Die neue Engelreligion

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Das Thema Neofaschismus und Metal-Kultur erfordert sicher eine differenziertere Betrachtung, als sie an dieser Stelle möglich ist. In den Texten der deutschen Gruppe Death in June entdecke ich andere Töne, die vielleicht gehört zu werden verdienen. Mit ihrem Namen erinnert die Gruppe, die in Kampfanzügen und Masken auf der Bühne erscheint und Nazi-Symbole auf ihren Covers führt, an den 30. Juni 1934, als Hitler den so genannten Röhm-Putsch niederwarf, d. h. die SA vernichtete und 200 seiner treuesten Anhänger ohne Gerichtsurteil exekutierte. In ihrem Album „Brown Book“ – der Name ist einem DDR-Dossier zur Dokumentation der Gräueltaten der Nazis entlehnt – gibt es die Zeilen:

„Wird er meine Seele halten?

Wird er mein Herz herausreißen?

Wird er, wird er

Mich zerreißen?

Eine Rose zu ertränken

[…]

Liebe ist jetzt leer

Für immer unvollständig

Ein Stich ins Herz der Hoffnung […]

Wir beten für das Ende

Wir fordern die Hinrichtung

Eines zerstörten Glaubens, der fehlt

Einer sterbenden Liebe, die vergeht“71

Ist dies vielleicht ein Stück „Poesie nach Auschwitz“, die laut Adorno zu schreiben barbarisch wäre? Wer gedenkt der missbrauchten Liebe, der zerstörten Hoffnung der damaligen jungen Generation? Und ist nach einem solchen Missbrauch von Liebe, Treue, Glaube und Hoffnung nicht die Liebe überhaupt gestorben? Was bedeutet diese historische Lektion für die jungen Menschen heute? Können sie noch lieben und hoffen? Nach Richard Leviathan, selbst ein Angehöriger der Gothic-Kultur, handelt es sich bei den Songs von Death in June um „Kunstwerke, die tief in das finstere Herz unseres historischen Gewissens eintauchen“.72 Solche Finsternis mit einem schwachen poetischen Licht zu erhellen ist auch eine Arbeit an der Todverfallenheit unserer Gesellschaft.

Doch zurück zu Satan und dem Satanismus, die natürlich in unserem Zusammenhang vor allem interessieren. Was ist darunter zu verstehen? Viele Deutungen sind möglich, so wie der Teufel ja auch viele Namen hat. Nik Page, ein deutscher Gothic-Sänger, der mit mehreren Bands zusammengearbeitet hat, steht dem Satanismus nahe.73 Er versteht unter dem Satan aber nicht „den Teufel, den die Kirche selbst erschaffen hat, um das niedere dumme Volk noch besser kontrollieren zu können“, auch nicht den „Gott der Bosheit“ oder einfach „eine Art negative Energie, die in jedem von uns steckt“, sondern, viel raffinierter, die Kraft der Versuchung, die es auf unsere Schwäche abgesehen hat, um sie in eine Stärke zu verwandeln, die uns schließlich selbst zerstört. „Mephisto [so nennt er ihn im Anschluss an Goethes Faust] beweist uns Tag für Tag, dass der Mensch jede großartige Erfindung früher oder später in ein Instrument der Zerstörung verwandelt … und dennoch haben wir ihm den luxuriösen Alltag unserer Konsumgesellschaft zu verdanken, den niemand freiwillig missen will.“ Es ist also der Teufel, der im Kapitalismus steckt und dem alle tatsächlich dienen. In genialer Umdichtung erzählt Nik Page den Mythos vom Engelssturz neu: Die drolligen kleinen Engel und ihr weißbärtiger Super-Opi leben in Harmonie und Langeweile auf einer Wolke, bis eines Tages Luzifer „mit großen Kulleraugen und Schmollmund“ um Einlass bittet. „Es dauerte jedoch nicht lange, bis das Miststück seinen wahren Charakter offenbarte. Sie war nicht nur der schönste, sondern auch der intelligenteste aller Engel.“ Bald hatte sie alle Engelknaben um den Finger gewickelt und „Opis tugendhaftes Paradies in eine lasterhafte Partyhöhle verwandelt“. Zwar wurde die „undankbare Partygöre“ aus dem Himmel verstoßen, aber nun, auf Erden, treibt sie es umso schlimmer. Im Song „Mephisto“ besingt Nik Page den teuflischen Gott der Lust und der Bedürfnisse ganz in diesem Sinne:

„Du bist der Gott der Maschinen

Der Schöpfer der Lust

Hast uns die Augen geöffnet

Bist der sündige Kuss

Hast die Erleuchtung versprochen

Uns Zerstörung geschenkt

Hast uns die Unschuld genommen

Unser Karma gelenkt

Tief in meiner Seele brennt ein Feuer nur für dich …

Mephisto.“

Es ist also unsere Lust selbst, die die Maschine antreibt, die uns Zerstörung bringt. Und dieser Mechanismus funktioniert in mephistophelischer Kraft. Der Satanismus, der der Gothic-Culture zur Last gelegt wird, ist der einer auf grenzenlose Bedürfnisse, auf ewige Lust getrimmten Kultur. Dass damit beileibe nicht nur die sexuelle Lust gemeint ist, entnehme ich einem auffälligen Moment, das sich wie ein roter Faden durch die Selbstzeugnisse der Gothic-Kulturwelt zieht: der Hass auf die Musikindustrie. „Fuck the Industry!!“74, so oder so ähnlich heißt es immer wieder. Man schimpft auf die Musikindustrie, auf Kommerzialisierung und Verflachung – und kann ihr doch nicht entkommen. Denn sie allein macht das Überleben der Bands möglich, sie verschafft ihnen bisweilen erheblichen Erfolg und Wohlstand. Versuche, die eigenen Produktionen in selbst gegründeten, nicht kommerziellen Labels zu vertreiben, müssen wohl sämtlich als gescheitert gelten.75 Man bleibt dem teuflischen System ausgeliefert, man dient ihm selbst – und da haben wir den Grund für den Satanismus der Szene.

5. Die beiden Seiten der Engelreligion

Die Engelreligion ist, das habe ich zu zeigen versucht, so recht die Religion unserer Zeit. Sie kennt keine Dogmen, keine Hierarchie und keine institutionelle Gestalt. Sie stellt keine Forderungen und hat keine Gebote. Sie baut auf Erfahrung und nicht auf Glauben. Sie schränkt Freiheit nicht ein, verlangt keine Bekenntnisse und verzichtet auf religiöse Abgrenzungen. Sie entspricht dem Individualismus und der Suche nach eigenem persönlichem Ausdruck. Sie vermittelt gegen alle Vereinzelung ein Gefühl von Ganzheitlichkeit, allseitiger Verbundenheit und Geborgenheit. Sie schafft Ordnung im Weltbild und im eigenen Inneren. Sie vermittelt Heil und Heilung für die kleinen und großen Nöte des Daseins. Sie antwortet auf die unendliche Sehnsucht nach Liebe. Es ist, als wenn ein genialer Religionsstifter die gesamte Religionsgeschichte auf ihre guten und bewährten Elemente hin durchgemustert und diese auf die Bedingungen der Moderne adaptiert hätte, dabei alles Überlebte, Schwierige und Unangenehme beiseite lassend. Aber so ist es ja nicht gewesen. Diese Religion hat sich vielmehr aus den spontanen religiösen Bedürfnissen von Leuten entwickelt, die sich in den etablierten Religionen nicht zu Hause fühlten oder erstmals ihren Weg zum Himmel entdeckten. Die Engelreligion ist ganz und gar eine Religion der Bedürfnisse, aus Bedürfnissen entstanden und auf die Erfüllung von Bedürfnissen ausgerichtet. Sie passt in eine Welt, in der die Erfüllung von Bedürfnissen der fraglos höchste Wert und überdies der Motor der wirtschaftlichen Dynamik ist.

Nun hat diese Religion, wie gezeigt, ihre zwei Seiten, eine helle und eine dunkle – die übrigens sicher nicht zufällig im Blick auf ihre Akteure auch als weibliche und männliche Seite zu erkennen sind. Beide Seiten fügen sich zu der Kennzeichnung „Religion der Bedürfnisse“, aber sie bilden gewissermaßen die Vor- und Rückseite. Während auf der lichten Seite die Befriedigung unserer Wünsche und Bedürfnisse gepredigt wird, ist die dunkle Seite für die diabolische Verkehrung der Bedürfnisse – „Lust“ – in Zerstörung aufmerksam, ja, sie treibt sie selbst voran. Was bei den „Kindern des Zorns“ (so will ich sie einmal mit Eph 2,3 nennen) an Kapitalismuskritik, an Beobachtung der verhängnisvollen Auswirkungen unserer Industriekultur, an „Todesfaszination“ vorhanden ist, verweist auf die Paradoxie der Bedürfnisse. Sie sind gut und sie sind schlecht. Gut sind sie, weil der Hunger gestillt werden will und weil es Freude macht, ihn zu stillen, und sei es der Hunger nach Anerkennung, Liebe, Geborgenheit und Sicherheit. Schlecht sind sie, weil sie von sich aus kein Maß kennen. In ihrer Maßlosigkeit bewirken sie Zerstörung – so wie die ,bröckelnden‘ Atomkraftwerke auf maßlosen Energiebedarf reagieren, der grausame Umgang mit Tieren auf maßlosen Fleischbedarf. Vor dieser Problematik bleiben die Versuche Doreen Virtues, zwischen den Wünschen des höheren und des niederen Selbst zu unterscheiden, ebenso hilflos stehen wie die Unterscheidung von Jana Haas zwischen weißer und schwarzer Magie oder die von Helga Schaub zwischen positiver und negativer Energie. Denn wie soll hier unterschieden werden? Was für den einen als ,weiß‘ erscheint, kommt beim anderen ,schwarz‘ an, und leicht kann man um eines höheren Zwecks willen auch das niedere Bedürfnis als höheres erleben. Zumal in einer Zeit, für die die ständige Steigerung der Bedürfnisse zur Notwendigkeit einer zum unablässigen Wachstum gezwungenen Wirtschaft geworden ist. Ist es denn da nicht ,positiv‘, ,negative‘ Dinge zu tun, z. B. zur Schaffung von Arbeitsplätzen die Wirtschaft anzukurbeln, noch mehr überflüssige Dinge und damit zukünftigen Abfall zu produzieren, noch mehr zu konsumieren, noch mehr Geld anzulegen? Bedenklich ist, dass die lichte Seite der Engelreligion ihre Beispiele und ihre Anschauung nur aus dem persönlichen, privaten Leben nimmt. Der politische und ökonomische Bereich sind völlig ausgeblendet. Und doch hängt beides zusammen. Der Slogan „Gott sorgt für die Erfüllung all unserer Bedürfnisse. Wir brauchen nie zu befürchten, dass uns irgendetwas vorenthalten wird“ (Virtue) scheint doch geradezu einem ökonomischen Imperativ zu gehorchen. Grenzenlose Bedürfnisbefriedigung – jetzt auch religiös legitimiert und ermöglicht. Autofahren – jetzt ohne Parkplatzprobleme. Energieaufwändige Reisen in die Südsee – jetzt auch zur Begegnung mit den Delfinengeln, die sehnsüchtig nach dir rufen. Partnerwechsel – durch den Engel-Raben selbst angezeigt. Warum hören wir nie von Engeln, die zum Öffentlichen Nahverkehr raten? Oder zur Treue in der Partnerschaft? Und weiter: Die Religion verlängert die Bedürfnisse ins Unendliche, ins Transzendente. Nun sollen wir gar das Göttliche in uns selbst entdecken, mit dem ganzen Universum verbunden sein, in jeder Lebenslage Trost und Beistand erfahren, das ganze Wissen der Welt in Himmelsbüchern lesen können. Das ist in etwa das, was die Schlange der Eva im Paradies versprochen hat. Die Maßlosigkeit der Bedürfnisse greift nach der Unendlichkeit des Himmels. Die Engelreligion überträgt insoweit die Logik der grenzenlosen Steigerung, die dem Kapitalismus eigen ist, ins Religiöse. Was Wunder, dass sich auch viele Wirtschaftsgrößen zum Glauben an die Engel bekennen.76

 

Von Ferne erinnern die beiden Seiten der Engelreligion an die früheren Darstellungen des Jüngsten Gerichts. Zur rechten Seite des Weltenrichters – zur Linken des Betrachters – die Seligen, die von lichtvollen Engeln ins Paradies geführt werden. Zu seiner Linken die Verdammten, die von Teufeln gequält und in die Hölle gebracht werden. In der Engelreligion fehlt jedoch die Figur des Weltenrichters, der nach Gottes Maß und Gesetz richtet. So schieben sich beide Seiten übereinander. Das alte Bild ist zerstört. Beide Seiten richten sich nach derselben Logik. Wir werden verdammt durch das, was uns selig machen soll. Die Seligen sind schon die Verdammten, sie wissen es nur noch nicht.

6. Der Himmel ist wieder offen!

Trotz dieser Zweideutigkeit der Engelreligion, die nur christlich-theologisch aufzulösen sein wird – dazu später mehr –, die gute Nachricht lautet: Es gibt in unserer Zeit wieder eine richtige Religion!77 Der Himmel ist wieder offen! Die himmlischen Mächte, die guten wie die bösen, werden wieder wahrgenommen, und es werden wieder die Beziehungen zwischen der Erde und dem Himmel geregelt, wie es eben in Religionen geschieht. Denn dies ist ja eigentlich die Aufgabe von Religion: dass sie die Verhältnisse zwischen dem Vertrauten und dem Unvertrauten, dem Empirischen und dem Numinosen, dem „Natürlichen“ und dem „Übernatürlichen“, letztlich zwischen der Erde und dem Himmel beobachtet und behandelbar macht. Religion gibt dem Unvertrauten einen Platz im Vertrauten. Sie benennt heilige Orte und Zeiten, sie liefert Bilder des Unsichtbaren, entwickelt Rituale für den Verkehr mit dem Göttlichen und schafft auf diese Weise Formen des Umgangs mit dem Bereich der Welt, der der direkten Beobachtung unzugänglich ist.78 Genau dies geschieht in der Engelreligion – bis hin zur Angabe von konkreten Methoden, von Orten und Zeiten zur Kontaktaufnahme mit den Engeln.

Die Engelreligion hat den Bann gebrochen, der mehr als 200 Jahre über der ,aufgeklärten‘ Welt lag. Gemäß der Aufklärung sollte sich die Erkenntnis auf das Empirische, Nachprüfbare und Berechenbare beschränken, und daraus ist unser Begriff von Wissen und auch von Wissenschaft entstanden. Der Himmel mit seinen Mächten war von diesem Begriff des Wissens ausgeschlossen und folglich auch aus der Wissenschaft. Der Himmel, der Bereich übermenschlicher Kräfte und Mächte, wurde dem mythologischen Weltbild zugeordnet, das aus der Kraft menschlicher Vernunft zu überwinden die Philosophie der Aufklärung angetreten war. Religion im beschriebenen Sinn wanderte in die Esoterik und den Okkultismus ab. Das Christentum, insoweit es in der Moderne noch geduldet werden wollte, sah sich gezwungen, sich von seinen ,mythologischen‘ Elementen zu reinigen. In der weltweit verbreiteten Engelreligion ist nun dieser Bann gebrochen. Das esoterische Wissen schickt sich an exoterisch zu werden, wie Jana Haas richtig bemerkt. Und von Seiten der Philosophie her mehren sich die Stimmen, die erklären, dass die Aufklärung ihr Ziel nicht erreicht hat, dass sie in ihrer eigenen „Dialektik“ verfangen geblieben ist. Die Moderne hat die mythologischen, naturgeschichtlichen Zwänge nicht durchbrechen können, die sie überwinden wollte, diese sind vielmehr in der Gestalt der alles beherrschenden Markt- und Warengesellschaft wiedergekommen.79 So ist auch von dieser Seite her wieder Raum für die Religion in der Moderne geschaffen worden. Das Christentum wird diese Wiederkehr der Religion mit Freude begrüßen können, denn ohne das Wissen um die himmlischen Mächte ist ein Weltbild unvollständig und blind.

Die Engelreligion tritt das Erbe der gesamten Religionsgeschichte an. In der Gothic-Szene ist uns die keltische und altgermanische Religion begegnet, man nimmt Bezug auf den Schamanismus, den alten russischen Geisterglauben, das asiatische Wissen um feinstoffliche Energien, die Lehre vom Karma und von der Wiedergeburt, den Voodoo-Kult, afrikanischen Ahnenkult, indianische Religion usw. usw. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. Und das ist so in Ordnung. Egon Wenberg, ein Kenner der Wissenschaft von den Engeln, sagt mit Recht: „Die Engel sind älter als alle Religionen der Welt. […] Es gibt keine nur christlichen Engel. […] In jeder Religion gibt es Engel. Die Religionswissenschaften sprechen auch von Begleitgöttern, von Geistwesen, von dienenden göttlichen Wesen“80, oder einfach, so ist hinzuzufügen, von Göttern, denn die Götter des Polytheismus sind nichts anderes als himmlische Mächte, also das, was später unter dem Einfluss der Bibel angeloi bzw. Engel genannt worden ist. Der Reichtum der alten Religionen kehrt in der Engelreligion in unsere Zeit zurück, damit auch ihre Weisheit, ihre Himmels-„Wissenschaft“, das heißt ihre Kenntnis der himmlischen Mächte, deren Einfluss auf das irdische Leben in Rechnung zu stellen ist. Das ist ein Gewinn, eine Erweiterung unserer Erkenntnis! Zwar treffen die Vertreterinnen und Vertreter der Engelreligion ihre Auswahl aus dem reichen Stoff der Tradition je nach ihrer Erfahrung mit dem Himmlischen, aber darin bestätigt sich nur ein Moment, das für die Entwicklung der Religionen überhaupt typisch ist. Nicht zu allen Zeiten ist der Himmel gleich, nicht immer sind es dieselben Mächte, die vom Himmel her wirken, und darum ist es verständlich, dass eine neue Religion nur auf jene Elemente früherer Himmelskenntnis zurückgreift, die ihre gegenwärtige Himmelswahrnehmung bestätigen. Nicht von ungefähr kommen in der Gothic-Szene die germanischen Gottheiten wieder hervor, die unter dem Einfluss des Christentums in den Hintergrund getreten waren, stimmt doch die Erfahrung destruktiver Mächte, wie sie die Gesellschaft heute bietet, mit der germanischen, gewaltbestimmten Mythologie viel besser zusammen als mit der Religion der Liebe und Gnade. Und doch werden wir feststellen können, dass der Durchgang durch das Christentum die Engelreligion unserer Tage tiefgreifend geprägt hat. Nicht nur sind die Engels- und Teufelsvorstellungen81, die Engelsnamen, die Vorstellungen von einer Ordnung und Hierarchie der Engel von der christlichen Tradition her genommen, sondern auch die Tatsache, dass jedenfalls in der lichten Engelreligion so viel von Liebe gesprochen wird, ist ein Beleg für die religionsgeschichtliche Wirkung des Christentums. Der christliche Glaube hat gewirkt, er hat in der Engelreligion maßgebliche Spuren hinterlassen! Ist es doch keineswegs selbstverständlich, dass aus der himmlischen Welt Liebe und positive Energie auf die Erde strömen.

Nehmen wir einmal zum Vergleich die Religion des alten Griechenland, wie sie uns in der Theogonie des Hesiod entgegentritt.82 Dieses Werk des 8. Jahrhunderts v. Chr. soll hier exemplarisch für die ,alte Engelreligion‘ stehen. Es beschreibt die Entstehung der Götter und der Welt, und es zeichnet ein keineswegs freundliches Bild des Götterhimmels. Am Anfang sind da nur das dunkle Chaos, mit dem sich „die breitbrüstige Gaia“ (117) verbindet, sowie „Eros, der schönste unter den unsterblichen Göttern, der gliederlösende“ (120). Aus der Verbindung zwischen der Erde und dem dunklen Abgrund geht Uranos, der Himmel, hervor – die Unterscheidung von Erde und Himmel ist in der Tat die grundreligiöse Unterscheidung! Dass aber Eros keineswegs Liebe bedeutet, sondern nur die Macht der Begierde, zeigt sich in der weiteren Geschichte. Uranos überzieht Gaia mit einer Serie von Begattungen, die viel eher Vergewaltigungen sind, und das Schlimmste ist: Alle Kinder, die daraus hervorgehen, „waren dem Vater verhaßt“ (155). Sobald eines von ihnen geboren ist, stopft er es in die Erde zurück und lässt es nicht ans Licht. Gaia weiß sich keinen anderen Rat mehr, als Kronos (die Zeit), ihrem jüngstem Kind, eine „scharfzahnige Sichel“ (175) in die Hand zu geben, mit der dieser den Vater blutig entmannt (aus dem ins Meer geworfenen Genital des Uranos geht dann Aphrodite hervor, die Schaumgeborene. Aphrodite – eine genitale Männerphantasie? Richtig ist aber: Es ist die Zeit, das Alter, das den Vater aus seiner sexuell dominanten Rolle verdrängt.). Aber auch Kronos geht mit seinen Nachkommen nicht gerade freundlich um. Da er darauf sinnt, „daß nicht von den ehrwürdigen Himmelsabkömmlingen ein anderer unter den Unsterblichen die Königswürde innehätte“ (461 f.), hält „Kronos nicht unachtsam Wacht, sondern auf der Lauer liegend verschlang er seine Kinder“ (466 f.). Rheia, die Gemahlin des Kronos, ist untröstlich, und sie sucht bei Gaia und Uranos Rat, wie sie „rächen könne die Frevel an ihrem Vater und ihren Kindern, die der gewaltige, hinterlistige Kronos verschlungen hatte“ (473). Man sucht Kronos zu überlisten, und es gelingt auch: Als er seinen letztgeborenen Sohn Zeus verschlingen will, reicht man ihm stattdessen einen Stein. So kann Zeus überleben. Herangewachsen, befreit er sowohl die Kinder des Uranos – die Titanen – wie auch seine Geschwister, die Kinder des Kronos, aus ihrer Gefangenschaft. Zwischen beiden Göttergruppen entbrennt ein entsetzlicher, jahrelanger Krieg um die Herrschaft im Himmel. „Furchtbar hallte wider das endlose Meer. Die große Erde dröhnte. Es stöhnte der Himmel, erbebend, von Grund auf wurde der hohe Olymp erschüttert vom Ansturm der Unsterblichen“ (678 – 681). Schließlich gelingt es Zeus und den Seinen, die Titanen zu besiegen. Er verbannt sie in die Tiefen des Tartaros, die Unterwelt, ein vielfach gesichertes Gefängnis, aus dem sie bis auf weiteres nicht entfliehen können. Als bedrohlich-rumorende Gewalt bleiben sie aber weiterhin präsent. Zeus ist nun der unumschränkte Herrscher über die Sterblichen und die Unsterblichen, und der Dichter Hesiod kann nicht genug daran tun, sein Regiment zu preisen, denn Zeus regiert nach Recht und Gerechtigkeit. „Gut aber hat er jegliches den Unsterblichen festgesetzt und zugleich (ihnen) ihre Würden zugesprochen“ (74) – er schafft Ordnung im Himmel –, auf Erden aber begünstigt er den König, der „Urteile fällt mit gerechtem Spruch“ (85). So ist also eine einigermaßen zuträgliche Weltordnung begründet. Von Zeus hören wir weiterhin, wie er sich diversen „schönfüßigen“ oder „schönwangigen“ oder sonstwie liebreizenden Göttinnen und Menschentöchtern naht und mit ihnen eine Unzahl von Kindern zeugt. Es ist also die Kraft des Eros, die das Geschehen in Gang hält. Als aber Prometheus auftritt und mit List für die Menschen das Feuer vom Himmel holt, da reagiert Zeus empfindlich. Er bindet Prometheus „mit unauflöslichen Banden, mit schmerzenden Fesseln“ an einen Felsen und stachelt seinen Adler an, täglich seine „unsterbliche Leber“ zu fressen (521 – 524). Und über das gesamte Menschengeschlecht, das heißt bis dato nur über die Männer, wird vom Obergott eine besonders gemeine Strafe verhängt. Er erschafft das „unheilvolle Geschlecht der Frauen und ihre Arten“, die hinfort „als großes Unglück wohnen unter den sterblichen Männern“ (591 f.). Die Frauen sind nämlich wie die Drohnen, die die fleißigen Bienen für sich arbeiten lassen, dabei aber „drinnen bleiben in den schattigen Bienenstöcken und ernten für sich in ihren Bauch das von fremden Händen Erarbeitete“ (598 f. – bei den Bienen ist es wohl umgekehrt). Für besonders fatal hält es Hesiod, dass der Mann im Alter auf die Pflege durch die Ehefrau angewiesen ist. Deshalb „lebt er mit unaufhörlichem Schmerz in der Brust, im Sinn und Herzen, und unheilbar ist das Übel. So ist es nicht möglich, den Verstand des Zeus zu täuschen und zu umgehen“ (611 – 613).

Sehr frauenfreundlich ist das nicht, und nicht sehr menschenfreundlich. Schauen wir auf die Himmelswelt der Griechen: Sie besteht zuletzt nur aus einer Orgie der Begierde und der Gewalt. Nicht zu bestreiten ist, dass in Hesiods Theogonie eine wirkliche Wahrnehmung himmlischer Mächte vorliegt. Da ist die Rivalität der Väter auf die Söhne, in die diese ohne ihren Willen hineingeboren werden und die sie tödlich bedroht. Da ist der Zwang für die Söhne, ihre Eigenständigkeit nur im Widerstand gegen den Vater erringen zu können. Hesiod zeichnet ein fluchbeladenes Geschick, in dem List, Betrug und Gewalt, also schuldhaftes Verhalten, unvermeidlich sind. Ohne Schuld kann es kein menschliches Leben geben – eine Art griechische Version der Erbsündenlehre. Dann ist da die Herrschsucht, der Kampf um die Macht als eine Gewalt, der die Götter unterliegen und die von ihnen kommt. Und es ist Eros, der erste Gott, die Macht der Begierde und der Bedürfnisse, die Götter und Menschen in ihrem Bann hält. Sie kann aus männlicher Sicht leicht in abstruse Frauenfeindlichkeit umschlagen, wie es bei Hesiod geschieht. Und zuletzt steht über allem die menschenverschlingende Gewalt der Vergänglichkeit, sind doch alle Götter Kroniden, Nachkommen des Kronos. Umso stärker muss der Neid zwischen den Unsterblichen und den Sterblichen sein, wie er anlässlich des Falls Prometheus sich gewaltsam auswirkt. Hesiod ist aufmerksam für die Errungenschaften der Kultur, die die Macht des Schicksals begrenzen. Man gibt dem Kronos Steine zu fressen – mit steinernen Bauten ist ein schwaches Mittel gegen die Vergänglichkeit errichtet. Und doch bleibt das Leben der Menschen von Mächten und Gewalten bedroht. Vom Himmel her ein lüsterner, neidischer Gott, von der Unterwelt her die bedrohlichen Titanen. Wie mag es sich in einem solchen Weltbild gelebt haben? Von Liebe ist bei alledem keine Spur.

 

Der Durchgang durch das Christentum hat also die Engelreligion bereichert. Wenn Doreen Virtue Gott bzw. die Engel auch als „Liebe, reine Liebe“ bezeichnet, wenn Jana Haas ein goldenes Zeitalter der höheren Spiritualität heraufkommen sieht, das sich in der Abkehr von Gewalt und Unmenschlichkeit ankündigt, wenn Helga Schaub echten Glauben, Gebet und liebevolle Gedanken gegen die dunklen Mächte aufbietet, dann hat der christliche Glaube offenbar Wirkung gezeigt. Das ist dankbar anzuerkennen. Manche meinen, der christliche Glaube in seiner speziellen Form habe sich damit erübrigt, er sei aufgegangen in einer universalen Religion der Liebe und habe damit sein Bestes gegeben, aber wir werden sehen, dass dem nicht so ist. Doch zunächst ist darauf aufmerksam zu machen, dass die Engelreligion auch umgekehrt das heutige Christentum bereichert. Sie gibt Christen, die sich darauf einlassen – und das sind nicht wenige – die verlorene Religion zurück. Man denke einmal an die katholische Kirche im Zeitalter des Barock. Über zwei Jahrhunderte – von der Mitte des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – war die barocke Kultur in den katholischen Ländern Süd- und Osteuropas, in der Alpenreligion, in Südamerika und in etwas anderer Weise auch in Frankreich höchst lebendig. Das Barockzeitalter war vielleicht die letzte Epoche einer integralen, den biblischen Glauben mit der Religion verbindenden Katholizität. Betritt man eine Barockkirche, sieht man sofort, welch eine überragende Rolle die Engel hier spielen. Geradezu in Überfülle sind sie dort vertreten – nicht nur in den Kirchen, sondern auch in der Literatur der Zeit. Zuhauf treten sie in den beliebten Jesuitendramen auf, die davon erzählen, wie Menschen von Teufeln verführt und von Engeln beschützt werden. Bei den Aufführungen wurde auch mit szenischen Tricks nicht gespart: Die Teufel treten aus einer Versenkung auf der Bühne, die Engel schweben mittels einer komplizierten Maschinerie vom Himmel herab und zum Himmel zurück. Beliebt war das Motiv des versöhnten Teufels, eines armen Wesens, das sich im Grunde nach Liebe und Erlösung sehnt – so in Friedrich Gottlieb Klopstocks „Messias“.83 Helga Schaub könnte ihre Freude daran haben. Barocke katholische Religiosität war Christentum inklusive Engelreligion. Und dadurch war es eine Religiosität, die einen ungezwungenen Zugang zur Welt der Geister, Naturwesen und der Magie hatte. Der Historiker und Barockforscher Peter Hersche spricht von der „kirchlichen Halbmagie“ jener Zeit.84 „Magie gehörte damals zur selbstverständlichen Lebenswirklichkeit“, in vielfacher Weise war sie auch im kirchlichen Leben verankert. Schon die kirchlichen Segnungen und Weihen profaner Gegenstände sowie die Reliquienverehrung reichten in den Bereich der Magie hinein. Daneben gab es den Wettersegen, verbunden mit „Schauermessen“, Hagelprozessionen und dem Wetterläuten bei aufziehendem Gewitter, dem man eine abwehrende Kraft gegen die Blitze zuschrieb. Segnungen gegen Ungeziefer wurden gegen Mäuseplage und Engerlinge eingesetzt. Allerhand heilkräftige Gegenstände, Kreuze, Andachtsbilder, geweihte Wässer und Amulette waren im Umlauf, besonders beliebt waren die so genannten Kompositamulette, die aus tausenden unterschiedlicher Ingredienzien zusammengesetzt sein konnten: gesegneten Wässern und Kräutern, Reliquienteilen, Wachsen und Ölen, geschriebenen Segen hoher kirchlicher Funktionäre bis hin zu den Päpsten. „Das alles wurde [in Klöstern] zusammengemengt, pulverisiert, in Rollen verpackt anderen Konventen zugesandt, von diesen portionsweise weiterverteilt und, versehen mit einer geistlichen Gebrauchsanweisung, als Mittel gegen sämtliche denkbaren Leiden benutzt.“ Auch Liebeszauber waren beliebt. Wunder kamen häufig vor. Große Bedeutung hatte der Exorzismus, der auch gegen Tierseuchen eingesetzt wurde. Als ein besonders krasses Beispiel der kirchlichen Halbmagie nennt Hersche den Brauch des so genannten Kinderzeichnens. Totgeborene Kinder wurden, damit sie nicht der ewigen Verdammnis anheimfielen, durch Wärmeeinwirkung scheinbar wiederbelebt und dann getauft. Letzteres hatte nicht die offizielle Billigung der Kirche, wurde aber geduldet, schon wegen der Verzweiflung der Eltern. Insgesamt versuchte die katholische Kirche „eine Integration bzw. Umwandlung magischer Vorstellungen in religiöse.“ Die Magie wurde verkirchlicht, dadurch zugleich anerkannt, begrenzt und integriert. Die Protestanten ihrerseits hatten Gelegenheit, sich über den katholischen ,Aberglauben‘ aufzuregen und ihre Abgrenzung gegen das Katholische zu betonen. Die barocke Religiosität ist dann unter dem Einfluss der Aufklärung, des Josephinismus in Österreich, der Revolution in Frankreich, der Säkularisierung in Deutschland vom Ende des 18. Jahrhunderts an rigide zurückgedrängt worden. Sie überlebte nur in Restbeständen der Volksreligion, am längsten in den katholischen Mittelmeerländern. Der im barocken Katholizismus enthaltene Anteil von Religion, das heißt vom Umgang mit übersinnlichen und himmlischen Mächten, ist im Gefolge des 2. Vatikanischen Konzils praktisch ganz aus der katholischen Kirche ausgemerzt worden.85 Und dann kommt die Engelreligion und lässt all das, zumindest sehr viel davon, wieder aufleben! Viele katholische Christen nehmen das dankbar an. So zum Beispiel die Italienerin Paola Giovetti, die ein hinreißendes Buch über die „unsichtbaren Helfer der Menschen“ geschrieben hat.86 Sie ist katholisch und findet die Existenz der Engel und anderer übersinnlicher Wesen einfach überall belegt. Andachtsvoll zitiert sie Worte des Papstes Johannes Paul II. über die Engel, berichtet von Engelwundern bei Heiligen und an Wallfahrtsorten, bezieht aber auch die Naturgeister Rudolf Steiners, die Lichtwesen Raymond Moodys und die Engellehre Emanuel Swedenborgs problemlos mit ein. Sie erzählt sensationelle Geschichten der wunderbaren Rettung durch Engel, die auch bei Giulia Siegel oder Doreen Virtue stehen könnten. Sie überlässt es den Lesern, sich das alles zusammenzureimen. In das gleiche Spektrum gehören die viel gelesenen Bücher Uwe Wolffs.87 Der katholische Theologe führt kenntnisreich und gekonnt durch die bunte und bisweilen düstere Welt der Engel und Dämonen. Von Geburt an, ja schon vorgeburtlich beeinflussen machtvolle Gestalten den Menschen im Guten wie im Bösen. So wusste es das frühere Christentum, so wissen es aber auch allerhand angeführte Zeugnisse aus den Religionen, der Literatur und der Parapsychologie. Ausführlich erzählt Wolff von Teufelspakten und Teufelsaustreibungen. Auch ihm ist ein Stück seiner Religion wiedergegeben worden, das er genüsslich schaudernd durchstreift. Seinen theologischen Lehrern in Münster konnte er nichts davon sagen, es hätte sonst passieren können, dass ihm der Professor für Neues Testament die Seminararbeit über die Dämonenaustreibung in der Synagoge von Kafarnaum aberkennt.88

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