Die straf- und bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit der Diensteanbieter sozialer Netzwerke im Internet

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III. Das Elektronischer Geschäftsverkehr-Gesetz (EGG)

Zur Umsetzung der ECRL fand im Jahr 2001 mit dem Gesetz über rechtliche Rahmenbedingungen für den elektronischen Geschäftsverkehr (Elektronischer Geschäftsverkehr-Gesetz – EGG) unter anderem eine Anpassung des TDG 1997 (nachfolgend: TDG a.F.) statt.353 Die Regelungen zur Verantwortlichkeit wurden in den §§ 8ff. TDG a.F. entsprechend der ECRL ausdifferenziert. Die Haftungsprivilegierung der Hostprovider war in § 11 TDG a.F. geregelt und entsprach der aktuell geltenden Privilegierung des § 10 TMG. Eine entsprechende Anpassung des MDStV fand mit dem Sechsten Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom 20./21.12.2001 statt. Die den §§ 8ff. TDG a.F. entsprechenden Verantwortlichkeitsregelungen fanden sich in der Folge in §§ 6ff. MDStV.

Die Differenzierung zwischen „Telediensten“ (TDG) und „Mediendiensten“ (MDStV) genügte jedoch der Konvergenz der Medien nicht (mehr) und führte zu teilweise schwierigen Abgrenzungsfragen. Überlegungen zu einem neuen Telemediengesetz wurden jedoch aufgrund der Neuwahl des Bundestags im September 2005 zunächst nicht umgesetzt.354

IV. Das Elektronischer-Geschäftsverkehr-Vereinheitlichungsgesetz (ElGVG)

Nach einer Verständigung zwischen dem Bund und den Bundesländern wurden schließlich im Jahr 2007 mit dem Gesetz zur Vereinheitlichung von Vorschriften über bestimmte elektronische Informations- und Kommunikationsdienste (Elektronischer-Geschäftsverkehr-Vereinheitlichungsgesetz – ElGVG) das TDG und der MDStV durch das Telemediengesetz (TMG) ersetzt.355 Das TMG bezieht sich nun auf „Telemedien“, die eine Mischung aus Telediensten i.S.d. TDG und Mediendiensten i.S.d. MDStV darstellen.356 Die Verantwortlichkeitsregelungen finden sich in §§ 7ff. TMG und die Privilegierung für Hostprovider in § 10 TMG. Da das TMG auf den Regelungen der ECRL beruht und diese in deutsches Recht umsetzt, ist es unter Berücksichtigung der Richtlinie und ihrer Erwägungsgründe auszulegen.357

V. Zweites und drittes Gesetz zur Änderung des Telemediengesetzes

Mit dem Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes der Bundesregierung vom 18.11.2015 sollte neben einer Anpassung der Verantwortlichkeitsregelungen an die Bedürfnisse von WLAN358-Betreibern auch eine Anpassung des § 10 TMG erfolgen, da „mit Hilfe des Internets leichter und in größerem Ausmaß Rechte des geistigen Eigentums verletzt werden können“.359 Geplant war die Einführung von Voraussetzungen, unter denen Hostprovidern eine Berufung auf das Haftungsprivileg verwehrt bleibt, wenn „deren Geschäftsmodell im Wesentlichen auf“ solchen Rechtsverletzungen aufbaut.360

Der Entwurf sah hierfür vor, dass der bisherige Wortlaut des § 10 TMG zu § 10 Abs. 1 TMG-E und ein neuer Abs. 2 angefügt wird:361

„(2) Die Kenntnis von Tatsachen oder Umständen nach Absatz 1, aus denen die rechtswidrige Handlung oder die Information offensichtlich wird, wird vermutet, wenn es sich bei dem angebotenen Dienst um einen besonders gefahrgeneigten Dienst handelt. Ein besonders gefahrgeneigter Dienst liegt in der Regel dann vor, wenn

 1. die Speicherung oder Verwendung der weit überwiegenden Zahl der gespeicherten Informationen rechtswidrig erfolgt,

 2. der Diensteanbieter durch eigene Maßnahmen vorsätzlich die Gefahr einer rechtsverletzenden Nutzung fördert,

 3. in vom Diensteanbieter veranlassten Werbeauftritten mit der Nichtverfolgbarkeit bei Rechtsverstößen geworben wird oder

 4. keine Möglichkeit besteht, rechtswidrige Inhalte durch den Berechtigten entfernen zu lassen.“

Nach Stellungnahme des Bundesrates, wonach „die Vermutungsregelung in § 10 Abs. 2 des Regierungsentwurfs“ aufgrund „zu erwartenden negativen Auswirkungen auf Medienvielfalt und Meinungsfreiheit abzulehnen“ ist, hat die Bundesregierung in ihrer Gegenäußerung zugesagt, das Anliegen eingehend zu prüfen.362 Im weiteren Gesetzgebungsverfahren wurde die Änderung des § 10 TMG aus der Beschlussvorlage des Regierungsentwurfs entfernt und die Norm in der Folge nicht mehr geändert.363

Eine Ergänzung der Haftungsregelungen erfolgte jedoch in § 8 TMG. Der neu angefügte Abs. 3 regelt, dass § 8 Abs. 1 und 2 TMG auch für Diensteanbieter nach § 8 Abs. 1 TMG gelten, die ihren Nutzern einen Internetzugang über ein drahtloses lokales Netzwerk zur Verfügung stellen. Ziel dieser Änderung und der mit dem dritten Gesetz zur Änderung des Telemediengesetzes vorgenommenen weiteren Änderungen der §§ 7 und 8 TMG ist die Schaffung von mehr Rechtssicherheit für die Betreiber von öffentlichen WLAN-Hotspots.364

342 BT-Drucks. 13/7385, S. 1. 343 Vgl. die gemeinsame Erklärung von Bund und Ländern vom 18.12.2006, abgedruckt bei Engel-Flechsig, ZUM 1997, 231. 344 Der Bund war der Ansicht, dass das Internet dem Telekommunikationsbereich zuzuordnen sei und ihm daher die Kompetenz zur Gesetzgebung zustehe. Dies bestritten die Länder, die der Auffassung waren, dass es sich um Rundfunk oder rundfunkähnliche Dienste handele, welche in ihre Gesetzgebungskompetenz fallen (siehe Hoeren, NJW 2007, 801; Spindler, CR 2005, 741, 745). 345 Hoeren, NJW 2007, 801, 802. 346 Zur damals erforderlichen Abgrenzung von Telediensten und Mediendiensten siehe auch Engels, K&R 2001, 338, 340. 347 BT-Drucks. 14/6098, S. 1. 348 Heckmann, in: Heckmann, jurisPK-Internetrecht, Kap. 1 Rn. 16. 349 Tettenborn, K&R 1999, 252, 258; Spindler, CR 2005, 741, 745. 350 Sieber/Liesching, MMR-Beilage 8/2007, S. 3f. 351 Tettenborn, K&R 1999, 252, 253. 352 Jandt, in: Roßnagel, Recht der Telemediendienste, TMG § 7 Rn. 16; Nickels, CR 2002, 302, 305; Frey/Rudolph/Oster, CR Beilage zu Heft 11/2015, S. 2; Spindler, ZUM 2017, 473, 478; Spindler, in: Spindler/Schmitz, Telemediengesetz, TMG Vor § 7 Rn. 13. 353 BGBl. 2001 I, S. 3721; BT-Drucks. 14/6098, S. 1. 354 Spindler, CR 2005, 741, 745. 355 BGBl. 2007 I, S. 179; BT-Drucks. 16/3078, S. 1ff. 356 Hoeren, NJW 2007, 801. 357 Siehe auch Kapitel 3 B. II. 358 WLAN steht für Wireless Local Area Network. 359 BT-Drucks. 18/6745, S. 1. 360 BT-Drucks. 18/6745, S. 1. 361 BT-Drucks. 18/6745, S. 6. 362 BT-Drucks. 18/6745, S. 15 und 17. 363 BT-Drucks. 18/8645, S. 11. 364 BT-Drucks. 18/12202, S. 9.

C. Anwendbarkeit des TMG auf die Diensteanbieter sozialer Netzwerke

Zur Beantwortung der Frage, ob Diensteanbieter sozialer Netzwerke nach einer oder mehrerer der vorgenannten Regelungen in ihrer Haftung privilegiert sein könnten, müssten diese und damit das TMG zunächst überhaupt Anwendung auf sie finden. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 TMG gilt das TMG für Telemedien. Wie bereits dargestellt, sind soziale Netzwerke im Internet als Telemedien im Sinne der Legaldefinition des TMG zu qualifizieren.365 Das TMG ist daher auf die Diensteanbieter sozialer Netzwerke anwendbar.

365 Siehe hierzu Kapitel 1 A. I. 2. b.

D. Der Begriff der „Verantwortlichkeit“

Das Haftungsregime der §§ 7 bis 10 TMG regelt die „Verantwortlichkeit“ der Diensteanbieter (vgl. die Überschrift des dritten Abschnitts des TMG und den Wortlaut der Regelungen), indem es verschiedene Haftungsprivilegierungen vorsieht. Trotz dessen findet sich im TMG keine Legaldefinition des Begriffs.

Nach allgemeinem juristischem Sprachgebrauch bedeutet der Begriff Verantwortlichkeit ein Einstehenmüssen für etwas,366 insb. „für die Rechtsfolgen, die das Recht an bestimmte Sachverhalte knüpft“,367 wobei es sich um einen rechtsgebietsübergreifenden Begriff handelt.368 Die Gesetzesbegründung definiert dementsprechend die Verantwortlichkeit als „das Einstehenmüssen für eigenes Verschulden“.369 Demgegenüber wird auch eine weitergehende Auslegung vertreten, welche die Verantwortlichkeit auf ein „Einstehenmüssen für jedes Verhalten, das einen Haftungsanspruch auslöst“, also auch auf eine verschuldensunabhängige Haftung, erweitert.370 Die Verantwortlichkeit ist demnach ein Einstehenmüssen für jegliche Rechtsverletzungen.371 Für das Strafrecht ist diese Erweiterung jedoch unerheblich, da eine Bestrafung stets Schuld voraussetzt.

 

366 Bleisteiner, Rechtliche Verantwortlichkeit im Internet, S. 158. 367 Ritz, Inhalteverantwortlichkeit von Online-Diensten, S. 69, zu § 5 TDG 1997. 368 Altenhain, in: MüKo StGB, TMG Vor § 7 Rn. 3; Heß, Die Verantwortlichkeit von Diensteanbietern, S. 33. 369 BT-Drucks. 13/7385, S. 19. 370 Jandt, in: Roßnagel, Recht der Telemediendienste, TMG § 7 Rn. 24; Spindler, in: Spindler/Schmitz, Telemediengesetz, TMG Vor § 7 Rn. 20; vgl. auch Hoffmann/Volkmann, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, TMG Vor § 7 TMG Rn. 24. 371 Vgl. Rath, AfP 2005, 324.

E. Anwendbarkeit der Haftungsprivilegierungen im Strafrecht

Im Hinblick auf Erwägungsgrund 8 der ECRL stellt sich die Frage, ob die verantwortlichkeitsregelnden Haftungsprivilegierungen der §§ 8ff. TMG auch im Strafrecht Anwendung finden, da mit der ECRL der Bereich des Strafrechts als solcher nicht harmonisiert werden soll.

Trotz dessen ist die Anwendbarkeit der Haftungsprivilegierungen im Strafrecht mit der allgemeinen Meinung zu bejahen.372 Denn der Gesetzgeber wollte zum einen die Haftung der Diensteanbieter rechtsgebietsübergreifend und gerade auch im Strafrecht einschränken.373 Zum anderen bezwecken die Art. 12ff. ECRL eine umfassende Privilegierung, in deren Rahmen die strafrechtliche Privilegierung zumindest eine erwünschte Nebenfolge darstellt.374 Dem steht Erwägungsgrund 8 der ECRL nicht entgegen.375 Aus dessen Formulierung „als solchen“ folgt allein, dass mit der ECRL keine speziellen Regelungen für das Strafrecht geschaffen werden sollen.376 Es handelt sich daher lediglich um einen klarstellenden Hinweis.377

Zudem folgt aus Erwägungsgrund 26 der ECRL, dass die Mitgliedstaaten ihre nationalen strafrechtlichen Vorschriften und Strafprozessvorschriften nur im Einklang mit den in der ECRL festgelegten Bedingungen anwenden können. Aus der Formulierung „im Einklang“ ist zu folgern, dass die Haftungsregelungen der ECRL zwingend zu berücksichtigen sind und damit nach den europäischen Vorgaben auch im Strafrecht Anwendung finden. Demgegenüber vertritt Busse-Muskala, dass die Umsetzung der Haftungsprivilegierungen der ECRL über die Vorgaben der Richtlinie hinausgehen und – „aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht prinzipiell unbedenklich“ – auch das Strafrecht erfassen, obwohl dies zur Richtlinienumsetzung gar nicht geboten wäre.378

Eine Nichtanwendung der Vorschriften im Strafrecht würde zudem zu eklatanten Widersprüchen und „abstrusen Konsequenzen“ führen, da mit dieser im Bereich des Strafrechts eine faktische Kontrollpflicht bestehen würde, die zivilrechtlich durch § 7 Abs. 2 TMG ausgeschlossen ist.379

Die Geltung der Haftungsprivilegierungen für alle Rechtsgebiete, also auch das Strafrecht, ergibt sich letztlich auch aus dem Begriff der „Verantwortlichkeit“, der – wie bereits gezeigt380 – eine Rechtsgebietsübergreifende Formulierung darstellt und als Oberbegriff der „rechtsgebietsspezifischen Begriffe ‚strafbar‘ oder ‚haftet‘ gewählt wurde“ und damit „jede Art des rechtlichen Einstehenmüssens“ erfasst.381

Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass die Haftungsprivilegierungen der §§ 8ff. TMG „rechtsgebietsübergreifende Querschnittsregelungen“ darstellen, die eine „horizontale Wirkung“ entfalten und in allen Rechtsgebieten gleichermaßen, also auch im Strafrecht gelten.382

372 Statt vieler KG Berlin, MMR 2015, 345, 346, m.w.N. und BGH, ZUM-RD 2012, 82, 84. 373 BT-Drucks. 14/6098, S. 23 bzgl. der Vorgängernorm § 11 TDG; ebenso bereits BT-Drucks. 13/7385, S. 51 in Bezug auf § 5 TDG 1997. 374 Hoffmann/Volkmann, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, TMG Vor § 7 Rn. 15; vgl. auch Detlefsen, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 60; Spindler, MMR-Beilage 7/2000, S. 16; Brisch, CR 1999, 235, 241. 375 Vgl. auch Spindler, MMR-Beilage 7/2000, S. 16, wonach „das Risiko der strafrechtlichen Verfolgung insbesondere von Service Providern [...] stets im Mittelpunkt der Diskussion um deren Verantwortlichkeit“ stand. 376 Altenhain, in: MüKo StGB, TMG Vor § 7 Rn. 2; Hoffmann/Volkmann, in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, TMG Vor § 7 Rn. 15. 377 Paal, in: Gersdorf/Paal, BeckOK Informations- und Medienrecht, TMG § 7 Rn. 9. 378 Busse-Muskala, Strafrechtliche Verantwortlichkeit der Informationsvermittler, S. 162, 165 und 169. 379 Hassemer, NJW 2014, 3801. 380 Siehe Kapitel 3 D. 381 Bettinger/Freytag, CR 1998, 545, 546. 382 Frey/Rudolph/Oster, CR Beilage zu Heft 11/2015, S. 6; vgl. auch Paal, in: Gersdorf/Paal, BeckOK Informations- und Medienrecht, TMG § 7 Vor Rn. 1; Sieber, MMR-Beilage 2/1999, S. 3; Spindler, NJW 2002, 921, 922; Freytag, CR 2000, 600, 604, im Hinblick auf die ECRL.

F. Prüfungsstandort und dogmatische Einordnung der Haftungsprivilegierungen des TMG

Der Prüfungsstandort und die dogmatische Einordnung der Haftungsprivilegierungen der §§ 8ff. TMG sind umstritten.383 Mit der Einstufung als außerhalb und unabhängig von der Haftungsnorm zu prüfender Vor- (siehe I. 1.) bzw. Nachfilter (siehe I. 2.) und einem tatbestandsintegrierten Filter (siehe I. 3.) werden zweistufige Modelle und mit einer Modifizierung des Tatbestands (siehe II. 1.), des Vorsatzerfordernisses (siehe II. 2.) sowie der Qualifizierung als Rechtfertigungsgrund (siehe II. 3.), Schuldausschließungs- oder Entschuldigungsgrund (siehe II. 4.), aber auch persönlichen Strafausschließungsgrund (siehe II. 5.) einstufige Modelle vertreten. Dabei wird hinsichtlich der Relevanz der Einordnung ausgeführt, dass diese vor allem für die strafrechtliche Teilnahme und Irrtümer von Bedeutung sei.384 Aber auch die Anwendbarkeit des strafrechtlichen Analogieverbots des Art. 103 Abs. 2 GG wird für eine Einordnung auf Tatbestandsebene herangezogen.385 Die dogmatische Einordnung gewinnt im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit insbesondere bei der Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale an Relevanz und hat deshalb für die Reichweite der Haftungsprivilegierungen Bedeutung.

I. Die zweistufigen Modelle

Die sog. zweistufigen Modelle, welche die Haftungsprivilegierungen als Vor- bzw. Nachfilter einordnen, stimmen darin überein, dass die §§ 8ff. TMG und die allgemeinen Haftungsvorschriften getrennt voneinander zu prüfen sind.386

1. Eigenständiger Vorfilter

Zunächst findet sich die Auffassung387, dass die Haftungsprivilegierungen des TMG eine Vorfilter-Funktion haben und dementsprechend eigenständig vor dem jeweiligen Haftungstatbestand zu prüfen sind. Es handelt sich danach um eine zweistufige Prüfung, die bei Vorliegen der Privilegierung eine weitere Prüfung des Haftungs- bzw. Straftat- und Bußgeldtatbestandes entbehrlich macht.388 Begründet wird dies unter anderem damit, dass die Haftungsprivilegierungen als lex specialis bei der Feststellung der Strafbarkeit von Diensteanbietern zuerst zu prüfen sind.389

Bei einer solchen Qualifizierung als eigenständiger Vorfilter müssen die §§ 8 bis 10 TMG nicht vom Vorsatz (§ 15 StGB, § 10 OWiG) des Diensteanbieters umfasst sein, da sie aufgrund ihrer Eigenständigkeit nicht zum Tatbestand gehören. Die Haftungsprivilegierungen werden in diesem Fall gerade vor der Haftungsnorm, also außerhalb des Straf- und Bußgeldtatbestands geprüft. Sie lassen diesen gänzlich unberührt und betreffen allein die Vorfrage, ob es zu einer weiteren Prüfung der Verantwortlichkeit des Diensteanbieters nach den allgemeinen Gesetzen und damit auch allgemeinen Grundsätzen kommt. Eine Modifizierung der allgemeinen Gesetze und Grundsätze findet bei einer Qualifizierung der Haftungsprivilegierungen als eigenständige Vorfilter nicht statt. Aber auch wenn die objektiven Merkmale der Haftungsprivilegierungen mangels Zugehörigkeit zum objektiven Tatbestand nicht vom Vorsatz umfasst sein müssen, knüpft das Entfallen der Haftungsprivilegierungen an subjektive Elemente, nämlich die Kenntnis bestimmter Umstände (§§ 9 Satz 1 Nr. 5, 10 Satz 1 TMG) und ein Handeln mit bestimmter Absicht (§ 8 Abs. 1 Satz 3 TMG), an.

Aus dem gleichen Grund wie das Vorsatzerfordernis ausscheidet, scheidet auch eine Anwendung des Tatbestandsirrtums (§ 16 StGB, § 11 Abs. 1 OWiG) aus, da ein Irrtum über das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen der Haftungsprivilegierungen nicht einen Umstand betrifft, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört. Dieser wird bei einer Qualifikation der Haftungsprivilegierungen als eigenständige Vorfilter – wie ausgeführt – gerade nicht berührt oder modifiziert, da die Prüfung der Haftungsprivilegierung vorgelagert und außerhalb der allgemeinen Gesetze und damit unabhängig vom Tatbestand erfolgt. Gleiches gilt für eine Anwendung des Verbotsirrtums (§ 17 Satz 1 StGB, § 11 Abs. 2 OWiG), der das Unrechtsbewusstsein betrifft.390 Dieses setzt zwar keine Kenntnis der Strafbarkeit voraus, umfasst aber neben dem Bewusstsein der Rechtswidrigkeit auch den materiellen Grund der Rechtswidrigkeit.391 Letzterer liegt in der Verwirklichung des Straftatbestandes. Sowohl dieser als auch die Rechtswidrigkeit bleiben bei einer Qualifikation der §§ 8 bis 10 TMG als eigenständige Vorfilter, die vorgelagert und außerhalb des allgemeinen Haftungstatbestands zu prüfen sind, unberührt.

Die Qualifizierung der Haftungsprivilegierungen als eigenständige Vorfilter führt zudem dazu, dass eine Teilnahme an der Tat eines Diensteanbieters möglich ist, auch wenn dieser in seiner Haftung privilegiert ist. Eine Teilnahme setzt nämlich eine vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat als Anknüpfungstat voraus (§§ 26, 27 Abs. 1 StGB). Eine solche Tat des Diensteanbieters wird durch das Vorliegen einer Haftungsprivilegierung nach §§ 8 bis 10 TMG nicht beseitigt, wenn diese eigenständig und damit außerhalb der allgemeinen Gesetze zu prüfen sind. Die Voraussetzungen der Haftungsprivilegierungen lassen dann den objektiven und subjektiven Tatbestand sowie die Rechtswidrigkeit gänzlich unberührt und führen nicht zu deren Entfallen. Demnach kann trotz einer Privilegierung des Diensteanbieters eine durch diesen vorsätzlich begangene rechtswidrige Tat vorliegen, an welcher Dritte teilnehmen können. Diese Akzessorietät wird in diesem Fall auch nicht durch die §§ 28, 29 StGB und § 14 Abs. 3 OWiG durchbrochen. § 28 Abs. 1 StGB führt zu einer Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB und damit zu einer Lockerung der Akzessorietät,392 wenn beim Teilnehmer besondere persönliche Merkmale fehlen, welche die Strafbarkeit des Täters begründen. Ein solches Merkmal liegt vor, „wenn ohne dieses Merkmal kein tatbestandsmäßiges Verhalten vorliegt.“393 Wie dargestellt, lassen die Haftungsprivilegierungen als eigenständige Vorfilter den Tatbestand des Strafgesetzes und damit auch das tatbestandsmäßige Verhalten unberührt. Sie begründen auch nicht die Strafbarkeit des Täters, da sie allein eine privilegierende Wirkung entfalten,394 sodass die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 StGB nicht vorliegen. Ebenfalls keine Anwendung finden § 29 StGB und § 14 Abs. 3 Satz 1 OWiG, da die Haftungsprivilegierungen als eigenständige Vorfilter nicht die Schuld betreffen. Demgegenüber entspricht die Qualifizierung als eigenständige Vorfilter mit der Folge einer möglichen Teilnahme Dritter dem Grundgedanken des § 28 Abs. 2 Var. 3 StGB und § 14 Abs. 3 Satz 2 OWiG. Danach gelten besondere persönliche Merkmale, welche die Strafe oder Ahndung ausschließen nur für den Beteiligten (Täter oder Teilnehmer), bei dem sie vorliegen. Die damit einhergehende Durchbrechung der Akzessorietät liegt der Gedanke zugrunde, dass „der Teilnehmer [...] in jedem Fall bestraft werden [soll], wenn eine teilnahmefähige Haupttat vorliegt und er die in den §§ 26, 27 StGB normierten Voraussetzungen erfüllt.“395 Täterbezogene Merkmale, die zu einem Ausschluss der Strafe führen, dürfen deshalb allein demjenigen Tatbeteiligten zugerechnet werden, für den sie vorliegen.396 Anderenfalls würde ein direkt vorsätzlich handelnder, umfassend helfender und damit gefährlicher Gehilfe nicht bestraft werden, wenn ein besonderes persönliches Merkmal die Strafe für den Täter ausschließt, obwohl im Übrigen eine Straftat verwirklicht wurde.397 Dabei können die eine Strafbarkeit ausschließenden Merkmale „auf jeder Deliktsstufe in Erscheinung treten und weisen deshalb keinen spezifischen Bezug auf ein bestimmtes Systemelement auf.“398 Eine Anwendung des § 28 Abs. 2 StGB und § 14 Abs. 3 OWiG würde vorliegend zu keinem anderen Ergebnis führen, da bereits die Qualifikation der Haftungsprivilegierungen als eigenständige Vorfilter dazu führt, dass deren verantwortlichkeits- und damit strafbarkeitsausschließende Wirkung allein für den Diensteanbieter gilt. Ausweislich des Wortlauts der §§ 8 bis 10 TMG ist allein der Diensteanbieter für die Tat bzw. die ihr zugrundeliegende Information nicht verantwortlich. Die Tat selbst wird bei einer eigenständigen Vorfilterprüfung aber nicht beseitigt. Bei dem Teilnehmer sind die Voraussetzungen der vorsätzlich begangenen rechtswidrigen Tat deshalb inzident zu prüfen, ohne dass es auf das Vorliegen einer Haftungsprivilegierung des Diensteanbieters als Haupttäter ankommt. Vielmehr stellt sich auch für den Teilnehmer zunächst die eigenständig zu prüfende Vorfrage, ob dieser selbst nach den §§ 8 bis 10 TMG privilegiert sein könnte.

 

Die Bejahung einer Haftungsprivilegierung führt zudem nicht automatisch zum Vorliegen eines „Defekts“ als Voraussetzung einer mittelbaren Täterschaft, da der Diensteanbieter trotz der Haftungsprivilegierung weiter volldeliktisch, also vorsätzlich und schuldhaft, handeln kann.399