Der gläserne Fluch

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2

Charlotte schaute aus dem Küchenfenster und entdeckte einen Reiter der Preußischen Post. Blauer Uniformrock mit rotem Besatz, eine eng anliegende Hose mit Seitenstreifen, auf dem Kopf eine Mütze mit rotem Rand. Sein Pferd keuchte und schäumte, dass man glauben konnte, er wäre den ganzen Weg bis raus zum Plötzensee in scharfem Galopp geritten.

Charlotte schob den Vorhang zur Seite. »Sieht nach einer Eilzustellung aus.«

Eliza, die gerade versuchte, Charlottes Kleid mit Gallseife von den Tintenspritzern zu befreien, hob den Kopf.

»Wie kommst du darauf?«

»Schau dir den Brief an. Solche Umschläge werden nur für dringende Angelegenheiten verwendet.«

Das Kuvert war länglich, von hellgelber Farbe und mit rotem Siegellack verschlossen.

»Bin gleich wieder da.« Charlotte eilte zur Tür, wo Humboldt den Mann bereits begrüßte. Der Postbote hatte seine Mütze abgenommen und verbeugte sich. »Herr Donhauser?«

»Ganz recht.«

Charlotte bemerkte, wie ihr Onkel bei der Erwähnung seines bürgerlichen Namens die Lippen zusammenpresste. Sie wusste von den Hinweisen, dass er tatsächlich von Alexander von Humboldt abstammte, doch bis jetzt war der Anspruch keinesfalls bewiesen. Ein Thema, über das man besser schwieg.

»Ich habe eine Einladung für Sie.« Die Messingknöpfe mit dem kaiserlichen Reichsadler blinkten in der Morgensonne. »Wenn Sie den Erhalt bitte hier bestätigen würden.« Er reichte dem Forscher ein amtlich aussehendes Dokument nebst Stift. Humboldt setzte sein Zeichen unter das Papier und nahm den Brief in Empfang.

»Und hier noch ein Brief an Fräulein Charlotte Riethmüller. Sind Sie das?«

»Ja.« Charlotte nahm das Kuvert entgegen. »Muss ich auch irgendetwas unterschreiben?«

»Nein danke, nicht nötig.«

Humboldt griff in die Tasche und drückte dem Eilboten ein paar Pfennige in die Hand.

»Oh, vielen Dank.« Der Mann verbeugte sich. »Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag. Besinnliche Weihnachtstage.« Mit diesen Worten schwang er sich auf sein Pferd und galoppierte zurück.

Humboldt machte kehrt und ging zurück ins Haus. Durch die offene Tür der Schreibstube konnte Charlotte die neugierigen Gesichter der Straßenkinder erkennen.

»Was ist es?«, drängte Charlotte. »Wer schreibt uns?«

»Uns?« Der Forscher warf ihr einen ironischen Blick zu. »Soweit ich lesen kann, steht nur mein Name auf dem Brief.«

Charlotte ließ nicht locker. »Aber er stammt von der Universität, das erkenne ich an dem Siegel. Also gilt er höchstwahrscheinlich uns allen.«

»Meinst du?« Er zog humorvoll eine Braue in die Höhe.

Seit er dem Universitätsbetrieb aus Protest den Rücken gekehrt hatte, war hier in seinem Haus eine Art private Forschungsgemeinschaft entstanden. Ein Institut zur Aufklärung und Lösung ungewöhnlicher, um nicht zu sagen unmöglicher Fälle. Den ersten Fall hatten sie gelöst, als sie in Peru ein bisher unbekanntes Volk mit mechanischen Fluggeräten entdeckt hatten, einen zweiten, als sie das Mittelmeer von einer Gefahr in Form riesenhafter Maschinenwesen befreit hatten. Beide Fälle hatten in der Presse hohe Wellen geschlagen. Wenn ihnen die Universität also eine Einladung schickte, dann vermutlich nur deshalb, weil die Kunde von ihren Taten den Weg bis in die oberste Etage gefunden hatte und die Herren Dekane es sich nicht länger leisten konnten, sie zu ignorieren.

»Jetzt komm schon«, drängelte Charlotte. »Mach ihn auf.«

Humboldt marschierte in sein Arbeitszimmer, nahm einen Brieföffner zur Hand und schlitzte den Umschlag auf. Er zog den Brief aus wertvollem Büttenpapier heraus und faltete ihn auf. Die Stirn tief in Falten gelegt, überflog er den Inhalt. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. »Bellheim!«, rief er aus. »Das darf doch nicht wahr sein.«

»Wer?«

»Richard Bellheim. Einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Völkerkunde. Wir haben eine Zeit lang zusammen studiert. Ein fabelhafter Kerl. Ich habe ihn seit einer Ewigkeit nicht gesehen.«

»Was ist geschehen?«

»Ich war viel unterwegs, wie du weißt, und er ebenso. Als Afrikaspezialist war er vermutlich längere Zeit auf Expedition. Das ist aber nicht seine Handschrift. Vermutlich handelt es sich um eine offizielle Einladung.« Er drehte den Brief um. »Ah, hier haben wir es ja. Zwei Jahre Sahara und Sahelzone.« Er pfiff durch die Zähne. »Ganz schön lange Zeit.«

»Und was steht in der Einladung?«

»Wie es aussieht, hält er einen Sondervortrag in drei Tagen. Man hat uns zwei Eintrittskarten beigelegt.«

Charlotte schaute in den Umschlag und, tatsächlich, da waren sie. Wunderschön gedruckt und mit goldenem Rand. »Ich habe sie. Was steht noch in dem Brief?«

Humboldt rückte seine Brille zurecht. Sein fröhlicher Ausdruck wurde zusehends ernster.

»Was denn? Spann mich nicht so auf die Folter.«

»Wie es aussieht, wird auch der Kaiser da sein. Hier steht, es wird ein Empfang mit allerhöchsten militärischen Ehren. Nur der Hofstaat und besondere Würdenträger werden geladen sein.« Mit Bedauern in seinem Gesicht ließ er den Brief sinken. »Schade. Ich wäre gern hingegangen.«

»Wie meinst du das?«

Humboldt schenkte ihr ein trauriges Lächeln. »Weißt du das wirklich nicht? Deutschland liefert sich seit einigen Jahren einen Wettlauf um die besten Kolonien. Der afrikanische Kontinent wird dabei zwischen den Imperialmächten aufgeteilt, als wäre er eine Geburtstagstorte. Es geht zu wie auf einem Basar. Jeder nimmt sich einfach, was er kriegen kann, ohne die Einheimischen um Erlaubnis zu fragen. Ein trauriges Kapitel der deutschen Geschichte, aber natürlich von hohem nationalen Interesse.« Er stieß die Worte aus, als hätten sie einen unangenehmen Beigeschmack. »Wenn Bellheim in Anwesenheit des Kaisers über Nordafrika redet, dann wird es vermutlich um die Möglichkeit neuer Kolonien gehen.« Er faltete das Papier und steckte es weg. »Tut mir leid, kein Interesse. Ich werde zusehen, dass ich mich im neuen Jahr mit ihm treffe. Unter vier Augen und in ungezwungener Atmosphäre.«

»Aber der Kaiser …« Charlotte blickte ihren Onkel mit großen Augen an. »Ich habe Wilhelm noch nie aus der Nähe gesehen.«

»Das wird dir auch an diesem Abend kaum gelingen«, erwiderte der Forscher. »Vermutlich wird er von einer ganzen Armee von Sicherheitsbeamten abgeschirmt. Abgesehen davon: So imposant ist er auch wieder nicht.«

»Das ist doch egal. Stell dir all die interessanten Leute vor. Die schmucken Anzüge und Uniformen und die rauschenden Kostüme. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Bitte, lass uns hingehen. Bitte, bitte.«

Humboldt verdrehte die Augen. »Tu mir das nicht an. Ich verabscheue solche Veranstaltungen. Nichts gegen einen guten Vortrag, aber diese Veranstaltung riecht nach Staatsempfang. Da wird gedienert, gebuckelt, gekrochen und geschleimt. Jeder wird zusehen, dass er möglichst nah an Wilhelm und seine Gattin herankommt. Das hat nichts mit Forschung zu tun. Eher mit Politik, und Politik ist ein schmutziges Geschäft.«

»Komm schon, bitte.« Charlotte ließ nicht locker. »Immerhin hat er an dich gedacht. Steht sonst noch etwas in der Einladung?«

»Warte mal …« Humboldt drehte den Brief um. »Hier ist eine Notiz, aber wie es aussieht in einer anderen Schrift. Sie stammt von … ach, verdammt.« Er hielt die Karte ins Licht und schob seine Brille hoch. »Ich muss dringend mal zum Optiker. Kannst du das lesen?«

Charlotte nahm den Brief. »Hier steht ein Name. Gertrud Bellheim. Seine Frau?«

»Möglich, aber ich kenne sie nicht. Er muss geheiratet haben, als ich fort war. Was schreibt sie?«

»Sehr geehrter Herr von Humboldt, im Namen meines Mannes möchte ich Sie und Ihre Begleitung ganz herzlich zum Vortrag am 27. 12. um 20 : 00 Uhr in den Großen Hörsaal der Friedrich-Wilhelm-Universität einladen. Ich weiß, dass Sie sich nahegestanden haben und dass es ihm viel bedeuten würde, Sie an diesem Abend persönlich zu sehen. Bitte tun Sie mir den Gefallen und reden Sie ein paar Worte mit ihm. Dafür wäre ich Ihnen überaus dankbar. Hochachtungsvoll, Gertrud Bellheim«

Humboldt nahm ihr den Brief aus der Hand und überflog die Zeilen noch einmal. »Seltsam«, murmelte er.

»Was meinst du?«

»Warum schreibt er nicht selbst? Und warum tue ich ihr einen Gefallen, wenn ich ein paar Worte mit ihm rede? Das klingt, als würde sie sich Sorgen machen.«

Charlotte nickte. »Du hast vollkommen recht. Es klingt tatsächlich sehr seltsam. Ich finde, du solltest der Sache auf den Grund gehen. Das wird dir allerdings nur gelingen, wenn du dort erscheinst. Und ich mit dir.« Sie schenkte ihrem Onkel ein verführerisches Lächeln.

Der Forscher zog eine Braue in die Höhe. »Sagst du das, weil es dich wirklich interessiert oder weil du zu dem Empfang willst?«

Er hielt den Brief näher ans Gesicht, in dem vergeblichen Bemühen, ihm weitere Geheimnisse zu entlocken, doch irgendwann gab er auf. »Also gut«, seufzte er. »Du hast gewonnen.«

»Danke!« Charlotte umarmte ihren Onkel und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bist der Beste.«

Die Tür zur Schreibstube ging einen Spalt weit auf. Ein sommersprossiges Gesicht mit roten Zöpfen lugte hervor. Es war Lena. »Was ist denn jetzt mit dem Unterricht, Herr von Humboldt? Kommen Sie noch mal zurück, oder sollen wir unsere Sachen zusammenräumen?«

»Ihr könnt zusammenräumen«, sagte der Forscher. »An Unterricht ist sowieso nicht mehr zu denken. Helft Eliza in der Küche, füttert die Pferde, danach könnt ihr den Baum schmücken. Und vergesst nicht, vorher das Klassenzimmer aufzuräumen und die Tafel zu wischen. Ich will, dass alles blitzblank ist, ehe wir Bescherung machen.«

 

»Juhuu!« Ein stürmisches Gerenne und Getrampel war zu hören. Kichern und Lachen schallte zu ihnen herüber.

Humboldt strich sich über die Stirn. »Wenn ich gewusst hätte, was ich mir da für einen Sack Flöhe einhandle, hätte ich mir die Sache mit Oskars Freunden vielleicht noch mal überlegt.«

»Ich bin sicher, du wirst das verkraften«, sagte Charlotte. »Es tut dir gut, wieder zu unterrichten. Seit die Kinder bei uns sind, höre ich dich viel öfter lachen.«

»Ist das so?« Er seufzte. »Na, Hauptsache, die Arbeit leidet nicht darunter. Was ist denn mit deinem Brief? Du hast ihn noch gar nicht geöffnet.«

»Ja richtig.« Charlotte blickte auf das Kuvert in ihrer Hand. In der Aufregung hatte sie ganz vergessen nachzuschauen, von wem er stammte. Auf der Rückseite fand sie einen Absender. Maria Riethmüller, Kurhotel Heiligendamm.

»Er ist von Mutter«, sagte sie.

Ihre gute Laune war mit einem Mal wie weggeblasen.

3

Sir Jabez Wilson war bereits zu Lebzeiten eine Legende. Von Königin Victoria für seine Verdienste um die Erforschung des Nachthimmels geadelt und von seinen Kollegen ebenso geschätzt wie gefürchtet, galt er als Großbritanniens bedeutendster Sammler extraterrestrischer Funde. Er war das, was man in Fachkreisen als Meteoritenjäger bezeichnete, und sein Hunger nach seltenen Steinen war grenzenlos. So groß, dass er gelegentlich seine Manieren vergaß.

»Was hat er gesagt? Wiederhol das noch mal.«

Sein Assistent, Patrick O’Neill, erbleichte. »Monsieur Lacombe von der astronomischen Fakultät Paris lässt ausrichten, er werde Ihnen auf keinen Fall eine Abschrift des Dokuments zukommen lassen. Er sagte, da könne er Ihnen ja gleich seine ganze Sammlung zum Geschenk machen. Er hoffe jedoch inständig, Sie mögen seinem Gastvortrag am Observatorium diesen Freitag beiwohnen. Er werde bei dieser Gelegenheit auch auf das Dokument zu sprechen kommen.«

»Dieser unverschämte Patron!« Wilson sprang auf. Seine Kehle war vor Wut wie zugeschnürt. »Er glaubt wohl, er kann mich auf den Arm nehmen. Ich bin doch keiner seiner Lakaien, die er herumscheuchen kann, wie er will. Er ist hier auf meinem Grund und Boden. Na warte, dem wird das Lachen schon noch vergehen.«

O’Neill wich zurück. Wilson war ein Stier von einem Mann. Kompakt, gedrungen, mit breiten Wangenknochen, niedriger Stirn und einem grauen Haarschopf, der zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Ein Mann, der schon durch seine reine physische Präsenz jeden einschüchtern konnte. Sein auffälligstes Merkmal war, dass er nur ein Auge besaß. Das linke hatte er bei einer Auseinandersetzung mit Eingeborenen in Patagonien verloren, als diese ihm den Zugang zu einer Fundstelle verweigerten und ihn und seine Männer stattdessen mit Steinschleudern angegriffen hatten. Aus Rache hatte er ihr Dorf dem Erdboden gleichgemacht.

Um sein fehlendes Auge zu ersetzen, hatte Wilson einen Meteoriten zurechtschleifen lassen und diesen in den Hohlraum in seinem Schädel eingesetzt. Die silbrig glänzende Kugel schien in alle Richtungen gleichzeitig blicken zu können.

Wilsons geheime Vorliebe galt dem Iridium, einer äußerst seltenen Spielart des Platin, wie man sie des Öfteren in Meteoriten fand. Seine Härte machte es zu einer idealen Komponente besonders widerstandfähiger Legierungen. Legierungen, wie sie in Präzisionsmessgeräten wie Uhren oder Sextanten Verwendung fanden. Kein Wunder, dass es als ungemein wertvoller Rohstoff galt, wertvoller noch als Diamanten. Allein die Kugel in Wilsons Schädel besaß den Wert eines kleinen Fürstentums.

»Sagen Sie alle Termine für heute Mittag ab, ich bin bei Lacombe.«

»Aber Sir, Ihr Essen mit dem Innenminister …«

»Absagen, habe ich gesagt.«

Wilson schnappte seinen Mantel, band seinen Waffengurt um und stürmte aus dem Zimmer. Was glaubte dieser unverschämte Franzose eigentlich, mit wem er es zu tun hatte? Ihn, Jabez Wilson, abzuwimmeln wie einen lästigen Vertreter? Eher würde die Hölle zufrieren, als dass so etwas geschah.

Mit eiligen Schritten stürmte er die Treppen hinunter. Seine Arbeitsräume lagen im obersten Stock der Königlichen Akademie in Burlington Gardens. Eines der prächtigsten Gebäude von ganz London mit Blick auf die herrlichen Anlagen des Green Parks.

Auf dem Weg nach unten begegnete er etlichen Kollegen und Angestellten, die ihm Respekt zollten.

»Guten Morgen, Sir Wilson.«

»Frohe Weihnachten, Euer Lordschaft!«

»Werden Sie uns heute Abend noch im Athenäum Club beehren?«

Er ignorierte die Zurufe und lief weiter. Seine blank polierten Stiefel klackerten über die Marmorstufen. Er verließ das Gebäude, eilte im strömenden Regen über den Vorplatz und bestieg eine der Kutschen, die draußen warteten.

»Hyde Park Corner 48, aber schnell!«, rief er dem Fahrer zu, dann lehnte er sich zurück.

* * *

Oskar war gerade auf dem Weg in sein Zimmer, als ihm Charlotte über den Weg lief. Sie war vollgepackt mit Mappen, Rollen und Bündeln voller Briefe und wirkte ziemlich aufgebracht. Eigentlich hatte er ja vorgehabt, es sich mit einer brandneu erschienenen Ausgabe von Karl Mays gesammelten Reiseromanen in seinem Lesesessel gemütlich zu machen. Er war schon sehr gespannt auf den zweiten Teil von Winnetou, der rote Gentleman, aber jetzt ließ ihn der Ausdruck auf Charlottes Gesicht innehalten. »Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?«

Charlotte sah ihn entgeistert an. Sie hatte ihn wohl gar nicht bemerkt. Blitzschnell fing sie sich jedoch wieder und sagte: »Ach nichts. War nur eben auf dem Dachboden und habe ein paar Sachen zusammengetragen.«

»Was für Sachen?« Oskar reckte den Hals. Der Dachboden in Humboldts Haus war eine wahre Fundgrube, Kultobjekte aus aller Welt sowie seltene Sammlerstücke. Dinge, mit denen sich ohne Probleme ein kleines Museum füllen ließ. Es stand aber auch eine Truhe dort oben, in der der Forscher Dokumente und Zeugnisse aus seiner Vergangenheit aufbewahrte. Plakate, Tagebücher, Briefe und jede Menge Korrespondenz. Während Oskar mit großer Leidenschaft die Masken und Trommeln betrachtete, hatte Charlotte einen Narren daran gefressen, in der Vergangenheit des Forschers herumzustöbern. Humboldt hatte nichts dagegen und ließ sie gewähren. Ob er allerdings damit einverstanden sein würde, dass sie die Sachen jetzt in ihr Zimmer brachte?

»Was sind das für Dokumente?«, wiederholte Oskar seine Frage. »Soll ich dir tragen helfen?«

»Nein, nicht nötig.« Charlotte drehte sich zur Seite, damit Oskar nicht sah, was sie da durch das Haus schleppte. Trotzdem konnte er einen Blick auf eine Ahnentafel und ein dickes, in Leder gebundenes Buch erhaschen.

»Stammbäume und Fotoalben?«, fragte er. »Was willst du denn damit?«

Er versuchte, an eines der Dokumente ranzukommen, aber sie drehte sich von ihm weg.

»Das geht dich rein gar nichts an!«, zischte sie. »Untersteh dich, dich in meine Privatangelegenheiten einzumischen.«

»Ist ja gut, ist ja gut.« Er hob entwaffnend die Hände. »Ich wollte nur einen kleinen Spaß machen.«

»Mir ist es bitterernst«, sagte sie mit wütender Stimme. »Würdest du mich jetzt bitte durchlassen?«

»Aber klar.« Er trat einen Schritt zur Seite und Charlotte stürmte an ihm vorbei. Dabei fiel ihr ein kleines Buch hinunter. Familienchronik stand auf das Leder geprägt. Oskar beugte sich vor und hob es auf. Es war das Buch, in dem Humboldt sämtliche Geburts- und Abstammungsurkunden aufbewahrte. Mit einem ratlosen Blick reichte Oskar Charlotte die wertvollen Dokumente. Sie schnappte danach und steckte sie zu den anderen Sachen. Einen kurzen Moment leuchtete immer noch die Wut in ihren Augen, dann wurde ihr Blick wieder sanfter. »Danke«, sagte sie. »Bitte verrate mich nicht. Ich bin da einer merkwürdigen Geschichte auf der Spur und ich möchte nicht, dass alle davon erfahren. Versprichst du mir, dass du niemandem davon erzählst?«

Er nickte. »Erfahre ich irgendwann davon?«

»Sobald ich herausgefunden habe, was dahintersteckt. Versprochen.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und verschwand in ihrem Zimmer.

4

Unruhig auf den Griff seines Degens trommelnd, blickte Sir Jabez Wilson aus dem Fenster. Das regennasse London zog wie eine Tapete an ihm vorüber. Menschen liefen im Schatten der Gebäude, hielten Aktentaschen oder Regenschirme über ihre Köpfe und sahen zu, dass sie rasch ins Trockene kamen. Überall herrschte geschäftige Weihnachtsstimmung. Die Läden waren geschmückt und allseits standen Straßenmusikanten, die sich mit Oh, come all ye faithful oder Go tell it on the mountain gegenseitig zu überstimmen versuchten.

Wilson konnte diesem Fest nichts abgewinnen. Der Geruch von Bratäpfeln, Candys und Lebkuchen lag wie eine betäubende Decke über der Stadt. Diese ewige Singerei und diese kuhäugigen Kinder mit ihrem Dauergrinsen. Wenn es nach ihm ging, gehörte dieses Fest abgeschafft.

Die Kutsche erreichte den Park, schwenkte auf Südkurs und steuerte dem Wellington Triumphbogen entgegen. Nur wenige Minuten später hatten sie die Hausnummer 48 erreicht. Wilson sprang aus dem Wagen, drückte dem Fahrer zwanzig Shilling in die Hand und eilte mit gesenktem Kopf über die Straße.

Der zweistöckige Bau in klassizistischem Stil diente der Universität als Quartier für ausländische Besucher und Gäste der Fakultäten. Im Allgemeinen waren die Zimmer immer ausgebucht, doch so kurz vor Weihnachten standen die meisten von ihnen leer. François Lacombe war der einzige Gast. Er bewohnte zwei Räume im Ostflügel, wo er einen Arbeitsbereich eingerichtet hatte. Der französische Astronom hockte auf seinen Informationen wie die Henne auf dem Ei und war nicht bereit, nur ein Jota seines Wissens mit ihm zu teilen. Zwei Anläufe hatte Wilson bisher unternommen, um an die heiß ersehnten Papiere zu kommen. Den ersten freundlich, in dem er persönlich vorstellig geworden war und Geschenke gebracht hatte, einen zweiten schon etwas kühler und in Begleitung seines Assistenten Patrick O’Neill. Dies war der dritte und er würde sich nicht noch einmal abwimmeln lassen.

Der Empfang war gerade nicht besetzt, und Wilson konnte ungesehen das Erdgeschoss durchqueren. Die Treppenstufen waren mit Teppich bespannt, sodass er praktisch lautlos nach oben gelangte. Auf der obersten Treppenstufe angekommen, spitzte er die Ohren. Von irgendwoher erklang Musik. Vorsichtig schlich er den Gang entlang, bis er vor Lacombes Räumen stand. Die Musik kam aus dem Arbeitszimmer und stammte von einem Grammofon. Über die Takte von Johann Strauss’ An der schönen blauen Donau erklangen geschäftiges Klappern und fröhliches Mitsummen. Merkwürdigerweise erfreute sich gerade dieser Walzer bei Astronomen und Sternenkundlern großer Beliebtheit. Lacombe schien ganz in seine Arbeit versunken zu sein.

In diesem Moment fasste Wilson einen Entschluss. Vielleicht ließ sich das Problem mit einem simplen kleinen Diebstahl aus der Welt schaffen.

Vorsichtig ging er eine Tür weiter, legte seine Hand auf die Klinke und drückte sie ganz sacht nach unten. Die Tür war unverschlossen. Er öffnete sie einen Spalt und blickte hindurch. Lacombes Schlaf- und Ankleidezimmer lag im Dunkeln, nur beleuchtet von einem schmalen Lichtstreifen, der aus dem Arbeitszimmer kam. Rasch schlüpfte er hinein und schloss sie hinter sich. So weit, so gut. Durch den Spalt konnte er sehen, dass Lacombe an einer optischen Bank arbeitete. Offenbar war er damit beschäftigt, sein Teleskop auseinanderzubauen und zu reinigen. Fröhlich pfeifend nahm der Franzose eine Linse aus der Halterung und polierte sie mit einem weichen Stofftuch.

Wilson warf einen Blick in die Runde. Er wusste, dass der Astronom seine Dokumente in einer länglichen Holzschatulle aufbewahrte. In den Regalen waren nur Karten und Bücher. Vielleicht im Kleiderschrank? Er schlich durch den Raum und öffnete den schweren Kirschholzschrank. Die Türen gaben ein erbärmliches Quietschen von sich. Wilson hielt die Luft an. Hoffentlich hatte Lacombe nichts gehört. Doch die Musik lief weiter und auch das Pfeifen hielt an. Rasch durchforstete er das Innere. Nur Hemden, Hosen und Jacketts. Schrecklich unmoderne Sachen, wie sie heute kaum noch ein Mensch trug.

Angewidert fuhr Wilson herum. Wo war nur diese Schatulle? Doch wohl nicht im Arbeitszimmer? Sollte das der Fall sein, hätte er ein mächtiges Problem.

Wieder schlich er an den Türspalt. Als er am Bett des Forschers vorbeikam, sah er unter der Matratze etwas schimmern. Blank poliertes Nussholz mit Stoßkanten aus reinem Messing. Er ging in die Hocke und untersuchte den Fund. Dieser verdammte Franzose. Bewahrte seine Schatulle einfach unter der Matratze auf. Ganz so, als befürchte er, man könne ihn bestehlen. Wilson grinste. Diese Franzosen hatten schon immer einen Hang zur Dramatik gehabt.

 

Er zog die Schatulle hervor und öffnete sie. Da waren sie. Drei fleckige und eng beschriebene Blatt Papier. Der einzige Beweis für die Existenz des sagenumwobenen Meteoriten, der als der gläserne Fluch in die Geschichtsbücher eingegangen war. Wilson nickte zufrieden und steckte die Papiere ein. Er wollte gerade die Schatulle wieder schließen, als das Licht anging.

»Dachte ich mir doch, dass ich ein Geräusch gehört habe.«

François Lacombe stand in der Eingangstür, die Hände in die Hüften gestemmt. »Darf ich fragen, was Sie da tun, Sir Wilsön?« Er sprach den Namen mit einem näselnden »ö«, ganz so, als wolle er ihn absichtlich falsch aussprechen.

»Wonach sieht es denn aus?«

»Ich weiß, wonach es aussieht«, erwiderte der Franzose. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass ich keinen Irrtum begehe, wenn ich jetzt das Sicherheitspersonal rufe.«

»Da werden Sie nicht viel Glück haben.« Wilson stand auf und klopfte den Staub von den Hosenbeinen. »An Weihnachten ist nur die Notbesetzung anwesend. Und Philby ist zu alt, um Ihnen beistehen zu können.«

Lacombes Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Geben Sie mir die Papiere, auf der Stelle. Und dann gehen Sie.«

»Ich glaube, Sie verkennen die Situation. Ich brauche diese Notizen und ich werde sie an mich nehmen, ob Ihnen das nun passt oder nicht. Sie haben einen großen Fehler gemacht, sie mir vorzuenthalten. Damit haben Sie sich einen Feind geschaffen anstelle eines Verbündeten, und das in einem Land, das mit dem Ihren nicht gerade gute diplomatische Kontakte pflegt.«

»Wollen Sie mir drohen?« Lacombes Gesicht war puterrot angelaufen. »Hier, in meinen eigenen vier Wänden? Sie sollten sich lieber vorsehen.« Er machte einen schnellen Schritt zur Seite und packte seinen Degen, der griffbereit in der Ecke neben dem Schrank stand. Es war eine Pallasch, eine breitere Variante des klassischen Degens, die hervorragend als Schlagwaffe eingesetzt werden konnte. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog Lacombe die Klinge heraus und richtete sie auf den Engländer. »Und jetzt geben Sie mir mein Eigentum zurück.«

Wilson ließ ein Haifischlächeln aufblitzen und schlug seinen Mantel zur Seite. Dort hing sein Degen.

Die Augen des Franzosen wurden größer. Allmählich schien er zu begreifen, dass es nicht so einfach werden würde.

»Bitte, Monsieur, tun Sie das nicht.«

Wilsons Lächeln war wie eingemeißelt. Er zog seinen Degen und richtete ihn auf den Franzosen. Die Klingen trafen mit einem hellen Klang aufeinander.

»Ich muss Sie warnen, Monsieur!«, zischte Lacombe. »Ich habe unter Napoleon ein Offizierspatent erworben und war 1870 an der Schlacht von Sedan beteiligt.«

»Die die Franzosen mit Pauken und Trompeten verloren haben, wenn ich mich recht erinnere«, sagte Wilson. »Außerdem ist das Ganze über zwanzig Jahre her. Ich frage mich, ob Ihr Degen in dieser Zeit nicht ein wenig eingerostet ist.«

Er führte einen kleinen Scheinangriff durch und ging dann wieder in Ausgangshaltung. »Zumindest Ihre Reflexe sind noch gut«, konstatierte er. »Wollen sehen, wie es mit dem Rest bestellt ist. En Garde.« Er nahm Kampfposition ein.

Wilson kannte sich in der Geschichte dieses Kampfsports gut genug aus, um zu wissen, worauf in den Fechtschulen der französischen Armee Wert gelegt wurde. Lacombe versuchte, ihn auf Abstand zu halten. Ausfall, Schritt zurück. Ausfall, Schritt zurück. Sehr elegant zwar und auf offenem Feld gewiss recht wirkungsvoll, aber in einem beengten Raum wie diesem geradezu fahrlässig. Wilson hingegen ließ seinen Gegner so dicht wie möglich herankommen, während er aufpasste, dass er nach hinten immer genug Ausweichmöglichkeit hatte. Er konterte den letzten Ausfallschritt mit einer Ligade, bei der sein Degen in der Vorwärtsbewegung einen Kreis beschrieb und an der Klinge des Gegners entlangstrich. Lacombe, der viel zu weit hinten stand, rempelte mit dem Fuß gegen einen Stuhl und kam ins Straucheln. Um seinen Fehler auszugleichen, sprang er schnell zur Seite und entwischte ins angrenzende Arbeitszimmer. Für seine fünfundvierzig Jahre war er immer noch recht behände, doch es mangelte ihm an Kraft. Ein Vorteil, über den Wilson im Übermaß verfügte. Er holte zu einer Sforza aus, um Lacombe seine Klinge aus der Hand zu schlagen. Dabei verfehlte er sie knapp und fegte stattdessen das Teleskop vom Tisch. Splitternd und berstend ging es zu Bruch. Lacombe stieß einen Wutschrei aus und drang erneut auf Wilson ein. Mit wilden, unkontrollierten Schlägen versuchte er sich für die Zerstörung seines wertvollen Instruments zu rächen, doch seine Angriffe waren ebenso vorhersehbar wie sinnlos. Mit einer blitzschnellen Cavation umging Wilson den Prügelhagel, lenkte die Schläge zur Seite und zwang seinen Gegner dazu, sich vollkommen zu verausgaben.

Dann ging alles sehr schnell.

François Lacombe versuchte eine Flèche, geriet beim Abrollen ins Straucheln und stürzte Wilson in die offene Klinge. Er gab einen überraschten Laut von sich, dann kippte er zur Seite. Der Degen steckte bis zum Heft in der Brust des Franzosen.

Wilson zog seine Waffe heraus, wischte die Klinge an Lacombes Rock ab und steckte sie zurück in ihr Futteral. Ohne seinen Gegner eines weiteren Blickes zu würdigen, öffnete er die Tür.

Draußen stand Philby, die Augen vor Angst weit aufgerissen.

»Sir Wilson?« Er blickte auf den am Boden liegenden Franzosen. »Ich hörte Lärm. Mein Gott, was ist denn geschehen?«

»Eine Ehrensache«, erwiderte der Forscher. »Wir unterhielten uns, als Monsieur Lacombe ausfällig wurde. Er erdreistete sich, den Namen der Königin zu beschmutzen. Ich forderte ihn auf, sein Wort zurückzunehmen, aber er weigerte sich. So ergab ein Wort das andere.«

Philby wirkte erschrocken. »Aber das ist ja entsetzlich. Wir müssen die Polizei verständigen.«

»Natürlich müssen wir das. Meine Zeit ist allerdings knapp bemessen. Wenn Sie sich also bitte beeilen würden?«

»Ich … natürlich, Sir.« Der alte Mann eilte davon. Wilson lächelte zufrieden. Kein Mensch würde ihm einen Strick daraus drehen, dass er die Ehre der Königin verteidigt hatte. Im Gegenteil. Respektlosen Franzosen die Leviten zu lesen, gehörte in London schon fast zum guten Ton. Außerdem war er mit dem Polizeichef befreundet. Der würde die Sache zu seinen Gunsten drehen.

Das Wichtigste aber war: Er hatte die Dokumente. Endlich konnte er mit seinem bisher ehrgeizigsten Projekt beginnen.