Loe raamatut: «Steine zählen»

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Thomas Röthlisberger

Steine zählen

Eine finnische Geschichte

Roman


Wir geben nicht auf. Wie schlaue alte Stöberhunde bei einer Elchjagd nehmen wir die Spur dort wieder auf, wo wir sie verlassen haben, und folgen ihr bis zur blutigen Beute.

Lars Gustafsson

Für Henrik,

der mir schließlich doch noch

die ganze Geschichte

erzählte.

wenn die stille sich endlich

hervorwagt aus den

nächtlichen tundren

zähle ich die steine

die ich vom ende der welt

mit nach hause gebracht

sie wogen schwer

sie sind jetzt leicht

die zeit verliert gewicht

Diese Geschichte ist eine Fiktion. Alle Verweise auf reale Begebenheiten, Institutionen, Orte und Personen dienen lediglich dazu, einen fiktiven Kosmos zu erschaffen.


Eigentlich irrt sich der Hund nie. Er hat eine merkwürdige Art zu flennen entwickelt, ein Fiepen beinahe, wenn er ein fremdes Tier wittert. Knurrt er hingegen, so muss ein Mensch in der Nähe sein. Er sitzt im Flur vor der Haustür, als der Mann in Hemd und Unterhose die Treppe vom Obergeschoss herunterkommt.

Der Mann blickt auf die Uhr. Es ist einige Minuten vor zwei Uhr morgens. Er kaut ein paar unverständliche Worte zwischen den Zähnen, während er durch den Flur tappt und das Jagdgewehr aus dem Schrank holt. Er entsichert die Waffe, geht in die Küche und tritt ans Fenster. Vorsichtig schiebt er die Gardine ein wenig zur Seite. Die Lampe drüben am Schuppen brennt die ganze Nacht. So bleibt der Hof gut beleuchtet.

Der Hund hat nicht geknurrt. Also muss er ein Tier gewittert haben. Der Mann sucht mit den Augen den Platz ab. Nichts. Da ist nichts. Kein Tier, kein Mensch. Er will sich bereits abwenden, als er den dunklen Umriss sieht. Reglos steht er außerhalb des hellen Kegels, der von der Lampe auf den Hof fällt. Die kaum wahrnehmbaren Lichtreflexe auf seinem Fell verraten das Tier: Es ist ein Fuchs.

Etwas anderes hat der Mann auch nicht erwartet. Er drückt auf den Metallriegel, um das Fenster so weit zu öffnen, dass er den Gewehrlauf durch den Spalt schieben kann. Aber das unvermeidliche Knacken genügt, dass der Schatten draußen sich auflöst. Geräuschlos, wie ohne Bewegung. Einfach weg und verschluckt von der Dunkelheit. Als hätte es ihn nie gegeben.

Der Mann flucht. Er lässt das Fenster offenstehen und hastet, soweit das schmerzende Bein es zulässt, zurück in den Flur, zur Haustür. Der Hund kratzt mit der Pfote am Holz. Es ist nicht das erste Mal, dass die Hundepfote an der Tür scharrt. Am Tag sind die Spuren deutlicher sichtbar. Man müsste die Tür neu streichen. Der Mann weiß es. Man müsste auch den Zaun um das Hühnerhaus erneuern. Das Dach des Holzschuppens abdichten. Den Hofplatz entwässern. Müsste man.

Manchmal gibt der Mann schon am Morgen auf. Manchmal verlangt der Tag einfach zu viel. Da ist es besser, bereits am Morgen in der Küche zu sitzen und zu rauchen, die Schnapsflasche hervorzuholen, wenn sie nicht vom Vorabend noch auf dem Tisch steht.

Der Mann schlüpft in die Stiefel. Mit dem Fuß schiebt er den Hund zur Seite, um die Tür aufschließen zu können. Der Hund flitzt an ihm vorbei und springt über die Vortreppe hinunter auf den Hof. Ohne einen Laut von sich zu geben, quert er den Lichtkegel der Lampe und verschwindet zwischen den Holzhütten. Der Mann eilt ihm hinterher. Nach wenigen Schritten hört er ihn hinter dem Hühnerhof bellen.

Es läuft immer auf dasselbe hinaus: Wenn er beim Hühnerhaus ankommt, steht der Hund da und bellt in den Wald hinaus. Der Fuchs hat längst Fersengeld gegeben. Er sitzt jetzt irgendwo dort draußen, im Dunkel des Unterholzes, und ärgert sich über den wachsamen Hund.

Die Schatten zwischen den Bäumen verdichten sich in der Ferne zu einer zusammenhängenden Masse. Das Bellen des Hundes schlägt zurück. Als er verstummt, ist da nur noch das leise Rauschen des Nachtwindes ganz oben in den Wipfeln zu hören.

»Verflucht!«

Der Mann stößt den Gewehrkolben ärgerlich auf den Boden. Steinchen spritzen auf. Eines davon muss den Hund getroffen haben. Erschrocken fährt er zusammen und hascht nach seinem Schwanz. Dann kommt er angeschlichen, als hätte er ein schlechtes Gewissen.

»Blödes Vieh!«, faucht der Mann.

Er dreht sich um und schlurft über den Hof zurück ins Haus. Der Hund zieht den Schwanz ein, er zögert einen Augenblick, dann trottet er hinter ihm her.


Inhalt

Henrik

Märta

Matti

Olli

Henrik

Matti

Märta

Henrik

Märta

Matti

Märta

Olli

Märta

Matti

Märta

Henrik

Matti

Olli

Märta

Matti

Olli

Henrik

Märta

Olli

Matti

Henrik

Henrik

Die Hand war fleischig, mit Venenästen, die bläulich zwischen den spärlichen Haaren hervortraten, die Haut blass wie die eines rohen Hühnerschenkels. Die Hand hockte auf der Tischplatte wie eine fette Spinne. Lauernd. In vorgetäuschter Trägheit. Plötzlich begann sie sich vorzuschieben, langsam, scheinbar ziellos, auf den Fingerkuppen wie auf kurzen, dicken Beinen. Sie tastete sich auf dem Wachstischtuch zwischen Bierlachen durch, wich Brotkrümeln aus, wanderte hierhin und dorthin, bis sie an eine der toten Fliegen stieß, die über den Tisch verstreut ein schwarzes Muster bildeten. Einen Augenblick verharrte sie reglos, wie erstaunt über den unerwarteten Fund oder vielmehr den nahen Triumph auskostend, dann zerquetschte sie das ausgedörrte Insekt mit einem hässlichen Geräusch zwischen Daumen und Zeigefinger.

Es war eine linke Hand. Sie gehörte dem alten Nieminen. Matti Nieminen. Mit der rechten, an der zwei Finger fehlten, rauchte er. Die Finger dieser Hand waren gelbbraun vom Nikotin. Nieminen rauchte und hustete.

Henrik Nyström fuhr jedes Mal zusammen, wenn der Alte hustete. Sein Husten erzeugte ein Geräusch, als ob die Lungenflügel unter Wasser stehen würden.

Sie saßen in der Küche. Auf dem Tisch standen leere Bierdosen und eine halbvolle Flasche mit Wodka. Es stank nach Rauch, nach verschüttetem Alkohol und verdorbenen Essensresten. Nach Moder. Nach Altmännerurin. Die Gardinen am Fenster schienen seit Jahren nicht mehr gewaschen worden zu sein.

Mattis Schnapsglas war leer. Der Besucher hatte an dem seinen nur genippt.

»Ja«, brach Henrik schließlich das Schweigen und schob sein Glas etwas beiseite, »sie haben mich also hergeschickt.«

Der Alte blies ihm den Rauch ins Gesicht. Er roch seinen faulen Atem.

»Haben sie dich?«, sagte Nieminen. Und hustete.

Henrik fuhr zusammen und schob das Schnapsglas noch ein bisschen weiter weg, sodass es außerhalb der Reichweite von Nieminens Speichelspritzern war.

»Ja«, sagte er, »so ist das.«

»So«, sagte der Alte.

»Sie sagen, du habest auf Märta geschossen. Auf Märta Nieminen. Deine Ehefrau.«

»So?«, stellte der Alte fest.

Seine Finger hatten wieder ein totes Insekt ertastet und drückten zu. Es knackte. Ein Schütteln durchfuhr ihn. Er schien zu lachen.

»Ja«, sagte Henrik, »deswegen bin ich da.«

»Deswegen bist du da«, wiederholte der Alte. »Einen Grund gibt es immer, wenn einer von euch da ist. Grundlos kommt ihr nie. Aber was geht es dich an?«

»Ich bin im Dienst«, sagte Henrik und klopfte auf seine Uniformjacke, damit die Worte das nötige Gewicht erhielten.

»Das sehe ich«, sagte der Alte.

Er drehte das verwitterte Gesicht zum Fenster. Als er sich nach einer Weile wieder umwandte, nahm er die dicke Hornbrille ab und rieb sich die trüben Augen.

»Glaubst du das auch?«, fragte er.

»Was weiß ich«, sagte Henrik. »Ich muss es überprüfen.«

»So«, sagte Nieminen. »Überprüfen.«

»Vielleicht könntest du mir dabei behilflich sein«, sagte Henrik.

»Mir hilft auch keiner«, sagte Nieminen und zündete sich am glimmenden Stummel eine neue Zigarette an.

Er verzog das Gesicht. Vielleicht hatte er Schmerzen. In diesem Alter haben sie fast alle Schmerzen, dachte Henrik. Irgendwo.

»Märta behauptet, du habest mit dem Gewehr auf sie geschossen, als sie ihre Sachen holen wollte.«

»Tut sie das«, stellte der Alte fest.

»Sie sagt, der Schuss habe sie nur knapp verfehlt.«

»Meinst du, mit diesen Augen trifft man noch?«, fragte Matti und setzte die Brille wieder auf.

Die Gläser waren blind von Fett und Staub.

»Wo hast du das Gewehr?«, fragte der Besucher.

»Im Schrank«, sagte Matti und wies in den Flur.

Als Henrik den Stuhl zurückschob, hob der Hund, der reglos unter dem Tisch gelegen hatte, den Kopf. Als er feststellte, dass es nicht Nieminen war, der aufstand, ließ er ihn mit einem Seufzer wieder auf die Pfoten sinken. Henrik erinnerte sich, wie der Hund in jungen Jahren auf ihn zugeschossen war, wenn er auf den Hof kommen musste. Wie er ihn verbellt und ihm an die Diensthose gewollt hatte. Die Zeit war auch an dem Tier nicht spurlos vorbeigegangen. Es war jetzt gewissermaßen altersmilde geworden. Henrik musste lächeln, als er unbeachtet in den Flur gehen konnte.

Es war ein verhältnismäßig neues Jagdgewehr, womit er zurückkam. Er klinkte den Lauf aus und hielt ihn vor das Fenster ins Licht.

»Damit ist geschossen worden«, sagte er. »Es kann noch nicht allzu lange her sein.«

Matti reagierte nicht.

»Matti, es bringt nichts«, sagte Henrik. »Du hast geschossen. Das ist unbestreitbar.«

Der Alte hob fast unmerklich die Schultern.

»Worauf?«, fragte Henrik.

»Auf den Fuchs«, sagte Matti.

»Wie lange ist das her?«

»Das war gestern«, sagte der Alte.

Er blickte das Gewehr an, nicht den, der es in der Hand hielt.

Die Zeitangabe, überlegte Henrik, stimmte mit derjenigen von Mattis Frau überein.

»Was wollte der Fuchs?«, fragte er.

Matti sah ihn erstaunt an.

»Hühner«, sagte er. »Was sonst?«

Henrik wusste, dass der Hühnerhof der Nieminens seit Jahren leer stand.

»Natürlich«, sagte er. »Hühner – was denn sonst?«

Sie schwiegen. Nieminens Hand wanderte über das fleckige Tischtuch. Eine tote Fliege knackte. Eine lebende surrte an der Fensterscheibe.

»Ich muss die Waffe beschlagnahmen«, erklärte Henrik.

»Beschlagnahmen«, wiederholte der Alte.

»Von Gesetzes wegen«, sagte Henrik. »Damit nicht tatsächlich ein Unglück geschieht.«

»So«, sagte der Alte.

»Ich meine, bei deinen schlechten Augen«, sagte Henrik.

Er wandte sich zum Gehen.

»Warum hast du auf Märta geschossen, Matti?«, fragte er im düsteren Flur.

Aus der Küche drang das Geräusch von splitterndem Glas. Henrik machte die zwei Schritte zurück und blieb in der Tür stehen. Nieminen hatte das Glas in der Faust zerdrückt. Sein Atem ging rasselnd. Am Fenster surrte die Fliege. Henrik wartete.

Der Alte blickte auf seine Faust. Blut und Schnaps tropften auf das Wachstuch. Henrik erwartete nicht, dass er eine Antwort erhalten würde.

»Sie wollte weg«, begann Nieminen plötzlich.

Er keuchte. Schwieg wieder.

»Sie wollte weg«, wiederholte er. »Warum muss man plötzlich weg, wenn man es vierzig Jahre und länger ausgehalten hat? Auf die paar Jahre, die uns bleiben, wäre es wohl nicht mehr angekommen.«

Er hustete.

»Ja«, sagte Henrik, »Frauen gehen weg, Männer gehen weg. Was wissen wir.«

»Du bist geschieden, Heikki«, sagte Nieminen, »du musst es wissen.«

»Meine erste ist auch davongelaufen«, bestätigte Henrik.

»Aber nicht nach vierzig Jahren!«

»Gründe gibt es immer«, sagte Henrik.

»Gründe!«, lachte Nieminen höhnisch. »Als ob es die nicht schon vor zwanzig oder dreißig Jahren gegeben hätte!«

Henrik machte wieder zwei Schritte in den Flur hinaus.

»Wenn sie mich vor dreißig Jahren verlassen hätte, dann wäre es wegen einem anderen Kerl gewesen«, rief der Alte ihm nach. »Aber nach vierundvierzig Jahren?«

»Gründe gibt es immer«, sagte Henrik.

Er öffnete die Haustür und trug das Gewehr zum Auto. Er atmete tief ein, um den muffigen Geruch der Wohnung loszuwerden. Das Gewehr wickelte er in eine Decke und legte es in den Kofferraum. Als er die Hecktür zuschlug, stand der Alte auf einen Stock gestützt auf der Vortreppe.

»Vielleicht hätte ich es verstehen können, wenn sie nach zehn Jahren gegangen wäre«, rief er. »Oder früher.«

»Ich komme morgen mit Märta, damit sie ihre Sachen holen kann«, sagte Henrik und setzte sich in den Wagen.

»Morgen«, sagte Nieminen.

Henrik startete den Motor, hob die Hand und fuhr weg. Es war kurz nach fünf, und er würde rechtzeitig zu Hause sein. Annika würde sich bestimmt freuen.

In Kuhmoinen hielt er an, um für die Kinder Süßigkeiten zu kaufen. Er betrat den Laden und ging nach hinten, wo das klebrige, gummiartige Zeug in grellen Farben lockte. Er füllte zwei Beutel mit allerlei merkwürdigem Getier.

»Schon Feierabend?«, spottete Päivi, die an der Kasse saß.

»Bald«, nickte Henrik und setzte dieses unverbindliche Lächeln auf, das seine Frau an ihm so hasste.

Er bezahlte, nahm die beiden Beutel und verließ den Laden. Beim Anschlagbrett am Ausgang blieb er stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden, und studierte die Anzeigen. Jemand bot Nachhilfeunterricht für Schüler an. Einer wollte sein altes Boot loswerden. Die Kirchgemeinde machte Werbung für einen Basar. Dann fiel ihm ein handgeschriebener Zettel auf, dass jemand junge Kaninchen zu verkaufen hatte.

Kaninchen.

Hinter Henrik hustete jemand. Fliegen surrten im verglasten Eingang.

Kaninchen. Hatte Matti früher nicht Kaninchen gezüchtet? Eine blaugeäderte, fleischige Hand tastete sich über ein schmutziges Wachstischtuch und zerquetschte die herumliegenden toten Fliegen. Mit einem hässlichen Knacken. Eine spinnenhafte, spärlich behaarte Hand tastete sich durch einen Wurf junger Kaninchen, die sich ängstlich in eine Ecke des Verschlags drängten. Unversehens griff sie zu und packte eines der Geschöpfe an den zarten Löffeln.

Kaninchen. Kaninchen tötet man nicht mit einem Gewehr. Kaninchen tötet man mit einer Kaninchenpistole.

»Verdammt!«, entfuhr es Henrik. Was, wenn der Alte nun vollends den Kopf verlor?

Dass er nicht früher daran gedacht hatte! Er schnippte die Zigarette weg und eilte zum Wagen. Den Einkauf warf er auf den Beifahrersitz. Kein Gedanke mehr an Kinder und Süßigkeiten. Er startete den Motor und fuhr in hohem Tempo den Weg zurück, den er gekommen war.

Märta

»Und ob du diesen Mann anzeigen wirst!«, ereiferte sich Marja.

Ihre Stimme schraubte sich durch das fließende Wasser in schrille Höhen. Das Besteck klirrte, wenn sie es auf das Abtropfbrett warf. Sie schien ihre Wut bis in die Fingerspitzen zu spüren.

Märta saß am Küchentisch und betrachtete die sauber gewaschenen Gardinen. Ihre Schwester war fünf Jahre jünger. Das war der Unterschied, aus dem alle anderen Unterschiede hervorgingen. Darauf führte Märta es jeweils zurück. Weil es so am einfachsten war.

»Aber …«, begann sie.

»… er hat doch nur in die Luft geschossen«, machte Marja den Satz fertig.

»Bei seinen Augen«, sagte Märta.

»Bei seinen Augen«, wiederholte Arto, der unter der Tür aufgetaucht war, spöttisch.

»Ja«, sagte Märta und knetete ihre Hände.

Die Knoten an den Fingergelenken waren gerötet und schmerzten. Das Kneten half nicht. Sie wusste es. Aber es war unmöglich, dazusitzen und die Hände in den Schoß zu legen, wenn sie schmerzten. Immer hatten die Hände arbeiten müssen. Die Knoten zeugten davon. Man brauchte sich ihrer nicht zu schämen.

»Da, schaut her«, hätte Märta sagen können, »diese Hände haben hart gearbeitet.«

Aber sie sagte nichts. Es tat weh, die Hände zu betrachten. Weil sie nicht mehr zur Arbeit taugten. Sie beobachtete, wie Marjas Hände geschickt und flink mit Besteck und Geschirr hantierten. Dabei war sie doch auch schon siebenundsechzig. Aber Knoten hatte sie keine. An ihren Händen hatte sie keine geröteten, schmerzenden Schwellungen.

»Du willst den Vorfall also melden?«, fragte Arto.

Märta schüttelte den Kopf.

»Ich an deiner Stelle würde das tun«, sagte er. »Wer weiß, was deinem Alten sonst noch einfällt.«

»Er hat dich nicht nur bedroht«, sagte Marja. »Er hat es ernst gemeint. Der Dreckskerl!«

Märta reagierte nicht. Die Katze, die neben ihr auf der Küchenbank lag, erhob sich gähnend, streckte die Läufe und sprang etwas ungelenk auf den Boden. Nach einem Blick in den leeren Futternapf strich sie an Artos Beinen vorbei und verschwand im Flur.

»Warum willst du ihn immer noch schützen?«, fragte Marja. »Er hat es nicht verdient. Nein, das hat er nicht. Nach allem.«

Nach allem. Märta hatte die beiden Worte gehört. Nach allem. Aber sie waren zu groß, zu schwer, als dass sie sie hätte begreifen können. Und doch musste sie darüber nachdenken, ob ihr Leben nicht verpfuscht gewesen war. Ja, verpfuscht. Von Anfang an. Das ganze lange, kurze Leben. Es war nicht das erste Mal, dass sie das dachte.

Arto hatte sie hingefahren, als sie ein paar zusätzliche Sachen holen wollte. Eigentlich hatte sie nur zwei Tage bei der Schwester verbringen wollen. Wie jedes Jahr einmal. Denn seit Arto und Matti sich verkracht hatten, kamen weder Marja noch ihr Mann auf den Hof der Nieminens. So war das seit ihrem Streit, damals auf dem Sommerfest.

Arto hatte sie hingefahren. Märta bat ihn, an der Kreuzung zu warten, wo der Zufahrtsweg zum Hof abzweigte.

»Ich werde diesmal noch ein paar Tage länger bleiben«, hatte sie Matti am Telefon gesagt.

Er hatte etwas Unverständliches gebrummt. Oder etwas, was sie gar nicht hören wollte. Dann hatte er aufgehängt.

Sie ging nun auf dem gewundenen Fahrweg durch den Wald. Dort, wo die Sonne nicht hinkam, war es feucht vom Regen der vergangenen Nacht. In der Lichtung, in der nur vereinzelte Kiefern und Birken wuchsen, stand die Hitze aber noch sommerlich brütend. Es war Mitte August, und der Zenit des Jahres war längst überschritten. Wenn sie daran dachte, dass Matti den Winter hier draußen allein würde überstehen müssen, bekam sie beinahe wieder ein schlechtes Gewissen.

Bei dem kleinen Mückentümpel blieb sie stehen. Er war vollkommen mit Entengrütze bedeckt. Von hier waren es noch hundert Meter bis zum Hof. Eine Wegbiegung und sie wäre da.

Wie nur sollte sie es Matti sagen?

Arto hatte die Scheiben heruntergelassen und im Autositz gedöst. Der Schuss hatte ihn in einem seltsamen Traum erwischt, und im ersten Augenblick wusste er nicht, ob er selber getroffen war. Er stieg aus dem Wagen und horchte. Da war nur das Summen der Insekten und ein leichter Luftzug, der durch die Bäume strich. Nicht einmal das Brummen der Hauptstraße war zu hören, weil der Wind aus der anderen Richtung kam.

Er wartete. Aber es folgten keine weiteren Schüsse mehr, dass er die Richtung hätte feststellen können, in der sich der Schütze befand. An die Jagdvorschriften hielt sich hier eh keiner. Vor die Flinte laufen sollte man hier niemandem.

Plötzlich war er unsicher, ob er sich nicht verhört hatte. Ob es nicht nur der Traum gewesen war, der ihn aufgeschreckt hatte. Schließlich ging er doch zögerlich in den Wald hinein.

Auf halbem Weg kam ihm Märta entgegen. In ihrem Gesicht stand alles, was er wissen musste. Sie sagte nichts. Sie starrte ihn nur an. Wie einen Fremden. Sie weinte nicht einmal. Das würde sie nachholen, wenn der Schock verebbte.

Er griff ihr unter den Arm und führte sie zurück zum Wagen. Gepäck hatte sie keines dabei. Er verkniff es sich, danach zu fragen. Überhaupt wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Auf der ganzen Fahrt zurück sprach keiner der beiden ein Wort.

Arto holte sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank. Zu jeder anderen Zeit hätte sich Marja mit verschränkten Armen vor ihn hingestellt. Jetzt warf sie ihm nur einen missbilligenden Blick zu. Er wusste es, ohne dass er hinschaute.

Spielte es eine Rolle, ob Märta die Wahrheit sagte? Der Alte hatte geschossen, das stritt sie nicht ab. Eigentlich genügte das.

Er riss die Lasche an der Dose auf und trank in langen Zügen. Das Bier schmeckte nicht wie sonst, dachte er, als er sich den Schaum von den Lippen wischte. Alles machte er kaputt, sein Schwager, dieses Arsch.

»Ich ruf jetzt auf dem Posten an«, sagte er zu Märta und stellte die Bierdose energisch auf den Tisch.

»Nichts wirst du«, mischte sich da überraschend Marja ein. »Das ist Frauensache, und wenn jemand anruft, dann ist das Märta selbst.«

Arto hielt sich mit beiden Händen an seinem Gürtel fest. Er versuchte, die Hose höher zu ziehen, als sei sie nicht nur wegen seines Bauchumfangs tiefer gerutscht. Und als hätte er, zu spät wieder einmal, diesen Griff der Ohnmacht realisiert, schnaubte er durch die Nase, ließ den Gurt, wo er war, und griff sich das Bier. Er stiefelte aus dem Haus. Die Tür schlug hinter ihm zu. Wenig später hörte man, wie drüben beim Schuppen die Axt wütend in die Holzkloben fuhr. Jetzt war es an Marja, die Luft hörbar auszustoßen.

»Also«, sagte sie und ließ das Abwaschwasser aus dem Trog laufen. »Wie war das nun genau? Er hat geschossen. So viel ist klar. Aber der Rest?«

Märta schwieg. Das Wasser gurgelte im Siphon. Marja rieb die matt gewordene Abdeckung aus Inox-Stahl trocken.

»Wie kam es, dass er plötzlich das Gewehr in der Hand hielt?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht«, murmelte Märta.

»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht!«

Marjas Stimme war lauter geworden. Wenn sie an ihrer Schwester etwas hasste, dann dieses Kleinlaute. Dass sie sich so mutlos verhielt, statt die Fäuste zu ballen.

»Du bist die Einzige, die dabei war – wer soll es denn sonst wissen, wenn nicht du?«

Märta hob hilflos die Schultern.

»Du bist auf den Hof gekommen«, sagte Marja. »Und dort hast du deinen Mann angetroffen. Draußen, auf dem Hof, auf der Vortreppe. Er hat auf dich gewartet. Mit dem Gewehr. Er wusste, dass du auftauchen würdest. Du hast ihn ja angerufen. Du hast ihm am Telefon mitgeteilt, dass du kommen würdest. War es so?«

Märta schüttelte den Kopf. Sie nestelte das Taschentuch aus der Schürzentasche. Als sie es endlich richtig gefaltet hatte, um die Tränen abzuwischen, hatte sie bereits vergessen, dass sie hatte weinen wollen.

»Wo hast du ihn dann getroffen?«, fragte Marja ungeduldig. »Wo befand sich Matti?«

»In der Küche«, sagte Märta. »Er saß in der Küche.«

»Beim Schnaps«, stellte Marja fest.

Ihre Stimme hatte einen verächtlichen Unterton.

»In der Küche«, wiederholte Märta.

»Beim Schnaps also«, blieb Marja hartnäckig. »Und dann sagtest du ihm, dass du ausziehen würdest.«

»Nein«, wehrte Märta ab. »Nein.«

»Nein?«

»Nein.«

»Märta!«

Märta blickte erschrocken auf.

»Sag mir die Wahrheit«, forderte Marja sie auf. »Die Wahrheit, Märta!«

»Ich wagte nicht, ihm die Wahrheit zu sagen.«

Märta flüsterte es beinahe. Marja setzte sich zu ihr und hielt ihr die zitternden Hände.

»Das glaube ich wohl. Aber wenn du es ihm nicht gesagt hast, hatte er doch auch keinen Grund, gleich das Gewehr zu holen?«

Märta schwieg.

»Märta, was hast du Matti gesagt?«, drang Marja in die Schwester, als diese keine Antwort gab.

Märta hob hilflos die Schultern.

»Wie nun also?«, fragte Marja ungeduldig.

»Er hat es erraten« sagte Märta.

»Hat er gesagt: Gib es nur zu, du willst mich verlassen – war es so Märta?«

Sie nickte.

»Du hättest es ihm sonst nicht gesagt?«

Märta schüttelte den Kopf.

»Ich wusste doch selbst nicht, ob ich das wirklich wollte.«

»Aber jetzt bist du sicher?«, wollte Marja wissen.

Märta nickte zögernd.

»Dann rufe ich jetzt bei der Polizei an«, sagte Marja, »und du erzählst Henrik Nyström, was genau vorgefallen ist.«

Märta schwieg. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet. Wie zum Gebet.