Der gläserne Fluch

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8

Silvesterabend 1893 …

Oskar stand der Schweiß auf der Stirn. Wo waren die verdammten Schuhe? Auf Socken quer durchs Zimmer rutschend, spähte er unters Bett, in jede Ecke und jeden Winkel. Es war wie verhext. Heute Morgen waren sie doch noch da gewesen. Bestimmt hatte Lena sie irgendwohin verbummelt. Der Rotschopf liebte es, seine Sachen neu zu sortieren und sein Zimmer umzugestalten. Wie oft schon hatte er etwas gesucht und es dann an irgendeinem anderen Platz wiedergefunden. Normalerweise hatte sie einen guten Grund, aber heute konnte er darauf verzichten.

Noch einmal suchte er alles ab, dann hatte er die Nase voll. Er stürmte zur Tür und riss sie auf. »Lena?«

Als nichts geschah, brüllte er noch lauter: »Lena!«

Endlich hörte er Fußgetrappel auf den Stiegen. Lenas rote Zöpfe flatterten, als sie die Treppen emporeilte.

»Was tust du denn noch hier? Alle warten auf dich und die Pferde werden langsam unruhig.«

»Ich kann meine Schuhe nicht finden. Wo hast du sie wieder hingebummelt?«

»Von wegen hingebummelt. Ich habe sie dahin gestellt, wo sie hingehören. Zu deinen anderen Sachen.« Sie schnürte ins Zimmer und riss die Schranktüren auf.

Tatsächlich. Dort, im untersten Fach, standen sie.

»Bitte schön. Sauber und aufgeräumt, wie sich das gehört.«

Oskar wollte etwas sagen, doch ihm fiel nichts Passendes ein. Dass die Schuhe im Schrank standen, darauf hätte er nun wirklich selbst kommen können. Mürrisch schlüpfte er hinein und zog die Schnürsenkel fest.

»Oskar, wir wollen los!« Humboldts Stimme schallte vom Hof herauf.

»Lass dich mal ansehen.« Lena fing an, an ihm herumzuzupfen. Sie fegte Staubflusen von seiner Jacke, stellte den Hemdkragen ordentlich auf und zog seine Krawatte fest. »Bist du aufgeregt?«

»Bin ich nicht.« Oskar presste die Lippen aufeinander. Natürlich war er aufgeregt. Wer wäre das nicht?

»Macht nichts«, sagte Lena und gab ihm einen Klaps. »Wäre ich auch an deiner Stelle. Und jetzt ab mit dir.«

»Danke«, grummelte er, dann eilte er die Treppen runter.

»Da bist du ja endlich!«, rief Humboldt, als er unten eintraf. »Wir haben schon gedacht, wir müssten ohne dich losfahren.« Sein Vater trug einen langen schwarzen Mantel, eisenbeschlagene Stiefel und einen hohen Zylinder. In seiner Hand hielt er seinen schwarzen Gehstock mit dem goldenen Knauf. »Möchtest du zu den Damen oder kommst du zu mir auf den Kutschbock?«

Oskar warf einen sehnsüchtigen Blick ins warme Innere, dann schüttelte er den Kopf. »Vier Augen sehen mehr als zwei. Ich komme mit rauf.«

»Sehr schön.« Humboldt entzündete die Petroleumleuchten, stieg auf den Kutschbock und machte Platz für Oskar. Dann ließ er die Zügel schnalzen und lenkte die Kutsche in einem weiten Kreis in Richtung Ausfahrt. Als sie am Haus vorbeifuhren, sah Oskar seine Freunde, die ihre Nasen an die Scheiben pressten. »Stellt keinen Unsinn an und lasst niemanden hinein!«, rief Humboldt. »Ich verlasse mich auf euch. Wir sehen uns im neuen Jahr.« Die Pferde gingen in einen lockeren Trab über und klapperten fröhlich in Richtung Innenstadt.

Es war Viertel nach acht, als sie bei den Bellheims eintrafen.

Das dreistöckige Stadthaus an der Dorotheenstraße, unweit des Brandenburger Tors, war festlich beleuchtet. Das Tor zum Innenhof stand offen und Humboldt lenkte die Kutsche auf einen der freien Plätze. Der Großteil der Gäste schien bereits anwesend zu sein. Er sprang vom Fahrersitz und übergab die Zügel dem Stallburschen, dann half er den Damen beim Aussteigen. Oskar warf einen bewundernden Blick auf seine Cousine. Charlotte sah heute einfach hinreißend aus. In ihrem langen Mantel, der weißen Pelzmütze und den weichen Handschuhen wirkte sie wie eine Zarentochter. Wie eine Prinzessin aus einem russischen Märchen. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, das dies dasselbe Mädchen sein sollte, das ihn in Stiefeln, Männerhosen und Trapperweste in die höchsten Berge und die tiefsten Meerestiefen begleitet hatte.

»Das ist aber wirklich ein schönes Haus«, sagte sie. »Ich wusste gar nicht, dass man als Geograf so viel Geld verdienen kann.«

Humboldt lachte. »Richard ist Mitglied der Deutschen Geografischen Gesellschaft, einer der angesehensten Vereinigungen weltweit. Um von ihr aufgenommen zu werden, muss man schon einiges geleistet haben. Er hat lange Zeit in Algerien, Tunesien und Libyen geforscht und mitgeholfen, antike Städte aus dem Wüstensand zu graben. Naturwissenschaften müssen nicht zwangsläufig eine brotlose Kunst sein.« Er stapfte durch den Schnee in Richtung Haupteingang und klopfte an. Oskar folgte ihm mit bangem Gefühl. Er war noch nie zu Gast bei irgendeiner größeren Gesellschaft gewesen. Charlotte hatte ihm gesagt, er solle sich eng an sie, Humboldt und Eliza halten, doch das war keine Garantie. Was, wenn ihn jemand nach seiner Herkunft fragte oder nach seiner Vergangenheit?

In diesem Moment ging die Tür auf. Ein älterer, steif wirkender Diener erschien und musterte die Neuankömmlinge mit unterkühltem Blick. Er trug einen eng anliegenden Frack mit langen Rockschößen, eine Hose mit Nadelstreifen sowie blank polierte Schuhe. Sein Kopf wurde von einem Kranz kurz geschnittener weißer Haare umrahmt. Auf seiner Oberlippe thronte ein schmales, wohlgetrimmtes Bärtchen.

»Wen darf ich melden?«, fragte er.

»Carl Friedrich von Humboldt, Eliza Molina, Charlotte Riethmüller und Oskar Wegener.«

Der Diener deutete eine Verbeugung an und trat einen Schritt zur Seite. »Bitte folgen Sie mir. Sie werden bereits erwartet.«

Der Geruch nach Tabak und alkoholischen Getränken durchwehte den Eingangsbereich. Von jenseits der Tür drangen vereinzelte Lacher zu ihnen herüber. Das Fest schien bereits in vollem Gange zu sein.

Oskar blickte sich um.

Der Raum war mit Sammlerstücken ferner Länder dekoriert. Masken, Totems, Schilde und Waffen, alles wunderschön gearbeitet. Die meisten von ihnen bestanden aus Holz und waren mit kleinen Muscheln oder Steinen verziert. In einer Ecke des Raumes stand eine Skulptur, die aus einem einzigen Baumstamm geschnitzt war. Hunderte ineinander verwobener Menschenkörper krabbelten über- und untereinander und hielten Schalen und Körbe in ihren winzigen Händen. Oskar verschlug es die Sprache. So etwas hatte er noch nie gesehen.

Der Diener bat sie, ihre Jacken und Mäntel abzulegen, dann führte er sie in den Salon.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren, Carl Friedrich von Humboldt nebst Begleitung.«

Etwa dreißig Personen waren anwesend, Männer und Frauen unterschiedlichsten Alters. Oskar sah Rüschenkleider, Westen, hochgestellte Krägen, Nickelbrillen, Fächer und Manschetten. Eine Gruppe von Männern hatte sich in einem Nebenzimmer versammelt, wo Branntwein und Zigarren gereicht wurden.

Nach und nach erstarben die Gespräche. Alle Augen waren auf die Neuankömmlinge gerichtet. Eine peinliche Stille trat ein. Oskar konnte das Gas der Lampen zischen hören.

In diesem Moment ging rechts von ihnen eine Tür auf. Eine schöne und wohlgekleidete Dame betrat den Raum. »Was herrscht denn hier für eine Grabesstille?« Als sie die Neuankömmlinge bemerkte, ging ein Strahlen über ihr Gesicht.

»Herr Humboldt! Ich habe Sie gar nicht kommen hören.«

Der Forscher deutete eine Verbeugung an. Frau Bellheim eilte herbei und schüttelte ihnen die Hand. »Wie schön, Sie wiederzusehen. Und Sie natürlich auch, Fräulein Charlotte. Ich habe mich so darauf gefreut, unsere kleine Unterhaltung von neulich fortzusetzen.« Dann ging sie zu Eliza. »Sie müssen Frau Molina sein. Herr Humboldt hat mir schon von Ihnen erzählt. Welch außergewöhnliches Vergnügen, Sie kennenzulernen. Treten Sie doch näher.«

»Bitte nennen Sie mich Eliza. Ich bin es nicht gewohnt, dass man mich mit Nachnahmen anspricht. Ich komme mir dabei immer so alt vor.«

»Ganz reizend. Aber nur, wenn Sie mich Gertrud nennen.«

»Einverstanden.« Die beiden Frauen lachten.

Das Eintreffen der Hausherrin wirkte wie eine frische Brise.

Dann richtete Frau Bellheim ihre Augen auf ihn. »Herzlich willkommen, junger Mann. Sie müssen Herr Wegener sein.«

Oskar, der nicht genau wusste, wie er sich zu verhalten hatte, ergriff ihre Hand, verbeugte sich und deutete einen Kuss an.

»Oh, wie galant«, sagte Frau Bellheim lachend. »Was für einen gut aussehenden Sohn Sie haben, Herr Humboldt. Meinen Glückwunsch.« Sie zwinkerte dem Forscher zu. »So, nun müssen Sie aber unbedingt mit mir anstoßen. Jetzt, wo die Gesellschaft vollständig ist, gibt es keinen Grund, noch länger auf dem Trockenen zu sitzen. Berthold, haben alle Gäste etwas zu trinken? Schön. Dann wollen wir unser Glas erheben. Ich möchte Sie bitten, auf meinen Mann anzustoßen, der nach langer und beschwerlicher Reise endlich wieder zu mir zurückgekehrt ist.« Sie deutete auf einen Mann, der in einem Lehnstuhl ganz nah am flackernden Kaminfeuer saß. Er war groß, mager und ernst. Ein paar Leute standen um ihn herum und versuchten, eine Unterhaltung mit ihm zu führen. Doch der Mann schien irgendwie nicht bei der Sache zu sein. Fahrig wanderten seine Augen umher, als wären sie auf der Suche nach irgendetwas. Außerdem schien es, dass er trotz der enormen Temperaturen, die dort herrschten, fror. Er war blass und zitterte leicht. Oskar ließ sich von dem Diener zwei Gläser einschenken und ging damit zu Charlotte hinüber. »Ich habe einen Fruchtsaft für dich. Möchtest du?«

Seine Cousine schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln. »Oh, wie galant«, sagte sie, den Tonfall von Frau Bellheim imitierend. Sie nahm das Glas. »Und so gut aussehend.«

»Lass doch den Unsinn.« Oskar spürte, dass ihm das Blut ins Gesicht schoss. »Du weißt genau, dass das nicht stimmt.«

 

»Sei doch nicht so empfindlich.« Sie lächelte. »Ich habe das durchaus ernst gemeint. Ich finde, du machst wirklich eine gute Figur.«

Oskar nippte an seinem Saft und ließ seinen Blick schweifen. Als er bei Bellheim ankam, hielt er inne. Irgendetwas war seltsam an dem Mann. Ehe er noch dahinterkam, was es war, trat Charlotte an ihn heran und flüsterte: »Eigenartig, nicht wahr? Sieh nur, wie alle Gäste sich um ihn bemühen. Dabei macht er nicht den Eindruck, als würde er einen von ihnen kennen.«

»Hat Humboldt nicht gesagt, heute seien nur die engsten Freunde geladen?«

»Doch, und das macht die Sache noch merkwürdiger. Du hättest es erleben sollen. Er hat Humboldt behandelt wie einen Fremden.«

»Vielleicht ist er nur erschöpft von seiner langen Reise. Ich erinnere mich, dass es mir genauso ging, als wir von unserer letzten Reise zurückkamen.«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Glaube ich nicht. Er ist schließlich schon wieder eine ganze Weile hier. Ich tippe auf ein seelisches Problem.«

»Und was genau?«

Sie zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Aber was es auch ist, an Frau Bellheims Stelle würde ich mir ziemliche Sorgen machen. Apropos: Hast du eine Ahnung, ob sich bei Menschen manchmal die Augenfarbe ändert? Also ich meine bei erwachsenen Menschen. Bei Säuglingen ist ja bekannt, dass ihre Augen anfangs alle hellblau sind.«

Oskar runzelte die Stirn. »Was für eine seltsame Frage. Und wie kommst du darauf, dass gerade ich so etwas weiß?«

Charlotte nahm einen Schluck aus ihrem Glas, dann schüttelte sie den Kopf. »Du bist doch viel rumgekommen und hast sicher einige seltsame Dinge erlebt«

»Aber so etwas noch nie. Klingt irgendwie gruselig.«

Charlotte nickte. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, aber in diesem Augenblick erschien die Köchin, in ihrer Hand ein Glöckchen. Ein zartes Klingeln ertönte.

»Meine Damen und Herren, wenn ich Sie ins Esszimmer bitten dürfte. Es ist angerichtet.«

9

Die Tafel war festlich eingedeckt. Wertvolles Porzellan, Silberbesteck und kristallene Gläser schimmerten im Licht unzähliger Kerzenständer. Die Stoffservietten waren zu kleinen Tieren gefaltet. Jeder Platz war mit einer Tischkarte dekoriert worden, auf der ein Name stand.

Mit besorgtem Blick stellte Oskar fest, dass er zwischen zwei Leute saß, die er nicht kannte. Den anderen erging es nicht besser. Sie alle waren zwischen den anderen Gästen verteilt worden und saßen obendrein ein ganzes Stück von ihm entfernt. Vermutlich, damit man sich schneller kennenlernte. Ehe er protestieren konnte, erhob Frau Bellheim ihr Glas.

»Meine lieben Freunde, verehrte Gäste. Ich möchte Sie ganz herzlich zu unserem Silvesterempfang begrüßen. Danke, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind und den Jahreswechsel mit mir und meinem Mann verbringen. Bitte wundern Sie sich nicht, dass ich alle ein wenig auseinandergesetzt habe, das geschah mit voller Absicht. Ich würde mir wünschen, dass wir alle miteinander bekannt werden und als gute Freunde ins neue Jahr gehen. Herzlich willkommen in unserem Hause!«

Alle hoben ihre Gläser und prosteten einander zu.

Richard Bellheim saß am Kopfende des Tisches, direkt neben seiner Frau. Er machte den Eindruck, als wisse er überhaupt nicht, wo er war. Als seine Frau ihm etwas ins Ohr flüsterte, stand er steif und langsam auf und blickte in die Runde.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gertrud.« Seine Stimme klang dünn und kraftlos. »Ich bin gerührt über die Ehre, bei diesem Tisch den Vorsitz führen zu dürfen, auch wenn ich diese Aufgabe nur eingeschränkt erfüllen kann.« Er zögerte. »Manch einem mag aufgefallen sein, dass ich mich in letzter Zeit etwas verändert habe. Nicht zum Guten, wie ich leider zugeben muss. Meine Ärzte meinen, es wäre nur ein vorübergehender Erschöpfungszustand und dass ich mir keine Sorgen machen solle. Ich hoffe, sie haben recht. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass mir die Situation sehr unangenehm ist. Ich bitte um Nachsicht, wenn ich bei dem einen oder anderen der hier Anwesenden Erinnerungsprobleme habe. Ich möchte mich aber jetzt schon ganz herzlich bedanken, dass Sie einem zerstreuten Professor Gesellschaft leisten wollen.«

Die Gäste hoben die Gläser und prosteten dem Völkerkundler zu. »Hört, hört!«

Oskar blickte in Humboldts Richtung. Der Forscher beobachtete Bellheim mit kritischem Blick. Mochte der Himmel wissen, was gerade in seinem Kopf vorging. Dann folgte das Festmahl, das Oskars volle Aufmerksamkeit beanspruchte. Als Vorspeise gab es Wachtelbrüstchen in Portsoße, anschließend folgte der traditionelle Silvesterkarpfen und zum Nachtisch gab es Burgunderpflaumen mit Vanilleeis. Dazwischen wurden verschiedene Weine gereicht und wer wollte, bekam ein Bier. Die Unterhaltung verlief angenehm und entspannt. Es wurde gegessen, geplaudert und angestoßen, und eine Weile ging alles gut. Doch es kam der Moment, vor dem Humboldt sie vor ihrer Abfahrt gewarnt hatte. Er trat in Form eines dicklichen Mannes mit Backenbart in Erscheinung, dessen Glatze im Schein der Kerzen rosa glänzte. Er hatte schon eine ganze Weile dem Wein zugesprochen und befand sich in einem Zustand, den man nur als schwer alkoholisiert bezeichnen konnte. Oskar kannte die Symptome: glänzende Augen, gerötete Wangen, großporige Nase, feuchte Unterlippe. Der Mann war gerade bei seinem sechsten oder siebten Glas angelangt, als er sich über den Tisch beugte und weithin hörbar sagte: »Ich hörte, Sie sind jetzt in der Dienstleistungsbranche, Herr Donhauser?« Schon wie er den Namen aussprach, zeugte von tiefer Geringschätzung.

An den Plätzen wurde es schlagartig ruhig. Wie es schien, hatten alle auf diesen Augenblick gewartet.

Humboldt unterbrach das Gespräch mit seiner Tischnachbarin und drehte den Kopf. Um seinen Mund spielte ein dünnes Haifischlächeln. »Ich fürchte, da sind Sie falsch informiert, Dekan Wallenberg.«

»So?«

»Ganz recht. Mein Name ist von Humboldt. Schon seit einer ganzen Weile. Alexander war mein Vater, aber vielleicht haben Sie das nicht mitbekommen. Die mathematische Fakultät war schon immer ein wenig langsam.«

Vereinzelt erklang Gelächter.

Wallenbergs gerötete Wangen wurden eine Spur dunkler.

»Ich habe so etwas läuten hören«, erwiderte er mit Blick auf seine perfekt manikürten Hände. »Ich konnte nur nicht glauben, dass der alte Knabe mit achtzig noch ein gesundes Kind gezeugt haben soll.« Er kippte den letzten Rest Wein in seinen Schlund und ließ sich nachschenken. »Aber Alexander von Humboldt war eben ein großer Mann.«

Oskar hielt den Atem an. Wallenberg schien nicht zu wissen, in welcher Gefahr er sich befand.

Doch Humboldt blieb erstaunlich ruhig. Immer noch lächelnd sagte er: »Das war er in der Tat. Gegen ihn sind wir nur Eintagsfliegen. Und was Ihre Frage betrifft: Ja, ich biete meine Dienstleistungen Firmen oder Privatpersonen an, wenn diese ein ungewöhnliches Problem haben. Zwei Fälle konnten wir schon zur vollen Zufriedenheit aller Beteiligten lösen. Jetzt arbeiten wir wieder an einem neuen Fall. Wenn Sie ein Problem haben, ich stehe Ihnen gern zu Diensten.«

»Nein, nein. Vielen Dank.« Wallenberg winkte ab. Sein Backenbart war gesträubt und beim Sprechen flogen kleine Speicheltropfen durch die Luft. »So weit kommt’s noch, dass ich meine Aufgaben von einer Gruppe Schausteller erledigen lasse. Ich finde es schon unerhört, dass uns zugemutet wird, am selben Tisch mit einer dunkelhäutigen …«

Weiter kam er nicht. Er hatte sich halb aus seinem Sitz erhoben, als er unvermutet abbrach und mit großen Augen in die Runde starrte. Er sah aus, als hätte er eine Gräte verschluckt.

»Herr Dekan?« Gertrud Bellheim blickte besorgt auf ihren Gast. »Geht es Ihnen nicht gut?«

»Ich …« Wallenberg sank zurück. Er schien mitten im Satz vergessen zu haben, was er eigentlich sagen wollte.

Oskar warf einen verborgenen Blick zu Eliza hinüber. Die Haitianerin hielt Wallenberg mit ihren geheimnisvollen dunklen Augen gefangen. Oskar sah, dass sie stumme Worte murmelte und dabei ganz unauffällig mit der Hand über ihr Amulett strich.

Wallenberg setzte noch einmal an, doch dann schüttelte er verwirrt den Kopf. »Tja, es scheint, ich habe vergessen, was ich eigentlich sagen wollte.«

»Sicher zu viel Wein«, sagte Humboldt. »Das ist gar nicht gut bei Ihrem hohen Blutdruck.«

»Ja, vermutlich haben Sie recht.« Wallenberg ließ sich ein Glas Wasser einschenken und trank es gierig aus. »Schon viel besser«, sagte er. »Vielen Dank. Und falls ich eben irgendwie ausfallend geworden bin, so bitte ich das zu entschuldigen. Was ich eigentlich sagen wollte, war, dass ich Ihnen viel Glück bei Ihren Unternehmungen wünsche und dass Sie bald wieder in die Dienste unserer Universität treten mögen.«

»Diesem Wunsch schließe ich mich von Herzen an«, sagte Frau Bellheim, sichtlich überrascht, dass das Gespräch eine so unerwartete Wendung genommen hatte. Wie alle am Tisch schien sie damit gerechnet zu haben, dass es gleich zu einer unangenehmen Auseinandersetzung kommen würde. »Mit Ihrer Erlaubnis würde ich die Tafel gern auflösen und Sie zu einem kleinen Punsch in den Salon bitten. Dort erwarten Sie Musik und Tanz.« Sie stand auf und klatschte in die Hände. Im Nu eilte das Dienstpersonal herbei, half den Gästen beim Aufstehen. Nicht wenige hatten schon sichtbare Schlagseite.

Als alle drüben waren, fragte Oskar: »War das eben dein Werk, Eliza?«

»Was meinst du?«

Er deutete auf den dicken Mann mit dem Backenbart, der sich bereits wieder eifrig Punsch einschenken ließ.

»Ach das.« Sie lächelte bescheiden. »Ein klein wenig Magie aus meiner Heimat.«

»Das hast du sehr gut gemacht«, flüsterte Humboldt. »Wer weiß, was geschehen wäre, wenn dieser Idiot weitergeredet hätte. Danke.« Er drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf das pechschwarze Haar. »Wie sieht’s aus? Möchtest du tanzen?«

»Ich dachte, du fragst nie.« Sie streckte ihm ihre Hand hin und gemeinsam gingen sie zu den Klängen eines Walzers in das angrenzende Zimmer hinüber.

10

Es war kurz vor halb zwölf, als Oskar völlig erschöpft nach einer kleinen Pause verlangte. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass Tanzen ihm so viel Spaß machen würde. Er war wahrhaftig kein geübter Tänzer, aber Charlotte war nachsichtig und beklagte sich nicht, wenn er ihr mal auf den Fuß trat oder aus dem Takt kam. Außerdem war er glücklich, dass sie ihm den kleinen Zwischenfall neulich im Treppenhaus nicht übel nahm. Zwischen ihnen war alles wie zuvor, außer dass er immer noch nicht erfahren hatte, was Charlotte mit all den Dokumenten vorhatte. Doch darüber wollte er sich heute Abend nicht den Kopf zerbrechen. Er war außer Atem und sein Herz schlug wild.

»Na, ihr beide scheint euch ja prächtig zu amüsieren.« Eliza lächelte. »Passt nur auf, dass euch nicht schwindelig wird.« »Charlotte scheint überhaupt nicht müde zu werden«, keuchte Oskar. »Ich habe mich eigentlich immer für gut trainiert gehalten, aber mit ihr kann ich nicht mithalten.« Er blickte zu seiner Cousine hinüber, die gerade mit einem älteren Herrn eine Mazurka tanzte.

»Ja, sie ist tatsächlich sehr sportlich.« Der Forscher gab ein verlegenes Räuspern von sich. »Darf ich trotzdem deine Gedanken auf unseren Auftrag lenken?«

»Mmh?« Oskar fiel es schwer, sich von dem Anblick loszureißen.

»Es geht um etwas, das Frau Bellheim mir während des Vortrags ihres Mannes erzählt hat.«

Oskar hörte nur mit halbem Ohr hin, aber er sah ein, dass er den Forscher nicht länger ignorieren konnte.

»Und um was ging es?«

»Sie erwähnte ein Tagebuch, das ihr Mann angeblich in Afrika dabeihatte. Sie erwähnte zwei Begriffe. Der eine lautete Dogon und der andere Meteorit.«

Oskars Interesse war plötzlich erwacht. »Ein Meteorit? Ein Gesteinsbrocken aus dem Weltall?«

»Ganz recht.« Humboldt blickte zu allen Seiten, um sicherzugehen, dass sie nicht belauscht wurden. »Es gibt da etwas, das ich dir zeigen möchte. Komm mit.«

Oskar folgte Humboldt und Eliza ins Nebenzimmer.

»Hier herüber.« Humboldt winkte ihn zu einer großen Vitrine mit aufwendigen Bleiglaselementen. Das Stück sah ungeheuer alt und wertvoll aus.

»Was ist damit?«, wollte Oskar wissen.

»Schau dir das mal genau an. Fällt dir irgendetwas daran auf?«

Oskar trat näher. Auf den ersten Blick wirkte die Vitrine makellos und erlesen, doch beim genaueren Hinsehen stellte sich heraus, dass etliche der Scheiben gesprungen oder zersplittert waren. Viele der gläsernen Einlegearbeiten fehlten oder waren zerstört. Eine Stelle war besonders seltsam. In einer der Scheiben klaffte mittendrin ein rundes Loch. Die Ränder sahen irgendwie geschmolzen aus. Als er den Forscher fragend ansah, nickte dieser.

 

»Seltsam, nicht wahr? Wie reingeätzt.«

»Was kann das sein?«

»Keine Ahnung. Alles, was ich weiß, ist, dass diese Löcher in Glasscheiben überall im Haus zu finden sind. Sie befinden sich an Stellen, die schlecht zugänglich und wo sie nicht gleich zu erkennen sind. Frau Bellheim wies mich darauf hin, konnte aber selbst keine Erklärung dafür finden.«

»Und was denken Sie?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin noch in der Phase, in der ich Informationen sammle. Tatsache ist, dass diese Schäden erst entstanden sind, nachdem Richard Bellheim von seiner Reise zurückkehrte.« Der Forscher verschränkte seine Arme vor der Brust. »Wie du weißt, habe ich von Frau Bellheim den Auftrag erhalten, Nachforschungen über ihren Mann anzustellen.«

»Charlotte hat es mir erzählt.«

»Gut. Dann kannst du dir vorstellen, wie wichtig es für mich wäre, dieses Tagebuch in die Finger zu bekommen. Ich bin sicher, es stehen Sachen darin, die für unseren Fall von großem Interesse sind. Ich habe Frau Bellheim bereits gebeten, mich einen Blick hineinwerfen zu lassen, doch sie hat strikt abgelehnt. Sie möchte nicht, dass irgendwelche privaten Details ans Tageslicht kommen. Wenn ihr mich fragt, ich glaube, sie fürchtet sich vor der Wahrheit.«

»Und wie kann ich dabei helfen?« Oskar sah in die eisblauen Augen des Forschers. »Moment mal … Sie wollen, dass ich es stehle?«

»Ich möchte, dass du es ausleihst.« Humboldt lächelte verlegen. »Ich kann es dir nur schwer erklären, aber ich habe ein ganz merkwürdiges Gefühl bei dem Mann. Mein Instinkt sagt mir, dass etwas in Afrika vorgefallen ist. Etwas, von dem wir nicht wissen sollen, was es ist. Bellheim gibt sich größte Mühe, jeden Verdacht bezüglich seiner Person zu zerstreuen. Je mehr er das tut, desto misstrauischer werde ich. Du hättest ihn früher erleben sollen. Er war ein waghalsiger junger Mann, voller unbändiger Energie und Ehrgeiz. Er wusste immer genau, was er wollte und wie er es bekam. Und er hatte Charme. Die Frauen lagen ihm zu Füßen. Dieser Mann dort drüben ist nur noch ein Schatten seiner selbst. Jemand, der so tut, als wäre er jemand anders.«

Oskar war weit davon entfernt zu verstehen, auf was sein Vater da anspielte, aber er wusste, was von ihm erwartet wurde.

»Na gut«, seufzte er. »Das Tagebuch. Wo soll ich suchen und vor allem wann?«

Humboldt blickte zur Standuhr auf der anderen Seite des Raums. »Es ist jetzt halb zwölf. In einer guten Viertelstunde wird die Kapelle aufhören zu spielen und alle werden nach draußen auf die Straße gehen. Selbst das Dienstpersonal wird das Haus verlassen, um das Feuerwerk zu betrachten. Eine halbe Stunde lang wirst du völlig ungestört sein. Am besten, du durchstöberst zuerst das Schlafzimmer. Dort werden normalerweise die persönlichsten Gegenstände aufbewahrt. Versuch es mit den Nachttischchen und arbeite dich dann durch Vitrinen und Sekretäre. Halte nach einem Buch Ausschau, das alt und abgewetzt wirkt. Wenn es zwei Jahre in Afrika war, dürfte es ziemlich ramponiert sein.«

»Und wenn ich es habe?«

»Mich interessieren nur die letzten Einträge. Sieh nach, ob du irgendetwas zum Thema Meteoriten findest. Nimm dir am besten etwas zu schreiben mit und mach dir Notizen. Hier sind ein Stift und ein Blatt Papier.« Er zog beides aus seiner Weste.

»Was, wenn ich es nicht finde oder erwischt werde?«

»Lass dir etwas einfallen. Du bist doch ein geschickter Dieb. Und jetzt los. Ich werde mir eine passende Entschuldigung für dich einfallen lassen.«