Laszive Landhausriten

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Laszive Landhausriten
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Thomas Neumeier

Laszive Landhausriten

© Begedia Verlag 2013

© Thomas Neumeier 2013

Vermittlung – Agentur Ashera

Umschlagbild – Shutterstock

Covergestaltung und Satz – Harald Giersche

Lektorat – Olaf G. Hilscher

ebook-Bearbeitung – Begedia Verlag

ISBN – 978-3-957770-39-4 (epub)

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Kapitel 1

Als Leo eine Bewegung hinter einem der erleuchteten Fenster im zweiten Stock wahrnahm, setzte er erneut das Fernglas an. Die Lücke zwischen dem Haselnussstrauch und den Auswüchsen der mächtigen Tanne, zu deren Füßen er lag, war groß genug, um das gesamte Areal im Auge zu behalten. Es war der optimale Beobachtungsposten, hoch gelegen und bestens getarnt.

Leo lenkte das Okular die lange Reihe mächtiger Flügelfenster entlang, bis er jenes fand, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Er erspähte eine dunkelhaarige Frau, lachend und völlig unbekleidet, die sich mit einer anderen, nicht sichtbaren Person im Zimmer unterhielt. Indem sie die roten Vorhänge zuzog, schloss sie Leo aus.

Nur Augenblicke später weckte das eiserne Tor seine Aufmerksamkeit, als ein weiterer Wagen vorfuhr. Es war ein VW neueren Modells, die Farbe war in der fortgeschrittenen Abenddämmerung nicht genau zu erkennen. Ein Mann in legeren Freizeitklamotten stieg aus und trat auf den Anzugträger jenseits der Gitterstäbe zu, der an diesem Abend die Torwache spielte. Nach einem kurzen Wortwechsel wurde das Tor geöffnet, der VW durfte einfahren. Leo verfolgte seinen Weg durch den Garten zum Parkplatz an der Rückseite des Anwesens, wo seiner Schätzung nach inzwischen rund sechzig Fahrzeuge parken mussten.

In einem anderen Fenster des zweiten Stockwerks flammte Licht an, was Leo zum Anlass nahm, sein Sichtfeld entsprechend zu verändern. Da nahezu überall Vorhänge tiefere Einblicke in das Gebäude verwehrten, war er für jede solcher Gelegenheiten dankbar. Für einen kurzen Moment rückten hinter der Glasscheibe zwei dunkle Gestalten ins Blickfeld, die eine Kiste oder Truhe zwischen sich her trugen. Augenblicke später erlosch das Licht wieder.

Leo setzte sein Fernglas ab, als er das Knacken eines brechenden Zweiges irgendwo hinter sich vernahm. Vorsichtig fuhr er herum und richtete sich auf. Die Silhouetten der Bäume und Sträucher verharrten unbeweglich und still. Allmählich kroch die Dunkelheit des Waldes über seine Grenzen hinaus und nahm vom restlichen Land Besitz. Am Himmel leuchteten die ersten Sterne auf.

In der Annahme, falschem Alarm aufgesessen zu sein, widmete sich Leo wieder dem Gebäude. Das Hoflicht war zwischenzeitlich eingeschaltet worden und erhellte die kurze Auffahrt vom Tor bis zur Hauspforte.

Genau wie beim letzten Mal, als Leo auf der Lauer lag, hatte bislang niemand nach Abstellen seines Wagens das Haus umrundet, um an der Vordertür Einlass zu begehren. Für die Gäste musste folglich irgendwo an der Rückseite ein Eingang offen stehen. Leo hätte gerne noch auf die Ankunft seiner Zielperson gewartet, doch um für seine Annahme Bestätigung zu finden, beschloss er nun, seinen Standort zu wechseln. Da die Nacht schon Einzug hielt, konnte er es riskieren, seine Deckung zu verlassen.

Im Abstand von etwa zwanzig Metern umrundete Leo den eisernen Zaun, der das Grundstück einschloss. Hinter den Fenstern des Erdgeschosses und des ersten Stockwerks brannte fast überall Licht, doch Vorhänge verwehrten jeglichen Ein- und Ausblick. Auf einem der Bäume im Inneren des Eisenzauns bemerkten Leos scharfe Augen einen blinkenden roten Punkt. Vermutlich handelte es sich um eine Sicherheitskamera. Leo war deswegen nicht weiter beunruhigt. Selbst wenn sie seine Schritte hier draußen aufzeichnete, in der Dunkelheit wäre er unmöglich zu identifizieren.

An der Rückseite des Grundstückes angelangt, suchte Leo am Waldrand Deckung hinter einem Busch. Er wollte nicht riskieren, zufällig in die Scheinwerferlichter ankommender Fahrzeuge zu geraten, wenn sie den großen Schotterparkplatz ansteuerten.

Die rückseitige Perspektive des Gebäudes bekam er zum ersten Mal zu Gesicht. Auf einer imposanten, dem Parkplatz deutlich erhobenen Terrasse hatten sich zahlreiche Gäste eingefunden. In eleganter Abendgarderobe standen sie in Grüppchen beisammen, tranken Wein, Sekt oder vielleicht auch Champagner und naschten von kleinen Häppchen, die auf Tischen bereitlagen. Der danebst befindliche Swimmingpool war festlich beleuchtet, wurde aber nicht benutzt. Auf einem Balkon im zweiten Stockwerk hatten sich ebenfalls Personen eingefunden und beäugten das Treiben auf der Terrasse. Leo nahm die Leute eingehender ins Visier. Bislang kam ihm niemand bekannt vor, doch er war sich gewiss, dass sich das noch ändern würde. Mindestens eine Person, die sich über kurz oder lang zu dieser illustren Schar gesellen würde, kannte er nur allzu gut.

Ein weiterer Wagen umrundete das Gebäude und reihte sich zu den abgestellten Fahrzeugen am Parkplatz. Mann und Frau, beide in den mittleren Jahren und in sommerliche Ausgehkleidung gewandet, entstiegen ihm. Leo verfolgte ihren kurzen Fußmarsch zu einer Tür unterhalb der Terrasse, wo ihnen nach kurzem Verharren geöffnet wurde. Inwieweit sie eine Klingel betätigt hatten, war ihm entgangen.

Die Frau, die den beiden Einlass gewährte, trug eine weiße Gesichtsmaske, die von roten Federn umrandet war. Darüber hinaus trug sie nichts. Obgleich ihr Gesicht verborgen war, verriet der makellose Körper eine ganze Menge über sie: Jugend, Gesundheitsbewusstsein, Vitalität. Nachdem die neu angekommenen Gäste eingetreten waren, verschloss sie die Tür wieder.

Ein Rascheln im rückwärtigen Gebüsch ließ Leo zusammenzucken. Er wirbelte herum, doch noch geblendet vom Licht des Gebäudes stierte er zunächst in vollkommene Schwärze. Als sich seine Augen nach ein paar Sekunden auf die Lichtverhältnisse eingestellt hatten, sah er nichts außer Baumsilhouetten, Sträucher und dunkles Buschwerk. Er verfluchte seine Nervosität. Es gab nicht den geringsten Grund, schreckhaft zu sein, impfte er sich nachdrücklich ein. In jedem Wald gab es Geräusche. Niemand hier wollte ihm etwas antun. Selbst wenn man ihn hier draußen entdecken und stellen würde, dieser Wald war Staatseigentum und damit jedermann zugänglich.

Leo nahm sich wieder dem Gebäude an. Als er einen Audi A1 in den Parkplatz einrollen sah, schlug sein Herz einen Takt schneller. Die Farbe des Wagens war im Zwielicht der Hofbeleuchtung und der umgebenden Finsternis nicht klar auszumachen, doch als ihm ein kurzer Spähblick auf das Autokennzeichen vergönnt war, sah er sich in seinen Erwartungen bestätigt: Sandra Ratzmann war soeben eingetroffen.

Leo setzte das Fernglas ab und atmete tief durch. Als er das Areal erneut in Augenschein nahm, stieg Sandra aus ihrem Wagen. Ihr mokkabraunes Haar wehte im abendlichen Sommerwind, der das Areal umspielte. Das schwarze Kleidchen, in dem sie steckte, hatte sie auch bei der letzten Parteiversammlung getragen, als man ihr den verantwortungsvollen Posten der Ortsvorsitzenden angetragen hatte. Flüchtig leckte sie ihren bezaubernden Erdbeermund, ging zum Heck des Wagens und nahm eine Sporttasche aus dem Kofferraum. Leo wusste ziemlich genau, was dieses Gepäckstück enthielt.

Sandra machte sich auf den Weg zur Tür. Ihr Gang war Leo eine Augenweide. Ihr beschwingter Schritt und das damit verbundene, perfekt harmonische Zusammenspiel von Hüfte, Po und Beine hatte ihn schon immer betört.

Es sah nicht so aus, als ob Sandra angeklopft oder eine Klingel betätigt hatte. Die Tür öffnete sich trotzdem wie von selbst. Erneut erschien die gefiederte Nackte unter dem Türbogen und komplimentierte Sandra mit einer weichen Geste ins Gebäude. Dieser Offerte entsprach sie ohne Verzögerung. Hinter ihr wurde die Tür wieder geschlossen.

Was spielte sich in diesen Mauern ab? Leo hatte ein paar Angewohnheiten dieser Leute zusammengetragen, aber der Zweck ihrer Treffen war ihm nach wie vor rätselhaft. Anfänglich hatte er angenommen, es würde sich um exklusive Partys für gutsituierte Leute handeln, bei denen Sandra gelegentlich politische Kontakte knüpfte und bereits vorhandene pflegte. Das aber war bestenfalls der halbe Sachverhalt. Entsprechende Partys waren üblicherweise öffentlich bekannte Veranstaltungen, zu der auch die Presse eingeladen war, und keine verborgenen Zusammenkünfte in abgelegenen Herrenhäusern, bei denen den Gästen obskure Losungssprüche abverlangt wurden, um eingelassen zu werden.

Nachdem Leo einen weiteren Gast durch die Hintertür hatte eintreten sehen, zog er sich zu seinem ursprünglichen Beobachtungspunkt unter der Tanne zurück. Er war bereit, aufs Ganze zu gehen und Sandras Geheimnis zu ergründen. Wenn da nur diese verdammte Nervosität nicht wäre, die ihm womöglich alles zunichte machen würde.

Ein weiterer Wagen hielt am Tor an und begehrte Einlass, welcher ihm ohne Schwierigkeiten gewährt wurde. Leo kannte den heutigen Losungsspruch, demzufolge müsste man auch ihm den Zutritt gestatten. Doch was dann? Würde er sich anderweitig verraten? Enttarnen, dass er sich den Spruch ergaunert hatte und überhaupt nicht eingeladen war?

Den lockenden Preis, endlich herauszufinden, womit Sandra sich an solchen Abenden, an denen sie für nichts und niemanden zu erreichen war, die Zeit vertrieb, erachtete Leo als wertvoll genug, dieses Risiko auf sich zu nehmen. Im schlimmsten Fall würde man ihn abweisen oder rauswerfen. Mit beiden Schmähungen konnte er leben. Für die Aussicht, Sandras Geheimnissen auf die Spur zu kommen, war er auch bereit, mehr als das zu riskieren. Er gestand es sich nur widerwillig ein, doch er war von ihr besessen.

Wild entschlossen, sein lange gehegtes Vorhaben heute Nacht endlich in die Tat umzusetzen, nahm Leo den Weg zu seinem Wagen in Angriff. Er hatte ihn auf einem nahen Forstpfad abgestellt. Das Fahrzeug war schon in Sichtweite, als ihn erneut ein Geräusch aufschreckte. Dieses Mal war es der Schrei eines Uhus. Zum wiederholten Male mahnte sich Leo zur Ruhe. Er atmete tief durch, dachte an seinen Yoga-Lehrer und versuchte seine innere Mitte wiederzufinden. Sein Vorhaben erforderte absolute Coolness.

 

Sein Wagen hatte schon Form in der Finsternis angenommen, als Leo abrupt innehielt. Spielten ihm seine Augen einen Streich oder hockte da jemand auf seiner Kühlerhaube? Er sah genauer hin. Entweder er war einer optischen Täuschung aufgesessen oder ... dort bewegte sich etwas!

Gewissheit erlangte er, als ein grelles Licht aufleuchtete und ihm frontal in die Augen schoss.

»Ahh!«, stieß er aus und hob zum Schutz beide Arme an.

»Guten Abend, Herr Leder«, sprach eine männliche Stimme.

Sie gehörte fraglos jener Person, die auf seiner Kühlerhaube lümmelte und ihn mit einer ungehörig leistungsfähigen Taschenlampe blendete.

»Eine herrliche Nacht für einen Spaziergang, was?«

»We-wer sind Sie?«, erwiderte Leo starr und war bemüht, sich seinen Schrecken nicht anmerken zu lassen. Am liebsten hätte er Reißaus genommen.

Von ihm beinahe unbemerkt hatte sich eine weitere Person zur Szenerie gesellt. Sie war keine zwei Schritte neben ihm hinter einem Baum hervorgetreten.

»Sei so nett und lösche die Lampe, Veit«, sprach diesmal eine weibliche Stimme.

Anhand des trockenen Tonfalls durchschaute Leo, mit wem er es zu tun hatte. Es waren die beiden Kripobeamten, die ihn vor ein paar Tagen schon einmal aufgesucht und ihm etliche sensible Fragen zu Sebastian Seidel gestellt hatten, ihren kürzlich verblichenen Parteiortsvorsitzenden. Was in aller Welt taten die hier?

Der männliche Beamte gehorchte seiner Kollegin widerspruchslos und löschte das gleißende Licht. Leo ließ die schützenden Arme nur zögerlich sinken. Die Frau - Leo kannte nur ihren Nachnamen, Handler - knipste eine weitaus angenehmere Handlampe ein und richtete den Lichtfokus auf Leo. Der andere Kriminalbeamte hieß Schwaab, wie Leo sich erinnerte.

»Was machen Sie hier, Herr Leder?«, fragte Handler geradeheraus.

»Och, ich bin ein wenig durch die Gegend gefahren«, log Leo unbeholfen.

»Verstehe, und dann hier ausgestiegen, um ein wenig spazieren zu gehen«, führte Handler an und nickte abschätzig vor sich hin. »Ein bisschen frische Waldluft schnuppern, was?«

»Ja. Ja, genau.«

»Haben Sie immer ein Fernglas dabei, wenn Sie Waldluft schnuppern?«

»Ahm ... ja, meistens. Wegen der Tiere und Vögel und so.«

»Weil man die vor allem nachts gut beobachten kann, wie?«

»Nun ...«

»Warum machen Sie Ihren Spaziergang nicht ein wenig heimatnäher? Weshalb nehmen Sie eine Autofahrt von fast einhundertdreißig Kilometern im Kauf? Haben Sie besondere Ansprüche an einen Wald, denen die Oberpfälzer Wälder nicht gerecht werden?«

»Ich ... nun, ich ... also, vor allem wegen der Tiere halt und ...«

»Sie stellen Sandra Ratzmann nach«, bemerkte ihr Kollege Veit Schwaab aus dem Hintergrund und trat dann gemessen vor Leo hin. »Mich würde brennend interessieren, weshalb Sie das tun, Herr Leder. Sind Sie etwa ein gottverdammter Stalker?«

»Ich soll ein ... aber nein, natürlich nicht!«, wehrte Leo empört von sich. »Und selbst wenn, was geht Sie das an? Wieso verfolgen Sie mich?«

»Wir sind Ihnen gar nicht gefolgt, Herr Leder«, erklärte Schwaab genüsslich. »Umso erstaunter sind wir, dass wir Sie hier antreffen.«

Leos Verstand arbeitete und zog entsprechende Schlüsse. Natürlich, die beiden hatten nicht ihm, sondern Sandra nachgeschnüffelt.

»Wieso stellen Sie Ihrer Parteifreundin nach, Herr Leder?«, fragte Handler.

Dieselbe Frage hätte Leo gern den beiden Kripobeamten gestellt.

»Ist das verboten? Hat Sandra mich angezeigt?«

»Beantworten Sie die Frage.«

Leo zuckte unschuldig mit den Schultern. »Ich wollte herausfinden, was sie heute Nacht vorhat.«

»Aus welchem Grund?«

»Aus keinem speziellen. Ich war einfach neugierig.«

»Woher haben Sie denn gewusst, dass sie etwas vorhat?«

»Ich ... ich habe es vermutet.«

»Vermutet, so so. Und woher rührt diese Vermutung?«

»Jetzt hören Sie mal, ich kenne meine Rechte. Ich muss nicht mit Ihnen reden! Was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Wir haben erfahren, dass Sie und Frau Ratzmann einst liiert gewesen sind.«

»Wieso schnüffeln Sie uns nach?«

»Bestreiten Sie eine frühere Liaison mit ihr?«

»Nein, mitnichten! Aber das ist fast zehn Jahre her.«

»Ist uns bekannt. Arbeiten Sie gerade an einer Neuauflage dieser Beziehung?«

»Nein, ich wollte nur wissen, was sie heute Nacht macht!«

»Und was macht sie?«

»Ich habe keine Ahnung!«

»Verstehen Sie was von Autos, Herr Leder?«, fragte Schwaab für Leo völlig aus dem Kontext gerissen.

»Von Autos?«

»Ja, von Autos. Die fahrenden Dinger mit den vier Rädern. Hier steht eins. Wüssten Sie sich zu helfen, sagen wir bei einem unerwarteten Motorschaden?«

»Nein, ich verstehe überhaupt nichts von Autos! Ich bin Buchhalter! Das wissen Sie doch!«

»Führt Ihr Vater nicht eine Kfz-Werkstatt? Ist es möglich, dass von seinem Fachwissen rein gar nichts auf Sie übergeschwappt ist?«

»Meine Schwester hat den Betrieb übernommen. Ich habe bedauerlicherweise nie ein Händchen für Mechanik gehabt.«

Trotz der unsteten Lichtverhältnisse entging Leo nicht, wie die beiden Kriminalkommissare einen Blick austauschten.

»Nicht weit von hier steht ein prächtiges Herrenhaus«, fuhr Handler fort. »Was können Sie uns darüber sagen?«

»Gar nichts«, beteuerte Leo. »Ich weiß nicht, wer dort wohnt oder wem es gehört.«

»Aber Sie kennen es.«

»Ich habe es vorhin beim Spazierengehen gesehen, ja.«

»Mit Ihrem Fernglas?«

»Ahm ... ja, sozusagen.«

»Dann erzählen Sie uns doch mal, was Ihr Spaziergang ergeben hat.«

Leo schluckte und sah ein, dass es wenig Sinn hatte, noch irgendetwas zu leugnen. Die beiden wussten genau, was er hier trieb und dass er das Haus observiert hatte.

»Eine Menge Partygäste«, räumte er ein. »Scheint mir eine feine Gesellschaft zu sein.«

»Und Sie sind nicht eingeladen?«

»Nein.«

»Haben Sie ein paar bekannte Gesichter ausmachen können?«

»Nein, niemanden. Nun ja, bis auf Sandra.«

Die beiden Polizisten musterten ihn schweigend.

»Kann ich jetzt endlich gehen?«, legte Leo nach.

»Selbstverständlich«, betonte Schwaab. »Wo soll es denn noch hingehen heute Nacht?«

»Nach Hause«, gab Leo zur Antwort.

Obgleich es ihm vernünftig erschien, gegenüber der Polizei möglichst bei der Wahrheit zu bleiben, sträubte sich etwas in ihm, den beiden zu verraten, was er tatsächlich vorhatte. Er schwang sich in seinen Škoda und schloss die Fahrertür hinter sich.

»Gute Fahrt und angenehmen Heimweg«, warf ihm Schwaab hinterher und pochte dabei auf die Kühlerhaube wie auf einen Kneipentisch ein.

Leo startete den Wagen und fuhr die etwa vierzig Meter rückwärts auf die Teerstraße zurück. Er folgte ihr keine volle Minute lang, dann hielt er atemlos am Fahrbahnrand an, um seine Gedanken zu ordnen.

Hätte Leo nicht schon vor Jahren mit dem Rauchen aufgehört, wäre dies einer der Momente gewesen, an denen er eine Kippe so nötig wie den Sauerstoffgehalt der Luft hatte. Dabei bewirkte Nikotin im Grunde das exakte Gegenteil als der Nervosität entgegen zu wirken. Leo atmete tief durch und dachte an die Baldrianpillen zu Hause in seinem Medizinschrank, doch bezweifelte er, dass sie ihm im Augenblick von Nutzen wären.

Was ging hier vor? Weshalb trieben sich die beiden Kripobeamten in der Nähe dieses eigentümlichen Gebäudes herum? Sie hatten behauptet, nicht ihm nachgeschnüffelt zu haben. Falls das der Wahrheit entsprach, mussten sie Sandra observiert haben und dann im Wald zufällig auf seinen Wagen gestoßen sein. Doch warum stellten sie Sandra nach?

Leo erinnerte sich an Schwaabs Bemerkung mit den Autos und seine Frage, ob er etwas davon verstünde. Sebastian Seidel, ihr ehemaliger Parteiortsvorsitzender, war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wenn man die losen Fäden zusammenfügte, konnte man nur einen einzigen Schluss ziehen: Die Kripo glaubte offenbar nicht an einen Unfall. Und wenn sie Sandra nachstellten, konnte das eigentlich nur bedeuten, dass sie es war, die sie des Mordes verdächtigten.

Hitze- und Kälteschübe tobten in Leo. Konnte Sebastian tatsächlich einem Mordanschlag zum Opfer gefallen sein? Die beiden Kommissare hatten sich diesbezüglich keinerlei Blöße gegeben, doch was sonst konnte man aus ihrem Gehabe schließen? Wahrscheinlich hatten die kriminaltechnischen Untersuchungen irgendeine Form von Sabotage an Sebastians Fahrzeug ergeben, woraus die verhängnisvolle Kollision mit der Buche resultierte.

Leos Gedanken wanderten zu Sandra. Nach Sebastians Tod war sie von der stellvertretenden Ortsvorsitzenden zur Ortsvorsitzenden aufgerückt und hatte keine schlechten Aussichten, im nächsten Jahr die Bürgermeisterwahl für sich zu entscheiden. Doch war das Motiv genug, ihren langjährigen Parteifreund und Förderer Sebastian ins Jenseits zu befördern? Wohl kaum.

Sandra war zweifellos eine ehrgeizige Frau und in mancherlei Hinsicht unbestritten kaltblütig, doch einen Mord wollte Leo ihr nicht zutrauen. Sicherlich hatte sie sich in den vergangenen zehn Jahren verändert, doch dass sie diese Zeit derart verroht hatte, zum Erreichen ihrer Ziele jemanden umzubringen, konnte Leo nicht glauben.

Nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte, stieg Leo aus seinem Wagen und öffnete den Kofferraum, wo neben seiner Sporttasche sein bester Smoking und ein weißes Hemd lagen. Er schlüpfte aus Jacke, T-Shirt und Jeans und kleidete sich neu ein. Eine nachtblaue Krawatte vervollständigte seinen Aufzug.

Kapitel 2

Unter regelmäßigen Kontrollblicken in seinen Rückspiegel fuhr Leo die Landstraße weiter. Von einem weiteren Scheinwerferpaar war weit und breit nichts zu sehen, doch er wollte nicht ausschließen, dass ihm die beiden Polizisten mit ausgeschalteten Abblendlichtern auf den Fersen waren. Als die bewusste Abzweigung in Sicht kam, setzte er gewohnheitsmäßig den rechten Blinker und bog ab.

Leos Herzschlag gewann wieder an Fahrt. Nun würde sich gleich herausstellen, inwieweit sein Streich Chancen auf Gelingen hatte. Möglicherweise überwand er nicht einmal die erste Hürde, das eiserne Tor. Vielleicht schaffte er es bis zum Parkplatz, würde dann aber an der Tür scheitern. Vielleicht aber schaffte er es tatsächlich ins Innere dieses Gemäuers, in dem Sandra augenscheinlich sehr oft verkehrte.

Die schmale Straße schlängelte sich in Windungen durch das Gehölz. Nadelbäume und Buschwerk zu beiden Seiten ragten zuweilen so weit über den Asphalt, dass sie das Auto streiften. Niemand, der nicht sehr genau wusste, wohin ihn diese Straße führte, würde annehmen, dass sie irgendwo anders hinführte als ans Ende der Welt.

Irgendwann waren Lichter im Gespinst der Bäume erkennbar. Leo fuhr eine letzte Kurve, dann lag das mysteriöse Herrenhaus vor ihm. Mächtig wie eine Burg ragte es vor der Kulisse aufsteigender Nadelwälder in den nachtschwarzen Himmel. Die meisten Fenster glühten von Vorhängen gefiltert, so als wäre das Gebäude ein riesiger Ofen. Darüber hinaus hielt nur die Hofbeleuchtung der umzingelnden Dunkelheit stand.

Jenseits der eisernen Gitterstäbe sah Leo den Torwächter stehen. Leo hielt im Schrittempo auf ihn zu und brachte sein Fahrzeug wenige Meter vor dem Tor zum Stehen. Er atmete noch einmal tief durch, überprüfte mit einem flüchtigen Blick sein Erscheinungsbild im Rückspiegel und stieg aus. Der unvergleichliche Duft von Baumpech und Nadelhölzern nahm ihn gefangen. Wahrscheinlich bildete er es sich nur ein, doch hier schien er ihm bedeutend intensiver als an seinem Beobachtungsposten. Das war gewissermaßen die Krönung der eindrucksvollen Aura, die von dieser Stätte ausging.

Der kantige Torwächter, ein dunkelhaariger Hüne im schwarzen Maßanzug, erwartete ihn mit vornehm auf Hüfthöhe überschlagenen Händen.

»Guten Abend, mein Herr«, sprach eine gebirgsbachklare Stimme. »Was kann ich für Sie tun? Haben Sie sich möglicherweise verfahren?«

 

Leo biss sich fahrig auf die Lippen und tat sein Bestes, dem stechenden Blick des Kerls standzuhalten. Nun würde sich herausstellen, ob er die Sache mit dem Losungsspruch richtig kapiert hatte. Er schützte größtmögliche Selbstsicherheit vor, als er verkündete: »Pan spielt mir ein Frühlingslied am Friedhofstor.«

»Seien Sie willkommen«, entgegnete der Torwächter mit einem grußvollen Nicken und entfernte sich, um den Öffnungsmechanismus auszulösen.

Leo triumphierte stumm, als er zum Wagen zurückkehrte. Kaum hatte er wieder hinter seinem Lenkrad Platz genommen, schob sich das Tor zur Seite und ebnete ihm damit den Weg zu Sandras Geheimnissen.

Doch um welche Geheimnisse ging es hier überhaupt? Führte Sandra eine Art Doppelleben? Von dem Gespräch mit den beiden Polizisten angestachelt, malte sich Leo die krude Theorie aus, dies wäre intimer Treffpunkt von Mördern, die hier im Kreise Gleichgesinnter ihre grausigen Verbrechen diskutierten.

An der Rückseite des Gebäudes, schon nahe am eisernen Außenzaun, fand Leo einen freien Parkplatz. Als er ausstieg, fiel ihm zu allererst die inzwischen geräumte Terrasse auf. Wo zuvor noch eine muntere Stehparty im Gange gewesen war, hielten sich nun nur noch vereinzelte Personen auf. Leos Blick glitt die Hausfassade zu den Balkonen empor. Vom Hoflicht unberührt lagen sie im Nachtschatten, doch Leo war sich sicher, ein paar Gestalten auszumachen.

Mit einem mulmigen Gefühl und der Sporttasche in der Hand hielt er auf die Tür unterhalb der Terrasse zu. Tatsächlich gab es keinen Klingelknopf. Er hatte jedoch auch niemanden Anklopfen gesehen, als er vor Kurzem noch jenseits des Zauns auf der Lauer gelegen hatte. Was also war der Trick? Wodurch verschaffte man sich Einlass? Gab es irgendwo eine versteckte Sprechanlage, in die man noch einmal diesen obskuren Losungssatz sprechen musste? Leo hielt still und übte sich in Geduld. Eine unbedachte Handlung würde ihn womöglich verraten. Die Leute auf den Balkonen hatten bestimmt ein Auge auf ihn.

Seine Geduld wurde belohnt, als sich die Tür ohne irgendwelches Zutun öffnete und die nackte Frau mit der gefiederten Maske vor ihm stand. Er konnte nicht anders als den Blick zu senken und ihren wohlgeformten Körper umfänglich in Augenschein zu nehmen.

»Guten Abend, mein Herr«, sprach das unbekannte Wesen und holte Leos Augen damit zu ihrer ausdruckslosen Maske zurück. Ihre Stimme klang aufgrund des Plastikwiderstands vor dem Mund merkwürdig dumpf. »Bitte treten Sie ein.«

Die schöne Fremde trat zur Seite und bat den Eindringling herein. Leo entsprach der Geste. Grußworte wollten ihm nicht über die Lippen kommen.

»Ich habe Sie noch nie hier gesehen«, verlautete die Maskierte unaufgeregt. »Ist dies Ihr erster Besuch, mein Herr?«

Leo sah keinen Sinn darin, das zu leugnen.

»Ja, mein erster Besuch«, krächzte er heiser.

Er räusperte sich.

»Bitte folgen Sie mir«, lud die Gastgeberin ein - eine Aufforderung, der Leo nur zu gerne nachkam. Ihr zierlicher Hintern bot einen herrlichen Anblick. Erst recht, als sie dem Gangverlauf folgend ein paar Stufen hinaufstieg. Ihre langen kastanienfarbenen Haare schwangen im gleichmäßigen Takt ihrer Schritte hin und her.

»Am besten, Sie ziehen sich unverzüglich um«, riet sie ihm. »Sie kommen sehr spät, es beginnt schon in wenigen Minuten.«

Leo sah sich genötigt, etwas zu erwidern.

»Die Polizei hat mich leider ein wenig aufgehalten.«

Die nackte Schönheit verlangsamte ihren Schritt und drehte gemessen den Kopf zu ihm um.

»Was Sie nicht sagen«, merkte sie an, wobei Leo ihre scharfen Augen spürte, die ihn durch zwei schmale Schlitze in der Maske musterten.

Er fühlte sich ertappt. Hatte er mit diesem unüberlegten Ausspruch alles verdorben?

»Sind Sie über die Abläufe im Bilde?«, fuhr die Schöne fort.

»Aber ja, das bin ich«, log Leo bemüht, überzeugend aufzutreten. »Voll und ganz.«

Die Gefiederte setzte daraufhin den Aufstieg fort und geleitete ihn durch einen langen, schmalen Korridor in eine mit dunklem Holz getäfelte Empfangshalle, von der aus etliche Zimmer einsehbar waren. In jedem befanden sich Menschen, die sich augenscheinlich ihrer Kleider entledigten. Von der Beschaffenheit der Räumlichkeiten nahm Leo nur Bruchstücke auf.

»Ich wünsche viel Vergnügen«, sprach die Maskierte und zog sich mit einer untertänigen Verbeugung in den Korridor zurück.

Überfordert versuchte Leo, sich einen Überblick zu verschaffen. Was ging hier vor? Leise Harfenmusik untermalte die Kulisse und ein dominanter Duft von Jasmin, durchsetzt von Parfüms und Rasierwasser, schwebte umher. Aus den offenen Zimmern vernahm er Gesprächsfragmente und vereinzeltes Gelächter. Die eindrucksvollste Tür war verschlossen. Sie war bogenförmig und ihr Stock wurde zuoberst von einer Büste in Form eines grimmigen Eberkopfes gekrönt. Leo hatte keinen Zweifel, dass dies die unbenutzte Frontpforte war. Hoch über ihm hing ein kristallener Kronleuchter an der Decke. Eine mächtige Treppe führte zu einer Galerie ein Stockwerk höher. Dies aber schien nicht der ihm auferlegte Weg zu sein. Als aus einem der Zimmer eine Gruppe von Gestalten in grauen Mönchsroben hervorkam, wusste Leo, was er zu tun hatte.

In einem gemütlichen Wohnraum, in dem neben einem edel designten Billardtisch und ein paar Schachtischen diverse Sessel und Sofas aufwarteten, stellte Leo seine Sporttasche ab und fing an, sich auszuziehen. Er tat es in aller Gemächlichkeit und analysierte dabei schweigend die anderen Leute im Raum, die überwiegend dasselbe taten. In den meisten Gesichtern, jung wie alt, loderte ein Ausdruck freudiger Erwartung. Sandra war definitiv nicht zugegen. An seiner Gegenwart hatte sich bislang niemand gestört.

Die Leute zogen sich hier in der Tat komplett aus und warfen sich anschließend die obligatorische Robe über. Leo öffnete seine Sporttasche, nahm sein Exemplar heraus und schob die Tasche anschließend unter einen der Schachtische. Seine zusammengefalteten Klamotten legte er daneben, so wie es auch die anderen Gäste machten.

In weiser Voraussicht hatte Leo auch an bequeme Sandaletten gedacht. Dass solche hier üblich waren, hatte er aus seiner Beobachtungsaktion vor fünf Wochen zwar nicht erschließen können, doch hatte er damals welche in Sandras Sporttasche entdeckt. Es war ihm gelungen, heimlich einen Blick hineinzuwerfen, kurz bevor sie aufgebrochen war. Sandaletten und eine graue Faschingsrobe - eine eigentümliche Kombination.

Nachdem er in seiner Robe steckte, zog Leo sich die zugehörige Kapuze in die Stirn und wartete ab. Nun würde ihn Sandra auch dann nicht erkennen, wenn sie wenige Meter an ihm vorbeispazierte. Da er nicht wusste, was weiter zu geschehen hatte, gedachte er, sich einer der nächsten Personen oder Grüppchen anzuschließen, die den Raum verließen. Viele waren nicht mehr übrig.

Die Harfenklänge kamen vom oberen Stockwerk, wie Leo in der Eingangshalle bemerkte. Er riskierte einen Blick nach oben zur Galerie. Unbekleidete Frauen mit unterschiedlich verzierten Gesichtsmasken lehnten am Geländer und schauten auf die farblosen Kostümträger im Erdgeschoss herab. Hätte er seinen Instinken nachgegeben, wäre Leo in Windeseile die Treppen zu den Schönheiten hinaufgelaufen. Stattdessen folgte er den anderen Kostümierten in einen spärlich beleuchteten Kellerabgang.

Schwarzlicht brachte jeden Fusel auf den Mönchskostümen zur Geltung. In der Schar der anderen wurde Leo in einen weiten Raum gespült. Im diffusen Dämmerlicht konnte er neben den anderen Robenträgern nur ein paar mächtige Säulen unterm dunklen Gebälk ausmachen. Jede Bewegung wirkte wie in Zeitlupe. Gespräche und Gelächter wurden gänzlich eingestellt. Alle Anwesenden verharrten in stummer Erwartung und starrten dabei in ein- und dieselbe Richtung. Ein leichter Duft wie von gerösteten Mandeln lag in der Luft.

Leos Unruhe nahm mit jeder Minute des ungewissen Wartens zu. Er hatte das Tor überwunden, war ins Haus gelangt und befand sich nun unerkannt unter den anderen Hausgästen. Doch wie ging es weiter? Worauf warteten sie hier unten? Die rituelle Bekleidung aller Beteiligten ließ auf irgendwelche Zeremonien schließen. Die drängende Frage war, mit welcher Art von Geheimgesellschaft er es hier zu tun hatte. Bestand Gefahr für seinen Leib und sein Leben, sollte man ihn enttarnen? Unter seiner Kutte fühlte er sich vorerst sicher, doch wie lange würde er sie anbehalten können? Die kollektive Nacktheit darunter verfolgte sicher irgendeinen Zweck.