevorstand, in welche Stürme und Ungewitter ich bald geraten sollte. Zu dieser inneren Erregung bildete die Stille des Julimorgens einen ergreifenden Kontrast, und dennoch war sie zugleich ein Beruhigungsmittel. Das Schweigen war tiefer als das der Mitternacht - und für mich ist die Stille eines Sommermorgens rührender als jede andere Stille, weil das Licht draußen weit und stark ist, wie in anderen Jahreszeiten nur zur Mittagszeit; und doch unterscheidet es sich von wirklichem Tageslichte hauptsächlich deshalb, weil kein Mensch zu sehen ist. Der Friede der Natur und die Unschuld der Geschöpfe Gottes erscheinen so lange gesichert und beständig, als die Gegenwart von Menschen und ihre Unrast die Heiligkeit der Stille nicht stören.
Ich kleidete mich an, nahm Hut und Handschuhe und - blieb noch eine Weile zögernd stehen. Die letzten anderthalb Jahre war dieser Raum die Zufluchtsstätte meiner Gedanken gewesen. Hier hatte ich nächtelang gelesen und gearbeitet, hier hatte ich, der so viel Güte und Zärtlichkeit ersehnte, in den letzten Monaten den Kampf mit dem Vormunde geführt, meine Heiterkeit und mein Glück verloren; hier hatte ich, mitten in aller Niedergeschlagenheit, durch meine Liebe zu Büchern und durch meinen Wissensdrang manche glückselige Stunde in den vier engen Wänden genossen. Ich meinte, als ich zum letzten Male auf den Schreibtisch und den Armstuhl, den kleinen Ofen und all die lieben, vertrauten Gegenstände sah, - ich wußte, daß ich alles zum letzten Male erblickte. - Neunzehn Jahre sind seitdem verflossen, und doch sehe ich in diesem Augenblicke so deutlich, als wäre es gestern gewesen, die Linien und Umrisse eines Gegenstandes, der noch im letzten Augenblick meinen Blick gebannt hielt: Es war das Bild eines liebreizenden Mädchens, das über dem Kamin hing. Augen und Mund waren so wunderschön, das ganze Antlitz strahlte so wundervolle Ruhe aus, daß ich manchmal Buch oder Feder hingelegt hatte, um wie von einer Patronin von ihr Trost zu erbitten. Da, als ich so ganz in Gedanken versunken stand, verkündeten die tiefen Töne der Kirchenglocke, daß es vier Uhr sei. Ich stieg zu dem Bilde hoch, küßte es, und dann ging ich ganz ruhig fort und schloß die Tür hinter mir - für immer.
Die Anlässe zu Tränen und zum Lächeln sind mitunter in diesem Leben so eng verquickt, daß ich nicht ohne Heiterkeit an einen Zwischenfall, der sich an jenem Morgen zutrug, zu denken vermag, weil er beinahe der Ausführung des Planes ein sofortiges Ende gemacht hätte. Mein Koffer, der neben meinen Kleidern auch meine sämtlichen Bücher enthielt, war ein ungeheuer schweres Möbelstück. Das Kunststück war, ihn zum Spediteur zu schaffen. Mein Zimmer lag ziemlich luftig-hoch im Hause, und die Treppe, die diese Ecke mit dem Hauptbau verband, war nur durch einen Flur zu erreichen, der an des Rektors Zimmer vorbeiführte. Die Dienstboten mochten mich alle gern leiden, und da ich wußte, daß mich keiner von ihnen verraten würde und daß ich mich zuverlässig auf sie verlassen konnte, teilte ich mein Vorhaben einem Diener des Rektors mit. Dieser Kerl schwur mir, alles, was ich verlangte, zu tun und, wenn es so weit sei, heraufzukommen, um den Koffer nach unten zu befördern. Ich befürchtete zwar, daß das die Kräfte eines einzelnen Mannes übersteigen würde, aber der Diener war ein mehr als kräftiger Mann, der zudem verlangte, den Koffer allein zu tragen. Voller Angst wartete ich eine Zeitlang am Fuße der Treppe, zweifelnd, ob das Wagnis gelingen würde. Ich hörte ihn denn auch mit festen, kräftigen Schritten heruntersteigen, ganz langsam - bis er sich der gefährlichen Stelle, dem Flur, näherte. Wohl durch die Aufregung mag sein Tritt unsicher geworden sein; er glitt aus, und die gewaltige Last stürzte von seinen Schultern, donnerte mit immer zunehmender Gewalt über die Treppenstufen herunter, bis sie schließlich unten ankam und mit einem Lärm, als waren zwanzig Teufel los, gerade gegen die Schlafzimmertüre des »Archididaskalos« polterte. Da durchschoß es mich, daß ich nun verloren sei oder, wenn überhaupt noch etwas zu machen wäre, ich mein Gepäck im Stiche lassen müßte. Dann aber Zwang ich mich, den Ausgang der Sache erst einmal abzuwarten. Der Diener war sowohl wegen seiner als meiner Person recht bestürzt; doch drängte sich ihm das Gefühl für die Lächerlichkeit der Situation so unwiderstehlich auf, daß er in ein so gewaltig dröhnendes Gelächter ausbrach, daß es selbst die Siebenschläfer hätte wütend aus dem Schlafe fahren machen. Und diese Heiterkeit, so nahe den Ohren der beleidigten Autorität, wirkte so ansteckend, daß ich mit einstimmen mußte - weniger wegen der Arglist des Koffers als wegen der Wirkung, die sie auf den Diener ausübte. Wir beide hielten es für selbstverständlich, daß im nächsten Augenblicke der Doktor aus seinem Bau herausstürzen würde, denn gewöhnlich sprang er, wenn sich nur ein Mäuslein rührte, heraus wie ein Hofhund aus der Hütte. Aber seltsam, als unser Höllengelächter endlich aus war, vernahmen wir keinen Laut, nicht einmal eine Bewegung, aus dem Schlafzimmer. Der Doktor hatte ein schmerzhaftes Leiden, das ihm so oft den Schlaf raubte, daß er, wenn er wirklich doch einmal kam, dann um so fester schlief. Die Stille gab uns Mut, der Diener lud die Bürde von neuem auf die Schultern und schaffte sie vollends herunter, ohne weiteren Zwischenfall. Ich wartete, bis ich den Koffer auf den Karren geladen und auf dem Wege zum Spediteur sah, dann, mit »der Vorsehung als Wegweiser«, machte ich mich zu Fuß auf. Unterm Arm trug ich ein kleines Paket mit Wäsche. Einen englischen Lieblingsdichter trug ich in der einen und ein Duodezbändchen in der anderen Tasche - neun kleine Dramen des Euripides.
Zuerst wollte ich wegen der Vorliebe, die ich für die Gegend hatte, und aus einigen persönlichen Gründen nach Westmoreland gehen. Ein Zwischenfall gab meiner Wanderung indes eine andere Richtung, und ich lenkte meine Schritte nach North Wales.
Nachdem ich eine Zeitlang durch Denbigshire, Merionethshire und Carnarvonshire gewandert war, fand ich in einem netten kleinen Hause Unterkunft. Hier hätte ich ruhig eine Zeitlang bleiben können, denn die Lebensmittel waren, durch den Mangel an genügenden Absatzgelegenheiten, bei dem Überfluß landwirtschaftlicher Erzeugnisse sehr wohlfeil. Eine unbeabsichtigte Beleidigung, die man mir zugefügt hatte, trieb mich leider bald weiter.
Bischofsfamilien bilden die stolzeste und selbstbewußteste Schicht der englischen Gesellschaft, die ihre Ansprüche am meisten nach außen hin zu zeigen pflegt. Der wirkliche Adel schleppt in seinen Titeln eine genügende Betonung seines Ranges mit herum und genießt überall so viel Bevorzugung, daß er es nicht für nötig hält, noch besonders zu posieren. Mit den Bischofsfamilien aber ist es anders; sie leisten geradezu Schwerarbeit, um ihre Ansprüche genügend ins Licht zu setzen. Bischofskinder tragen stets eine hochmütig abweisende Miene zur Schau, haben ein » Noli me tangere« im Gesicht, haben eine nervöse Angst vor zu vertraulicher Annäherung und schrecken mit einer Empfindlichkeit, wie ein Gichtkranker, vor jeder Berührung mit der Plebs zurück. Zweifellos wird gesunder Verstand oder ungewöhnliche Güte einen Menschen vor solchen Schwächen bewahren können; im allgemeinen wird man aber Zugeben müssen, daß ich nicht übertrieben habe. Vielleicht sind diese Familien gar nicht hochmütiger als andere, aber sie erwecken den Anschein, als wären sie es - und damit überträgt sich auch leicht ihr Benehmen auf das ihrer Diener und Untergebenen. Also: Meine biedere Wirtin in der kleinen Stadt war einmal Kindermädchen oder so etwas Ähnliches in einer Bischofsfamilie gewesen, hatte sich vor nicht allzulanger Zeit erst verheiratet und sich selbständig gemacht. In einer Kleinstadt bedeutet die Tatsache, einmal in einer Bischofsfamilie gelebt zu haben, etwas, und meine gute Wirtin besaß allerlei von dem Stolz, von dem ich eben geredet habe. Was »my lord« sagte, was »my lord« tat, wie nützlich er im Parlament wirkte und wie unersetzlich er in Oxford war, bildete den Hauptinhalt ihrer täglichen Unterhaltungen. All das ließ ich mir ganz gern gefallen, denn ich bin zu gutmütig, den Leuten ins Gesicht zu lachen, und habe auch eine kleine Schwäche für die Schwatzhaftigkeit alter Dienstboten. Tatsächlich scheint die gute Frau aber den Eindruck gehabt zu haben, daß ich nicht das nötige Verständnis für die Bedeutung ihres Bischofs aufbrachte, und vielleicht um mich zu bestrafen, berichtete sie mir eines Tages von einer Unterredung, in der ich eine Rolle gespielt hatte. Sie war eines Tages gekommen, um »Guten Tag« zu sagen, und war, da man gerade gespeist hatte, aufgefordert worden, ins Speisezimmer zu kommen. Beim Bericht über ihren jungen Hausstand hatte sie erwähnt, daß sie Zimmer vermietet hätte, und da hatte der gute Bischof sie darauf aufmerksam gemacht, daß sie bei der Wahl ihrer Mieter nur vorsichtig sein solle. »Denn, Betty,« hatte er gesagt, »unser Ort ist ein Durchgangspunkt zur Hauptstadt, und mancher irische Schwindler, der vor seinen Gläubigern nach England durchbrennt, und mancher englische, der aus demselben Grunde nach der Isle of Man sich flüchtet, wird vermutlich hier ab und zu sich aufhalten.« Dieser an sich sicherlich richtige Rat war wohl mehr zu Frau Bettys persönlichem Besten gegeben und nicht in der Absicht, daß sie ihn mir brühwarm wiedererzählen sollte. Was aber dann kam, war noch schlimmer. » Oh, my lord« - hatte die gute Frau nach ihrem eigenen Bericht gesagt, »ich glaube nicht, daß der junge Herr ein Schwindler ist, weil ...« »Sie glauben nicht, daß ich ein Schwindler bin!« unterbrach ich sie in einem Sturm von Entrüstung. »Für die Zukunft will ich Sie davor behüten, in dieser Hinsicht irgend etwas zu glauben!« und unverzüglich machte ich mich zur Abreise bereit. Die gute Frau schien nicht abgeneigt, einzulenken, aber irgendein Wort, das ich über ihren Bischof fallen ließ, erregte wieder ihren Unwillen, und jede Versöhnung wurde unmöglich. Tatsächlich war ich sehr aufgebracht über des Bischofs Manier, Argwohn gegen einen Menschen zu haben, den er nie gesehen hatte, und wollte ihm zunächst einmal gründlich meine Meinung sagen, und zwar - auf griechisch. Das sollte ihn überzeugen, daß ich kein Schwindler war, und ihn zwingen, in gleicher Sprache zu antworten, in welchem Falle, wie ich keinen Augenblick zweifelte, es sich herausstellen mußte, daß ich, wenn auch nicht so reich wie Seine Lordschaft, doch ein besserer Grieche sei. Ruhigere Überlegung brachte mich dann wieder von diesem knabenhaften Einfall ab, denn ich mußte mir sagen, daß der Bischof schließlich das Recht hätte, einer alten Dienerin einen Rat zu geben, und daß es nicht seine Schuld war, daß seine Worte mir zu Ohren gekommen waren; daß der Mangel an Zartgefühl, der Frau Betty veranlaßt hatte, sie mir zu berichten, es auch fertiggebracht hatte, diesen Worten eine Färbung zu geben, die mehr ihrer eigenen Art zu denken entsprach als der tatsächlichen Ausdrucksweise des würdigen Bischofs.
Innerhalb einer Stunde verließ ich die Wohnung, und das hatte gleich wieder unglückselige Folgen für mich, weil ich ja nun gezwungen war, in Gasthäusern zu leben - sehr zum Schaden meiner Börse. Nach Verlauf von vierzehn Tagen mußte ich mich schon auf schmale Ration setzen und mich mit einer Mahlzeit täglich begnügen. Der starke Appetit, den die tägliche Bewegung und die Bergluft hervorriefen, begann denn auch bald meinen jugendlichen Magen zu peinigen, denn das einzige Mahl, das ich ihm noch anbieten konnte, bestand aus ein wenig Kaffee oder Tee. Und gar bald konnte ich mir selbst das nicht mehr gestatten und nährte mich wahrend der ganzen Zeit, die ich noch in Wales blieb, von Heidelbeeren, Hagebutten, Schlehen und anderen Waldfrüchten - oder aber von gelegentlicher Gastfreundschaft, die mir hin und wieder für erwiesene kleine Dienste einmal zuteil wurde. Manchmal schrieb ich Geschäftsbriefe für Kleinbauern, die zufällig in London oder in Liverpool Verwandte hatten, noch öfter Liebesbriefe für junge Mädchen, die einmal Dienstboten in Shrewsbury oder in den Städten an der englischen Küste gewesen waren, an ihre Liebhaber. Stets erfuhr ich Anerkennung bei solchen Gelegenheiten und wurde gewöhnlich durch weitgehende Gastfreundschaft belohnt. Einmal wurde ich in der Nähe eines Dorfes, Llan-y-styndw oder so ähnlich, in einem entlegenen Teile von Merionethshire von jungen Leuten drei Tage lang mit einer Freundlichkeit und Brüderlichkeit beherbergt, daß sie einen unvergänglichen Eindruck auf mein empfängliches Herz machte. Die Familie bestand aus vier Schwestern und drei Brüdern, allesamt erwachsen und sich durch feinfühliges, guterzogenes Wesen auszeichnend. So viel Schönheit und so viel natürliche Herzensbildung und Vornehmheit erinnere ich mich nicht je vor- oder nachher wieder in einer so einfachen Hütte angetroffen zu haben - vielleicht ein- oder zweimal in Westmoreland und Devonshire ausgenommen. Sie sprachen Englisch, eine Fähigkeit, die man nur selten bei so vielen Familiengliedern auf einmal findet, besonders nicht in Dörfern, die weit von der Straße abliegen. Hier schrieb ich zunächst einen Brief über Prisengelder für einen der Brüder, der in der englischen Kriegsmarine gedient hatte, und dann - etwas geheimnisvoller - zwei Liebesbriefe für zwei der Schwestern. Beide waren sehr anziehende junge Mädchen, ja die eine von wahrhaft bestrickender Liebenswürdigkeit. In ihrer Verwirrung und ihrem Erröten während sie mir diktierten oder eigentlich mehr Anweisungen gaben, war es nicht schwer zu erkennen, daß sie doch den Wunsch hatten, daß der Brief so viel von Liebe und Innigkeit enthalten sollte, als sich irgend mit ihrem Mädchenstolze vereinigen ließ. Ich gab mir alle Mühe, Ausdrücke zu finden, die beiden Gefühlen am besten Genüge taten, und sie waren ebenso froh wie ich selbst, daß ich ihre Gedanken so gut ausgedrückt, wie in ihrer Einfalt erstaunt, daß ich sie so gut erraten hatte. Die Aufnahme, die man von den Frauen einer Familie gemacht bekommt, entscheidet gewöhnlich den Ton, den die übrigen Familienglieder anschlagen. In diesem Falle hatte ich meinen Vertrauensposten als Privatsekretär so sehr zur allgemeinen Zufriedenheit ausgefüllt und erheiterte vielleicht auch die Leutchen so mit meiner Unterhaltung, daß sie mit einer Herzlichkeit, der ich nicht zu widerstehen vermochte, in mich drangen, bei ihnen zu bleiben. Ich schlief im Zimmer der Brüder, weil das einzige unbenutzte Bett im Zimmer der Mädchen stand. Aber sonst begegnete man mir mit einer Liebenswürdigkeit, die Börsen, so leicht wie die meine damals war, nicht oft erwiesen wird. Meine Kenntnisse waren ihnen genügend Ausweis dafür, daß ich aus »edlem Blute« sei. So lebte ich denn drei Tage und den größeren Teil eines vierten bei ihnen, und die unverminderte Freundlichkeit, mit der man mir begegnete, läßt mich glauben, daß ich bis zum heutigen Tage bei ihnen hätte leben können, wenn das allein von ihren Wünschen abgehangen hätte. Am letzten Morgen jedoch, als wir beim Frühstück saßen, las ich in ihren Mienen, daß sie mir eine unerfreuliche Eröffnung zu machen hatten, und bald darauf erzählte mir einer der Brüder, daß ihre Eltern am Tage vor meiner Ankunft zu der jährlich in Carnarvon stattfindenden Methodistenversammlung gefahren seien und an diesem Tage zurückerwartet würden, und, »wenn sie nicht so liebenswürdig sein werden, wie es notwendig wäre«, bat er mich im Namen seiner Geschwister, möchte ich das doch nicht krummnehmen. Die Eltern kamen mit groben Gesichtern zurück und hatten auf alle meine Fragen nur die Antwort » Dym Sassenach«, sprachen walisisch und verstanden nicht, was ich sagte. Ich sah, wie die Sache stand, nahm herzlichen Abschied von meinen lieben freundlichen jungen Freunden und ging meiner Wege. Denn, wenngleich sie so warm zu ihren Eltern von mir sprachen und bei mir das Benehmen der alten Leute damit zu entschuldigen suchten, daß »das nun einmal ihre Art sei«, begriff ich doch sofort, daß meine Fähigkeit, Liebesbriefe zu schreiben, mich ebensowenig bei diesen ergrauten walisischen Methodisten empfehlen konnte als meine griechischen Verse, und daß das, was Gastfreundschaft war, wenn es von meinen jungen Freunden so liebenswürdig geboten wurde, zum Almosen weiden mußte unter dem unfreundlichen Wesen dieser alten Leute.
Kurze Zeit später gelang es mir - der Raum verbietet die Art ausführlich zu erzählen - nach London zu kommen. Und nun begann die nächste und schlimmste Zeit meiner Leiden. Ohne zu übertreiben, darf ich sagen, eine Zeit der Todesqual. Denn ich erlitt sechzehn Wochen hindurch Hungerqualen in immer gesteigertem Maße, wie sie schrecklicher kaum je ein menschliches Wesen erlebt oder überlebt hat. Ich will meine Leser nicht mit der Aufzählung der Einzelheiten dieser Qualen peinigen; denn Dinge wie diese kann das verhärtetste menschliche Herz nicht nennen hören, ohne daß die natürliche Güte durchbricht und ein schmerzliches Mitleiden erzeugt, auch dann, wenn Schuld und Fehle vorausgingen. Es mag genügen, daß ich erzähle, daß einige wenige Abfälle vom Frühstückstische eines Menschen, der mich für krank hielt und nicht wußte, in welcher Not ich mich befand - und auch dieses wenige nur ganz unregelmäßig -, meine einzige Nahrung bildeten.
In der ersten Zeit meiner Passion war ich obdachlos, und nur selten einmal schlief ich unter Dach. Diesem dauernden Aufenthalt in der freien Luft schreibe ich es zu, daß ich nicht den Verhältnissen erlag. Später jedoch, als kälteres und unfreundlicheres Wetter eintrat, und als ich durch die andauernde Entbehrung schon ziemlich auf dem Hund war, war es zweifellos ein Glück für mich, daß mir der Mann, von dessen Frühstückstische ich die Krumen auflesen durfte, erlaubte, in einem großen unbewohnten Hause, das ihm gehörte, zu schlafen. Unbewohnt nenne ich es, weil weder ein Haushalt noch irgendwelche Einrichtungsgegenstände sich vorfanden. Tatsächlich gab es im ganzen Hause außer einem einzigen Tische und einigen Stühlen keinerlei Möbel. Aber als ich von meinem neuen Quartier Besitz nahm, fand ich, daß doch schon ein Bewohner da war - ein armes, heimatloses Kind von vielleicht zehn Jahren. Aber Hunger und Leiden lassen Kinder oft älter aussehen, als sie tatsächlich sind. Von diesem verlorenen kleinen Mädchen erfuhr ich, daß sie, bevor ich einzog, ganz allein in den öden Räumen gewohnt und geschlafen hatte; wie freute sie sich, als sie hörte, daß in Zukunft ich ihr Gefährte in den dunklen Nachtstunden sein würde! Das Haus war sehr groß, und da es, wie gesagt, völlig leer stand, schallte der Radau, den die Ratten auf den weiten Treppen und Fluren machten, doppelt laut. Und bei all den Leiden, die die verlassene Kleine durch Kälte - und wohl auch durch Hunger - durchzumachen hatte, litt sie noch unter der Furcht vor Gespenstern. Ich versprach ihr, sie vor allen Gespenstern in Schutz zu nehmen; aber, ach, irgendeine andere Hilfe konnte ich ihr nicht spenden. Wir schliefen auf dem Fußboden und benutzten ein paar Bündel alter Gerichtsakten als Unterbett und als Decke irgend etwas, das vielleicht einmal ein Kutschermantel gewesen war. Später fanden wir in einem Bodenverschlag einen alten Sofabezug und noch andere Lumpen - ein Stück von einer alten Decke -, die uns ein bißchen mit warm halten mußten. Das arme Kind kroch ganz dicht an mich heran, um sich warm zu halten und um Schutz vor den Geistern zu finden. Wenn ich mich nicht kränker als gewöhnlich fühlte, nahm ich sie in meine Arme, so daß sie es ziemlich warm hatte und oft schlief, wenn ich nicht schlafen konnte; denn während der letzten zwei Monate meiner Leidenszeit schlief ich viel bei Tage und konnte zu allen Stunden in ein vorübergehendes Vormichhindösen verfallen. Aber der Schlaf strengte mich mehr an als das Wachen, weil die gräßlichsten Träume mich plagten - Träume, die allerdings noch nicht so entsetzlich waren wie die, die ich später als die Folgen des Opiums zu beschreiben haben werde; so war mein Schlaf nicht mehr als das, was man »Hundeschlaf« nennt. Oft hörte ich mich selbst im Schlafe stöhnen, und manchmal wurde ich durch meine eigene Stimme wach. Und um den Schreck vollzumachen, plagte mich um diese Zeit zum ersten Male ein Leiden, das ich später immer wieder bekam und das in den verschiedenen Perioden meines Lebens mich immer wieder anfiel. Sobald ich in Schlaf fiel, begann es mich zu quälen. Es war eine Art Kneifen im Magen, das mich oft zwang, die Füße gewaltsam auszustrecken, um Erleichterung zu finden. Dieser Zustand überfiel mich, sooft ich einschlafen wollte, und die gewaltsame Bewegung rüttelte mich immer wieder wach, so daß ich schließlich, wenn ich wirklich einmal endlich Schlaf fand, das nur vor Erschöpfung tat. Durch dieses ununterbrochene Wachsein befand ich mich schließlich in einem Zustande zwischen fortgesetztem Eindämmern und Auffahren. Der Herr des Hauses kam ganz unregelmäßig. Manchmal erschien er schon ganz früh, manchmal erst gegen zehn Uhr abends. Manchmal auch überhaupt nicht. Er war in dauernder Furcht vor der Polizei. Nach Cromwells Vorbilde schlief er jede Nacht in einem andern Viertel von London; ich beobachtete sogar, daß er immer erst durch ein kleines Fenster sich davon überzeugte, wer da war, ehe er ging, um demjenigen, der klopfte, die Tür zu öffnen. Er frühstückte allein. Sein Teeservice hätte auch kaum gereicht, daß er es hätte wagen können, eine zweite Person einzuladen, und ebensowenig die eßbaren Vorräte, die meist nur in einem Brötchen oder einigen Zwiebäcken, die er an der nächsten Straßenecke zu kaufen pflegte, bestanden. Sollte er doch ab und zu Gäste gehabt haben, und manchmal schien mir das bei aufmerksamer und scharfer Beobachtung beinahe der Fall gewesen zu sein, so müssen sie aus der vierten Dimension gekommen sein. Während seines Frühstücks machte ich mir ab und zu eine Ausrede, um Grund zum Betreten seines Zimmers zu finden; dann räumte ich mit so gleichgültiger Miene, als ich irgend zu machen vermochte, die Reste, die er übriggelassen hatte, zur Seite - aber manchmal fand ich nichts abzuräumen. Wenn ich das tat, so schadete ich niemandem als dem Manne selbst, der vielleicht genötigt war, sich ab und zu abends noch ein Biskuit holen zu lassen. Denn was das arme Kind anbetrifft, so durfte es nie in sein Studierzimmer, wenn man dem mit alten Pergamenten, Rechtsbüchern und ähnlichem Gerümpel angefüllten Räume diesen Namen zubilligen wollte, betreten. Dieser Raum war für sie das Blaubartzimmer des Hauses, das stets, wenn der Herr um sechs Uhr zum Essen ging, sorgfältig verschlossen wurde. Dann ging er fort und blieb die Nacht hindurch außerhalb. Ob das kleine Mädchen etwa sein uneheliches Kind oder nur ein kleiner Dienstgeist war, habe ich nie festzustellen vermocht. Es selbst wußte gar nichts. Aber behandelt wurde es, als ob es ein richtiges Dienstmädchen sei. Sobald der Herr erschien, ging es nach unten, bürstete ihm Schuhe und Rock sauber und leistete andere kleine Dienste. Wenn es nicht gerade fortgeschickt wurde, um irgend etwas zu besorgen, kam es sonst den ganzen Tag nicht aus seinem Küchenloch heraus - nicht früher, als bis mein Klopfen am Abend seine zitternden Schritte zur Haustüre lockte. Von dem Leben, das es bei Tage führte, erfuhr ich nur das wenige, das es mir nachts manchmal erzählte. Denn sobald morgens die Geschäfte öffneten, ging ich fort und saß in den öffentlichen Parkanlagen herum, bis die Dunkelheit wieder einbrach.
Tasuta katkend on lõppenud.