Loe raamatut: «Weiterglauben»

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Thorsten Dietz

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GLAUBEN

Warum man einen

großen Gott

nicht klein denken kann


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96140-048-5

© 2018 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia tets

Satz: Brendow Web & Print, Moers

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

I Im Sog der Polarisierungen

1. Wachstumsschmerzen

2. Die Freischwimmer-Debatte

3. Zarathustra und sein Schatten

4. Theologie der dritten Wege

II. Gott gehört uns nicht

1. Der Gott zum Anfassen

2. Der offenbar verborgene und verborgen offenbare Gott

3. Geheimnis des Glaubens

4. Gott ist größer – Gott ist näher

III. Eine, meine oder keine Wahrheit?!

1. Was ist Wahrheit?

2. Jesus Christus – die Wahrheit

3. Wahrheit auf Pandora

4. „Das Kreuz Christi allein ist unsere Theologie“ (Martin Luther)

IV. Ist die Bibel Gottes Wort?

1. Streitfall Schriftverständnis

2. Gotteswort in Menschenwort

3. Kritik der Bibel?

4. Sicherheit oder Gewissheit?

V Sind alle Erzähltexte der Bibel historisch wahr?

1. Die 3D-Brille der historischen Bibelforschung

2. Die Sintflut und die modernen Wissenschaften

3. Der Sinn der Sintflutgeschichte heute

4. Gottes Bilder

VI. Die Autorität der Bibel in ethischen Fragen

1. Luthers ethische Auslegung der Bibel

2. Ethische Entscheidungen Luthers in Ehefragen

3. Historisierung biblischer Aussagen

4. Kontextualisierung biblischer Normen für heutige Fragen

5. Norm und Sachverhalt

VII. Allein gehst du ein?!

1. Weiterglauben – und die Gemeindefrage

2. Niedergang oder Erneuerung des Christentums?

3. Flucht aus Evangelikalien

4. Kirche und Gemeinschaft

VIII. Der Fromme der Zukunft wird Mystiker sein

1. Frömmigkeit heute und morgen

2. Mystische Frömmigkeit

3. Glaube als Übungsweg

IX. Im Delta: Christentum in der Umformungskrise

1. Das Delta

2. Kirchen in der Unübersichtlichkeit

3. „Chaos ist eine Leiter“ (Littlefinger)

4. Zwischen Quelle und Mündung

Weitere Bücher

Anmerkungen

Meinen Töchtern Miriam Dietz, Theresa Dietz, Elisa Dietz

Vorwort

Im Mai 2016 habe ich erstmals bei Worthaus e. V. als Referent mitgearbeitet und zwei Vorträge über Martin Luther gehalten. Worthaus ist ein Projekt, das theologische Vorträge über zentrale Aspekte des christlichen Glaubens im Internet zur Verfügung stellt. Anschließend hatte ich in den letzten beiden Jahren viele Gespräche mit Menschen, die sich durch Beiträge von Worthaus sehr bereichert fühlten. Gleichzeitig sind bei mir auch eine Reihe von Rückmeldungen angekommen von Gläubigen, die sich durch diese Impulse verunsichert fühlen, teilweise auch verletzt und verärgert.

Im Herbst 2017 erschien ein vielgelesener Blog-Artikel mit dem Titel: Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale?1 Dort hieß es schon in der Einleitung: „Worthaus macht universitäre Theologie populär – auch unter Evangelikalen.“ Das war nicht als Kompliment gemeint. Ich denke aber, man müsste das zuerst auch als ein solches lesen. Es ist alles andere als einfach, wissenschaftliche Theologie unter Christen populär zu machen. Genau das aber ist vor allem Prof. Dr. Siegfried Zimmer und anderen in den letzten Jahren gelungen. Die Beiträge bei Worthaus werden durchweg von Zehntausenden Christen gehört, teilweise von Hunderttausenden, die in vielen Vorträgen eine wesentliche Hilfe für ihren Glaubensweg finden. Dafür gibt es offensichtlich eine Nachfrage. Die hier versammelten Beiträge setzen sich ebenfalls ein solches Ziel: theologische Erkenntnisse möglichst verständlich zu vermitteln.

Insgesamt ist nicht zu überhören, dass manche Christen erhebliche Anfragen an die moderne wissenschaftliche Theologie insgesamt haben. Das ist ihr gutes Recht – Theologinnen und Theologen sollten genau hinhören, auch, wo sie bisweilen recht pauschal kritisiert werden.

Nun ist es so: Die Universitätstheologie hat keine Mailadresse. Niemand kann sich anmaßen, im Namen der Theologie jede mögliche Frage zu klären. Auch innerhalb der Theologie gibt es viele kontroverse Diskussionen. Aber vielleicht gelingt es ja, manche heiße Debatte unter Christen dadurch etwas zu versachlichen, dass man sie differenziert aufgreift. Manche Beiträge dieses Buches sind aus solchen Diskussionen heraus entstanden. Andere gehen zurück auf eine Reihe von Vorträgen, die ich im Laufe des letzten Jahres gehalten habe.2

Vielleicht hilft insgesamt ein Bild aus der Landwirtschaft, um meine Absicht mit diesem Buch deutlich zu machen.3 In der industriellen Landwirtschaft gab es einen langfristigen Trend zum Anbau in Monokulturen. Die Konzentration auf ein einziges Saatgut ermöglicht die kurzfristig effektive Konzentration der Arbeitsabläufe und erhebliche Ertragssteigerungen. Auf Dauer zeigt sich jedoch mehr und mehr, dass ein solches Verfahren für den Boden wie auch für die Pflanzen (durch vermehrten Schädlingsbefall) und die Umwelt insgesamt ruinös werden kann. Die viel gesündere Entwicklung zeigt sich in einem Mischanbau. Mehrere Pflanzenarten werden zusammen angepflanzt. Was zunächst mehr Mühe macht, erweist sich auf die Dauer als nachhaltiger.

Übertragen wir das Bild auf das Christentum: Es gibt globale Trends zur spirituellen Monokultur. Immer mehr Gemeinden und Kirchen entwickeln ein eindeutiges Profil, in Lehre, Musikstil und Lebensgefühl gewinnt alles eine klare und konsequente Handschrift, sei es liberal, evangelikal, charismatisch etc. Natürlich haben gewisse Konzentrationen ihr Recht und ihre besonderen Chancen. Und doch steigern solche Profilierungen auf Dauer die Gefahr der Vereinseitigung. Gegenseitige Bereicherung fällt aus, genauso wie wechselseitige Kritik. In diesem Buch werden Prozesse der Polarisierung untersucht und beschrieben mit der Absicht, die Brücken, die Übergänge und Verbindungstunnel zwischen den Lagern zu pflegen und zu stärken. Unterschiedliche Frömmigkeitsstile brauchen einander zur Ergänzung, verschiedene Phasen des Glaubens können auch zeitversetzt nebeneinander bestehen, so manche notwendige Auseinandersetzung könnte verständnisvoller und gründlicher geführt werden.

Für freundliche Ermutigungen und kritische Ermahnungen danke ich den Marburger Freunden Michael vom Ende, Tobias Faix, Frank Lüdke und Jürgen Mette. Mit Hinweisen und Korrekturen haben sich Jakob Kimpel und Daria Prinke verdient gemacht.

I. Im Sog der Polarisierungen
1. Wachstumsschmerzen

Im Glauben wachsen – das wollen alle Christinnen und Christen.4 Niemand möchte unreif, naiv oder unmündig glauben. Manche würden das so nicht formulieren, sie würden sagen: Glaube ist für mich aber kindliches, naives Vertrauen auf Gott. Aber genau von dieser Haltung möchten sie gerne durch und durch bestimmt sein. Christen haben Sehnsucht nach mehr Tiefe oder nach mehr Weite. Manchmal bringen solche Entwicklungswege ungeahnte Wachstumsschmerzen mit sich. Denn Christenmenschen können sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln. Für die einen bedeutet Wachstum im Glauben eine immer konsequentere Umsetzung ihres Glaubens in allen Lebensbereichen. Für andere besteht Wachstum nicht zuletzt auch darin, eigene Glaubensüberzeugungen selbstkritisch hinterfragen zu können. Manche Christen wollen raus aus dem, was sie im Rückblick auf ihr bisheriges Glaubensleben als Enge empfinden. Sie haben das Gefühl, viel zu viele Fragen unterdrücken zu müssen, und leiden unter der Sprachlosigkeit in ihren Gemeinden. Andere sind betroffen über solche Ausbruchsversuche. Sie fühlen sich durch solche Formulierungen angegriffen und missverstanden. Aus ihrer Sicht sollte man nicht von Weite reden, wo man die enge Pforte breit machen möchte. Sie weisen den Vorwurf zurück, dass diejenigen, die den schmalen Weg gehen wollen, eine Verengung des Glaubens betreiben. Es geht ihnen nicht um Enge, sondern um Treue und Verbindlichkeit. Was für die einen Wachstum ist, empfinden andere als Verhärtung oder Verfall. Derselbe Glaube erscheint einigen als fest, anderen als eng. Was die einen Freiheit nennen, ist in den Augen der anderen Beliebigkeit.

Solche gegenläufigen Entwicklungen können Gemeinden oder auch ganze Glaubensgemeinschaften lähmen. In wohl allen Religionsgemeinschaften gibt es heute unterschiedliche Vorstellungen von Glaubenswachstum. Die vatikanischen Familiensynoden 2014-15 haben gezeigt, dass der Umgang mit Ehe und Familie in der römisch-katholischen Kirche strittiger ist, als es das Selbstbild der einen Kirche zulässt. Fragen der Sexualethik oder der Ordination von Frauen lassen die anglikanische Weltkirchengemeinschaft seit vielen Jahren erhebliche Auseinandersetzungen erfahren. Im Herbst 2017 kam es auf der Synode der Evangelischen Amtskirche in Württemberg zu großen Spannungen, ob es eine Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren geben darf oder nicht. Ein Ende dieser Polarisierungen ist nicht abzusehen.

Christen driften auseinander. Diese innerchristlichen Konflikte sind eingebettet in umfassendere Auseinandersetzungen in der heutigen Gesellschaft. Nach dem Ende des Kalten Krieges (1989 / 91) riefen manche ein postideologisches Zeitalter aus. Das Wiederaufflammen ethnischer und militärischer Konflikte auf dem Balkan erschien wie ein letztes Aufbäumen alter Dämonen, die Europa viel zu lange im Griff hatten. Viele träumten nun von einer Konsensgesellschaft, einer neuen Mitte, in der die alten ideologischen Grabenkämpfe des 20. Jahrhunderts überwunden werden sollten. Nicht mehr links oder rechts wollten viele sein, sondern vorne, pragmatisch und zukunftsorientiert. Politiker wie Tony Blair, Gerhard Schröder und Bill Clinton verkörperten um das Jahr 2000 diesen Anspruch der Integration in der politischen Mitte.

Auch im Christentum lassen sich Parallelen zu diesem Trend finden. Die konfessionellen Streitigkeiten der Vergangenheit wurden mehr und abgelöst durch einen Geist des Dialogs. Die weitgehende Einigung in Fragen der Rechtfertigungslehre im Jahr 1999 macht dies deutlich. In der evangelikalen Welt gelang in Deutschland eine Versöhnung von pfingstlich-charismatischen Christen mit Pietisten und Freikirchlern, etwas, das wenige Jahrzehnte früher undenkbar gewesen wäre. Die Evangelische Allianz verstand sich als eine Einigungsbewegung. Inzwischen hat sich der Wind gedreht. In vielen Bereichen der Gesellschaft ist heute die Sehnsucht nach Profilbildung erheblich größer als die nach Konsensfindung. Nicht die Integration aller Flügel, sondern die Polarisierung der Lager bestimmt in vielen Bereichen dieser Welt die politische Öffentlichkeit. Auf entsprechende Beispiele in der christlichen Welt wurde am Anfang verwiesen.

Der Titel dieses Buches, Weiterglauben, markiert diese Spannung: Die einen sehnen sich nach mehr Weite im Glauben; andere empfinden solche Weite als Auflösung, sie wollen am Glauben weiter festhalten. „Weiter“ lässt sich temporal und lokal verstehen: lokal im Sinne von mehr Weite, Flucht aus der Enge, aber eben auch temporal, weiter im Sinne von weiterhin glauben, den Glauben nicht verlieren wollen. Dieses Buch handelt von der Frage, ob und wie beides gelingen kann.

2. Die Freischwimmer-Debatte

Der durch das evangelistische Projekt Jesus House in weiten Kreisen als Evangelist bekannt gewordene Torsten Hebel hat mit seinem Buch Freischwimmer keine typische, im pietistisch-evangelikalen Milieu beliebte Beschreibung seines eigenen Lebensweges vorgestellt.5 Klar und unverblümt berichtet Hebel, wie er an vielen Gewissheiten seines bisherigen Lebens zu zweifeln begann und im Begriff war, sich vom christlichen Glauben insgesamt zu verabschieden. Erst im Laufe dieses Buchprojekts gelingt es ihm, im Gespräch mit christlichen Freunden und Wegbegleitern, einen neuen, für ihn stimmigen Zugang zum Christentum zu finden. Nun dürfte es niemanden verwundern, dass Hebel mit einem solchen Buch Irritationen in Kreisen auslöste, von denen er sich zunehmend entfernt hatte. Als Evangelist hatte Torsten Hebel einen starken Einfluss auf viele junge Menschen, von denen etliche seine Verkündigung als entscheidenden Anstoß zum christlichen Glauben ansahen. Was bedeutet das für den eigenen Glauben, wenn derjenige, dessen Vorbild und Verkündigung man Entscheidendes verdankt, sich von wichtigen bisherigen Überzeugungen distanziert?

Jürgen Schuster, Professor für Interkulturelle Theologie an der Internationalen Hochschule Bad Liebenzell, hat Hebels Beschreibung seiner eigenen Entwicklung aus theologischer Perspektive gewürdigt.6 Schuster sieht in Hebels Weg zunächst eine nachvollziehbare, auch unter jungen Christen häufige Entwicklung. Hebel hat auf seinem Glaubensweg bemerkt, dass die Art zu glauben, die er in seiner Jugend kennengelernt und in seinem Studium vertieft hat, für ihn so nicht mehr passt. Das ist keine ungewöhnliche Erfahrung. Das geht vielen Gläubigen in einem bestimmten Alter so.7 Für viele Menschen ist eine solche Entdeckung der Anlass, sich von ihrem Glauben zu distanzieren. Sie setzen ihre frühere Glaubensweise mehr oder weniger gleich mit dem christlichen Glauben als solchem – und verabschieden diesen. In ihrer Studie „Warum ich nicht mehr glaube“ haben Tobias Faix, Martin Hoffmann und Tobias Künkler eine ganze Reihe solcher Erfahrungen dokumentiert. Im Grunde weiß es jeder: Seit Jahrzehnten befindet sich in den Kinder- und Jugendkreisen christlicher Gemeinden und Werke ein Vielfaches der Menschen, die später im Erwachsenenalter ihren Glauben bewusst leben und sich zu einer Gemeinde halten. Es wird sehr viel investiert in Formate, die Menschen zum Glauben einladen. Trotzdem gibt es auch unter den missionarischen Zweigen des Christentums, den Freikirchen, Gemeinschaften etc. seit vielen Jahren kein nennenswertes Wachstum, sondern weitgehend eine Umverteilung der Gläubigen von weniger attraktiven zu attraktiveren Bewegungen und Gemeinden. Weil zu wenig in Evangelisation oder Jugendarbeit investiert wird? Nein, sondern nicht zuletzt deswegen, weil sehr viele Menschen, die in bestimmten Lebensphasen gewonnen werden, mit der Zeit wieder aussteigen. Das Thema Weiterglauben sollte gerade missionarische Christen interessieren.

Insofern ist für Schuster die Lebensgeschichte von Torsten Hebel bemerkenswert und ermutigend. Denn Hebel gelingt es im Gespräch mit FreundInnen und Vorbildern, nicht einfach den christlichen Glauben insgesamt hinter sich zu lassen, sondern eine bestimmte Gestalt desselben. Er findet einen anderen neuen Zugang zu Jesus Christus und entwickelt allmählich einen Umgang mit dem christlichen Glauben, der für ihn stimmig ist. Diese Entwicklung deutet Schuster mit Hilfe des Konzepts unterschiedlicher Basismentalitäten, wie es in der soziologischen Lebensweltforschung entwickelt wurde und wie es Heinzpeter Hempelmann für die Theologie fruchtbar gemacht hat. In seiner früheren Lebensphase war Hebel durch ein Denken geprägt, das die Soziologen traditionsorientiert bzw. prämodern nennen:

„Dort hat er den christlichen Glauben stark dogmenorientiert erlebt und verinnerlicht. Er war überzeugt von einer hermeneutischen Eindeutigkeit biblischer Texte und christlicher Lehre. […] Es zeigte sich je länger je mehr, dass sein Glaube, der im Kontext eines traditionsorientierten Mindsets geprägt war, nicht mehr zu anderen Aspekten seines Lebens und Denkens passte. Mit anderen Worten, die Diskrepanz zwischen der Denkweise und Formatierung seines christlichen Glaubens einerseits und den Denkmustern und Begründungszusammenhängen der übrigen Bereiche seines Lebens, wurde zunehmend zum Problem.“8

Einen neuen Zugang zum Christentum findet Hebel dadurch, dass er Glaubensweisen kennenlernt, die stärker beziehungsorientiert, erfahrungsoffen und dialogisch eingestellt sind, sprich: die dem postmodernen Mindset stärker gerecht werden, das für sein sonstiges Leben prägend geworden ist. Grundsätzlich ist das für Jürgen Schuster eine lehrreiche und im Ansatz vorbildliche Entwicklung: „Ich gehe weiterhin davon aus, dass vielen Christen aus traditionsorientierten Gemeinden ähnliche Auseinandersetzungen bevorstehen bzw. bevorstehen können.“9

Und zugleich wirft ein solcher Weg Fragen auf. Denn eine solche postmoderne Glaubensweise verhält sich zur prämodernen Frömmigkeit nicht einfach wie Reife zu Unreife. Zu Recht weisen manche Christen darauf hin, dass konservative Glaubensvorstellungen nicht einfach als Zeichen kultureller Rückständigkeit gewertet werden können. Gar nicht so wenige verbinden einen z. B. modernen Musikgeschmack und gehobene Bildung mit traditionellen Familienwerten und konservativer theologischer Lehre.

So unbestreitbar das ist: Für andere Christen entstehen an solchen Ungleichzeitigkeiten Spannungen. Es wird nicht nur Unterschiedliches geglaubt, sondern vor allem auch auf unterschiedliche Art und Weise. Und was Torsten Hebel erfahren hat, ist eine Art Wechsel des Glaubensstils. Mindestens im Ansatz sollte man versuchen, unterschiedliche Glaubensstile zunächst einmal genau wahrzunehmen und zu beschreiben. Vielleicht hat ja jede Glaubensweise ihre Vorzüge und Chancen, zugleich aber auch ihre Risiken. Jürgen Schuster geht in seiner Analyse von der Einsicht aus, dass es den christlichen Glauben nie in Reinform gibt, sondern immer in einem ganz bestimmten kulturell geprägten Stil. Die entscheidende Herausforderung ist stets eine doppelte, nämlich, eine Glaubensform zu finden, die einerseits wirklich in eine bestimmte Kulturform eingeht und die andererseits dem biblischen Evangelium gerecht wird.

Eine solche Deutung des Weges von Torsten Hebel, und überhaupt der ganze Ansatz der Basismentalitäten, hat auch Kritik auf sich gezogen.10 Für manche ist eine solche Deutung selbst schon ein Zeichen postmoderner Auflösung des klassischen Wahrheitsverständnisses. Führt die Unterscheidung solcher grundverschiedener Denkweisen nicht dazu, dass die Auseinandersetzung um die Wahrheit unmöglich wird?

Torsten Hebels Buch Freischwimmer hätte in der evangelikalen Welt den Anstoß zu wichtigen Fragen geben können. Wie gehen wir damit um, dass so viele Menschen den intensiven Glauben ihrer Jugend irgendwann als Verirrung hinter sich lassen? Wie reagieren wir auf die Beobachtung, dass viele sagen: Für echte Zweifel, kritische Fragen, gar für Neuorientierungen in manchen Fragen ist in vielen christlichen Kreisen kein Raum? Viele Fragen sind schlicht tabu. Jeder weiß: Wenn ich dieses Thema aufwerfe, geht es nicht um dieses Thema, sondern darum, ob ich noch dazugehöre, ob ich noch Mitarbeiter sein kann etc. Was können wir lernen von denen, die nach einer Phase des Zweifels oder des Bruchs mit ihrer bisherigen Frömmigkeit neu glauben gelernt haben? Welche Atmosphäre ist wichtig, dass sich Menschen ohne Angst auf solche Wege machen können?

Zu einer intensiven Beschäftigung mit solchen Fragen kam es nach meiner Beobachtung kaum. Wo es eine Freischwimmer-Debatte gab, standen vielmehr andere Fragen im Raum: Wie kann ein evangelikaler Verlag es wagen, ein solches Buch zu veröffentlichen? Wie konnte es überhaupt geschehen, dass man einem solchen Mann eine so große Bühne in vielen bibeltreuen Werken gegeben hat? Wie kann man solche Christen, wie sie in diesem Buch zu Wort kommen, jetzt noch in missionarische Werke einladen? Wie können Theologen aus dem Bereich pietistischer bzw. evangelikaler Ausbildungsstätten auf die Idee kommen, eine solche Entwicklung eines ehemaligen Evangelisten gutzuheißen und sie als hilf- und lehrreich zu verteidigen?

€11,99