Die straf- und bußgeldrechtliche Verantwortlichkeit der Diensteanbieter sozialer Netzwerke im Internet

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1. Diensteanbieter

Bei den Diensteanbietern sozialer Netzwerke handelt es sich um Diensteanbieter von Telemedien i.S.d. TMG und damit des Herkunftslandprinzips.277

2. Niederlassung des Diensteanbieters in einem anderen Mitgliedstaat

Der Diensteanbieter muss in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland niedergelassen sein. Mitgliedstaat ist jeder Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) und jeder andere Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, für den die AVMD-RL gilt (§ 2 Satz 1 Nr. 15 TMG). Für Diensteanbieter, die in einem Drittstaat, also einem Staat, der nicht Mitgliedstaat im vorgenannten Sinne ist (§ 2 Satz 1 Nr. 16 TMG), niedergelassen sind, gilt das Herkunftslandprinzip hingegen nicht.278 Relevanz hat dies für Diensteanbieter, die z.B. als in den USA, Russland oder China niedergelassen gelten.

a. Das Sitzland als Ort der Niederlassung

Der Ort der Niederlassung eines Diensteanbieters ergibt sich aus dessen Sitzland (vgl. § 2a Abs. 1 TMG).279 Dieses bestimmt sich danach, wo „sich der Mittelpunkt [der] Tätigkeiten“ des Diensteanbieter „im Hinblick auf ein bestimmtes Telemedienangebot befindet“.280 Der Standort des Servers ist zur Bestimmung dieses Ortes unerheblich (vgl. Art. 2 lit. c ECRL); ebenso rein formale Kriterien, wie z.B. ein Briefkasten.281 Ausschlaggebend ist vielmehr der Ort der tatsächlichen Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit, also der Ort, an dem die „Steuerung der Tätigkeiten des Diensteanbieters angesiedelt ist“.282

Für den Fall, dass mehrere Orte in verschiedenen Staaten in Betracht kommen, ergibt sich aus Erwägungsgrund 19 Satz 5 der ECRL, dass für den Ort der Niederlassung maßgeblich ist, an welchem Ort sich der Mittelpunkt der Tätigkeiten des Anbieters in Bezug auf den Dienst befindet.283 Das ist regelmäßig der Ort, an dem der Diensteanbieter seine Tätigkeit bzw. den Dienst schwerpunktmäßig steuert.284 Ein Indiz hierfür kann sein, dass eine Niederlassung länger besteht als die andere.285

Im Rahmen eines Konzerns ist allein auf die Gesellschaft des Diensteanbieters abzustellen, sodass eine Zurechnung dieser Eigenschaft von einer Tochtergesellschaft, die das Telemedium tatsächlich anbietet oder verbreitet, an die Muttergesellschaft in einem Mitgliedstaat mit einer strengeren Rechtsordnung ausscheidet.286

Sofern ein ausländischer Diensteanbieter, der neben seinem Hauptsitz in einem Drittstaat auch einen Sitz in einem Mitgliedstaat der EU hat, kann sich aus einer Bestimmung des Mittelpunkts der Tätigkeiten in Bezug auf den Dienst ergeben, dass der Dienst als von dem Drittstaat aus angeboten und verbreitet gilt, sodass eine Anwendung des Herkunftslandprinzips ausscheidet.287

b. Das Sitzland von Videosharingplattform-Anbietern

Ausdifferenzierte Sonderregelungen zur Bestimmung des Sitzlandes sehen die Absätze 4 bis 7 des § 2a TMG, die Art. 28a Abs. 2 bis 4 AVMD-RL in deutsches Recht umsetzen, für Videosharingplattform-Anbieter vor.288 Entsprechende Regelungen in Bezug auf das NetzDG sollen mit § 3d Abs. 2 und 3 NetzDG-E geschaffen werden.289

Ist ein Videosharingplattform-Anbieter – nach den gerade dargestellten Voraussetzungen des § 2a Abs. 1 TMG (siehe oben a.) – nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats niedergelassen, so gilt derjenige Mitgliedstaat als Sitzland, in dessen Hoheitsgebiet ein Mutterunternehmen oder ein Tochterunternehmen des Videosharingplattform-Anbieters (§ 2a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 TMG) oder ein anderes Unternehmen einer Gruppe, von welcher der Videosharingplattform-Anbieter ein Teil ist (§ 2a Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 TMG), niedergelassen ist.

Sofern mehrere der vorgenannten Unternehmen in Bezug auf den Videosharingplattform-Anbieter existieren und in verschiedenen Mitgliedstaaten niedergelassen sind, bestimmt § 2a Abs. 5 TMG eine Rangfolge der Unternehmen zur Bestimmung des Orts der Niederlassung des Diensteanbieters. Dieser bestimmt sich primär nach dem Ort der Niederlassung des Mutterunternehmens (§ 2a Abs. 5 Nr. 1 TMG). Ein Mutterunternehmen i.S.d. Regelung ist ein Unternehmen, das ein oder mehrere Tochterunternehmen kontrolliert (§ 2 Satz 1 Nr. 17 TMG). Die Kontrolle kann unmittelbar und mittelbar erfolgen, wie die Legaldefinition des Tochterunternehmens in § 2 Satz 1 Nr. 18 TMG verdeutlicht.

Ist das Mutterunternehmen nicht in einem Mitgliedstaat niedergelassen, ist auf den Mitgliedstaat abzustellen, in dem das Tochterunternehmen niedergelassen ist (§ 2a Abs. 5 Nr. 2 TMG). Tochterunternehmen ist ein Unternehmen, das unmittelbar oder mittelbar von einem Mutterunternehmen kontrolliert wird (§ 2 Satz 1 Nr. 18 TMG). Wenn es mehrere solche Tochterunternehmen gibt und jedes dieser Tochterunternehmen in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist, gilt der Videosharingplattform-Anbieter in dem Mitgliedstaat niedergelassen, in dem eines der Tochterunternehmen zuerst seine Tätigkeit aufgenommen hat, sofern eine dauerhafte und tatsächliche Verbindung mit der Wirtschaft dieses Mitgliedstaats besteht (§ 2a Abs. 6 TMG).

Nicht geregelt ist der Fall, dass in verschiedenen Mitgliedstaaten jeweils ein Tochterunternehmen niedergelassen ist, in einem anderen Mitgliedstaat jedoch mehrere Tochterunternehmen, z.B. zwei oder drei, niedergelassen sind. In diesem Fall bestimmt sich die Niederlassung des Videosharingplattform-Anbieters aber ebenso nach § 2a Abs. 6 TMG, sodass er in einem Mitgliedstaat als niedergelassen gelten kann, in dem er weniger Tochterunternehmen unterhält als in einem anderen Mitgliedstaat.

Gibt es kein Tochterunternehmen oder sind diese allein in Drittstaaten niedergelassen, gilt der Videosharingplattform-Anbieter als in dem Mitgliedstaat niedergelassen, in dem das oder die anderen Unternehmen der Gruppe niedergelassen ist oder sind (§ 2a Abs. 5 Nr. 3 TMG). Eine Gruppe ist die Gesamtheit von Mutterunternehmen, allen seinen Tochterunternehmen und allen anderen mit dem Mutterunternehmen und seinen Tochterunternehmen wirtschaftlich und rechtlich verbundenen Unternehmen (§ 2 Satz 1 Nr. 19 TMG).

Sofern es mehrere Unternehmen gibt, die Teil der Gruppe sind und von denen jedes in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist, so gilt der Videosharingplattform-Anbieter als in dem Mitgliedstaat niedergelassen, in dem eines dieser Unternehmen zuerst seine Tätigkeit aufgenommen hat, sofern eine dauerhafte und tatsächliche Verbindung mit der Wirtschaft dieses Mitgliedstaats besteht (§ 2a Abs. 7 TMG). Auch in Bezug auf die Unternehmen einer Gruppe ist der Fall nicht ausdrücklich geregelt, dass in einem Mitgliedstaat mehrere solche Unternehmen niedergelassen sind, während in anderen Mitgliedstaaten jeweils nur ein Gruppenunternehmen seine Niederlassung hat. Aber auch insoweit ist davon auszugehen, dass sich die Bestimmung der Niederlassung nach den Vorgaben des § 2a Abs. 7 TMG richtet.

3. Telemedien, die in Deutschland angeboten oder verbreitet werden

Erforderlich ist nach § 3 Abs. 2 TMG zudem, dass die Telemedien in Deutschland angeboten und verbreitet werden. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn sie sich an Nutzer im Inland richten, also zur Nutzung in Deutschland bestimmt sind.

Dieses Anbieten oder Verbreiten muss innerhalb des Geltungsbereichs der Richtlinie 2000/31/EG und der Richtlinie 2010/13/EU stattfinden. Es muss sich also um Dienste handeln, die dem Anwendungsbereich der ECRL und AVMDRL unterfallen.

4. Geschäftsmäßige Telemedien

In Bezug auf das Herkunftslandprinzip gilt es aber zu beachten, dass von diesem nur solche Telemedien, also auch soziale Netzwerke,290 erfasst sind, die von dem Diensteanbieter geschäftsmäßig angeboten oder verbreitet werden. Der Begriff der Geschäftsmäßigkeit ist dabei nicht deckungsgleich mit dem Begriff der Gewinnerzielungsabsicht, sondern geht in seiner Reichweite über diesen hinaus. Geschäftsmäßig ist jedes Telemedium, das mit oder ohne Absicht der Gewinnerzielung nachhaltig erbracht oder angeboten wird.291 Im Ergebnis fallen damit allein solche Telemedien aus dem Anwendungsbereich des Herkunftslandprinzips heraus, die „private Gelegenheitsdienste“ darstellen.292

Ein soziales Netzwerk, das als „privater Gelegenheitsdienst“ erbracht wird, ist kaum denkbar. Insbesondere die großen sozialen Netzwerke, auf die das Netz-DG Anwendung findet, sind geschäftsmäßig erbrachte Telemedien. Dies gilt schon deshalb, da die Anwendung des NetzDG verlangt, dass das soziale Netzwerk mit Gewinnerzielungsabsicht erbracht wird (§ 1 Abs. 1 Satz 1 NetzDG).

5. Einschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs

Eine Einschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs liegt mit dem Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht jedenfalls immer dann vor, wenn das Verhalten des Diensteanbieters anders als in Deutschland im Herkunftsland nicht straf- bzw. bußgeldbewehrt ist.293

Eine extensive Auslegung will eine Einschränkung bereits dann annehmen, wenn deutsches Strafrecht oder Ordnungswidrigkeitenrecht auch nur eingreift und zwar selbst dann, wenn das Verhalten im Niederlassungsstaat ebenfalls strafbar bzw. bußgeldbewehrt ist.294

Demgegenüber verneint eine weitere Ansicht eine Einschränkung, wenn das deutsche Strafrecht bzw. Ordnungswidrigkeitenrecht in seinen Rechtsfolgen milder ist als das Recht des Niederlassungsstaats.295

Nach überzeugender Auffassung ist aber eine Einschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs bereits dann zu verneinen, wenn das Verhalten des Diensteanbieters im Herkunftsland straf- bzw. bußgeldbewehrt ist.296 Denn in diesem Fall ist das Verhalten des Diensteanbieters im Herkunftsland unzulässig. Sofern es nun in Deutschland ebenfalls bei Strafe oder Geldbuße unzulässig ist, besteht der gleiche Zustand wie im Herkunftsland. Ob der Straf- bzw. Bußgeldrahmen über denjenigen des Herkunftslands hinausgeht, ist dabei irrelevant. Denn durch die in ihrer Quantität abweichende Rechtsfolge wird das Verhalten nicht „unzulässiger“. Die Straf- bzw. Bußgeldhöhe hat gerade keinen Einfluss auf die generelle Unzulässigkeit des Verhaltens und der damit für den Diensteanbieter einhergehenden Einschränkung. Ist das Verhalten des Diensteanbieters bereits im Herkunftsland unzulässig, kann eine in Deutschland ebenfalls gegebene Unzulässigkeit des Verhaltens schon denklogisch nicht zu einer Einschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs führen.297

 

Wollte man diesem Ergebnis die Gefahr einer Doppelbestrafung des Diensteanbieters entgegenhalten, ist eine solche wegen Art. 54ff. SDÜ und insbesondere Art. 6 EUV i.V.m. Art. 50 GRCh weitgehend ausgeschlossen.298 Zusätzlich sind in diesem Zusammenhang § 51 Abs. 3 StGB und § 153c StPO zu beachten. Hingegen findet Art. 103 Abs. 3 GG keine Anwendung, da dieser nur einer „mehrmalige[n] Verurteilung [...] durch deutsche Gerichte“ entgegensteht.299

III. Die Ausnahme vom Herkunftslandprinzip

Die Anwendung des Herkunftslandprinzips könnte jedoch aufgrund des Vorliegens einer Ausnahme ausgeschlossen sein.

Insofern finden sich in § 3 Abs. 3 und 4 TMG generelle Bereichsausnahmen, welche die Ausnahme des Art. 3 Abs. 3 ECRL i.V.m. dem Anhang zur ECRL umsetzen. Das Strafrecht und Ordnungswidrigkeitenrecht sind von diesen generellen Ausnahmen jedoch nicht erfasst.

Es könnte jedoch die auf Art. 3 Abs. 4 lit. a ECRL zurückgehende Einzelfallausnahme des § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 lit. a, aa TMG einschlägig sein. Danach unterliegen das Angebot und die Erbringung von Telemedien, bei denen es sich nicht um audiovisuelle Mediendienste handelt, durch einen Diensteanbieter, der in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen ist, den Einschränkungen des deutschen Rechts, soweit dieses dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, insb. im Hinblick auf die Verhütung, Ermittlung, Aufklärung, Verfolgung und Vollstreckung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten, einschließlich des Jugendschutzes und der Bekämpfung der Verunglimpfung aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität oder von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen, vor Beeinträchtigungen oder ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren dient. Gemäß § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 TMG müssen die Maßnahmen, die auf der Grundlage des deutschen Rechts in Betracht kommen, in einem angemessenen Verhältnis zu diesen Schutzzielen stehen.

Wie die Formulierung „insbesondere“ in § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 lit. a. TMG deutlich macht, sind die genannten Fälle nicht abschließend, sodass eine Ausnahme auch in anderen Fällen in Betracht kommen kann, wenn dies dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dient.300

1. Einzelfallausnahme

Der Wortlaut der Regelung macht deutlich, dass es sich nur um eine Ausnahme im Einzelfall handelt. Denn die Ausnahme verlangt gerade, dass die Maßnahme im Einzelfall dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor Beeinträchtigungen oder ernsthaften und schwerwiegenden Gefahren dient sowie verhältnismäßig ist.301

Soweit zum Teil vertreten wird, dass „die nach der Richtlinie vorausgesetzte Beeinträchtigung bzw. qualifizierte Gefahr [...] bei der Erfüllung entsprechender Tatbestände nach dem deutschen Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht stets gegeben sein“ wird302 und grundsätzlich davon auszugehen ist, dass „die Reaktion des deutschen Strafrechts auch ‚angemessen‘ ist“,303 ist dem entgegenzuhalten, dass damit gerade das Regel-Ausnahme-Verhältnis des Herkunftslandprinzips unterlaufen würde. Die Nichtaufnahme des Strafrechts und Ordnungswidrigkeitenrechts in den Anhang zur ECRL macht deutlich, dass der europäische Richtliniengeber keine generelle Bereichsausnahme für diese Bereiche wollte. Würde man nun aber stets eine Beeinträchtigung bzw. qualifizierte Gefahr annehmen, wenn ein Tatbestand aus einem dieser Bereiche erfüllt ist, würde damit faktisch eine generelle Bereichsausnahme geschaffen. Denn vom Vorliegen einer Beeinträchtigung bzw. qualifizierten Gefahr hin zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ist es dann kein weiter Weg mehr.304

2. Beeinträchtigung oder qualifizierte Gefahr

Für das Vorliegen der Ausnahme ist zunächst eine Beeinträchtigung oder eine qualifizierte Gefahr erforderlich.

Eine Gefahr ist bei einem Zustand zu bejahen, der bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für das geschützte Rechtsgut führt.305 Die Gefahr muss ernsthaft und schwerwiegend, also qualifiziert, sein. Eine einfache Gefahr genügt nicht.306 Nicht ausreichend ist deshalb das Bestehen der abstrakten Möglichkeit einer Gefahr. Bei abstrakten Gefährdungsdelikten, die nicht den Eintritt einer Gefahr voraussetzen, ist es deshalb erforderlich, dass die Maßnahme im „Einzelfall der Bekämpfung einer konkreten Gefahr dient“.307 Das Gleiche muss für abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte gelten.

Eine Beeinträchtigung liegt immer dann vor, wenn sich die Gefahr realisiert hat und damit eine Störung bzw. ein Schaden für das geschützte Rechtsgut eingetreten ist. Dies ist immer dann zu bejahen, wenn der Tatbestand eines Erfolgsdelikts vollendet ist oder sich die Gefahr eines Gefährdungsdelikts realisiert hat.308 In Bezug auf die Gefahren, die der Verbreitung von Hassbotschaften innewohnen, ist regelmäßig von einer qualifizierten Gefahr auszugehen, wenn die Inhalte tatsächlich abgerufen und wahrgenommen werden.

3. Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 TMG

Die Maßnahme, für die die Ausnahme vom Herkunftslandprinzip gelten soll, muss im Einzelfall verhältnismäßig sein (vgl. § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 TMG).309 Innerhalb der deshalb vorzunehmenden Angemessenheitsprüfung genießen die Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten zum Zwecke des Jugendschutzes und der Bekämpfung der Verunglimpfung aus Gründen der Rasse, des Geschlechts, des Glaubens oder der Nationalität sowie von Verletzungen der Menschenwürde einzelner Personen wegen der ausdrücklichen Nennung in § 3 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 lit. a, aa TMG einen Abwägungsvorsprung.310 Dass diesen Schutzgütern ein besonderer Stellenwert zukommt, ergibt sich auch aus ihrer Nennung in Art. 3 Abs. 4 lit. a Nr. i ECRL und der damit einhergehenden gemeinschaftsrechtlichen Wertung.311 Bestätigt wird dies durch Art. 9 Abs. 1 lit. c Ziff. i und ii AVMD-RL. Danach darf audiovisuelle kommerzielle Kommunikation nicht die Menschenwürde verletzen und ebenfalls nicht eine Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Rasse oder ethnischer Herkunft, Staatsangehörigkeit, Religion oder Glauben, Behinderung, Alter oder sexueller Ausrichtung beinhalten oder fördern.

Auch wenn als schlechthin konstituierendes Grundrecht für eine freiheitlich demokratische Grundordnung im Rahmen der Abwägung die Meinungsfreiheit i.S.d. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 GG und Art. 10 Abs. 1 EMRK in besonderer Weise zu berücksichtigen ist, ist wegen des erwähnten Abwägungsvorsprungs davon auszugehen, dass Maßnahmen zur Bekämpfung von Hassbotschaften in der Regel verhältnismäßig sind.312

4. Konsultations- und Informationspflichten

§ 3 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 1 TMG bestimmt, dass die Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip nach § 3 Abs. 5 Satz 1 TMG nur zulässig sind, wenn die gemäß Art. 3 Abs. 4 lit. b und Abs. 5 ECRL erforderlichen Verfahren, also Konsultations- und Informationspflichten, eingehalten werden. Gemäß § 3 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 TMG bleiben davon jedoch gerichtliche Verfahren einschließlich etwaiger Vorverfahren und die Verfolgung von Straftaten einschließlich der Strafvollstreckung und von Ordnungswidrigkeiten unberührt. Mithin sind die Konsultations- und Informationspflichten dem TMG zufolge in diesen Verfahren nicht einzuhalten.

Grundsätzlich hat der Mitgliedstaat gem. Art. 3 Abs. 4 lit. b ECRL vor Ergreifen der betreffenden Maßnahmen unbeschadet etwaiger Gerichtsverfahren, einschließlich Vorverfahren und Schritten im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung, den Mitgliedstaat, in dem der Diensteanbieter seine Niederlassung hat, und die Europäische Kommission zu konsultieren und informieren. Anders als in der deutschen Umsetzung sind Strafverfahren von dieser Pflicht nicht ausgenommen, denn die Formulierung „unbeschadet“ bedeutet nicht „mit Ausnahme von“, sondern „ohne Rücksicht auf“ und „ohne Schaden, ohne Nachteil für“.313 Noch deutlicher wird die englische Sprachfassung der ECRL, die ausführt, dass die Konsultations- und Informationspflichten „without prejudice to court proceedings [...]“ vorzunehmen sind.

Allerdings sieht Art. 3 Abs. 5 Satz 1 ECRL die Möglichkeit einer Abweichung von den in Art. 3 Abs. 4 lit. b ECRL genannten Pflichten in dringlichen Fällen vor, wobei die Dringlichkeit nachzuweisen ist.314 Die Mitgliedstaaten werden in dringlichen Fällen aber nicht völlig von den Pflichten entbunden. Vielmehr müssen sie die Maßnahmen und die Gründe für die Annahme eines dringlichen Falls so bald wie möglich der Kommission und dem Niederlassungsstaat mitteilen (Art. 3 Abs. 5 Satz 2 ECRL).315

Im Hinblick auf die Dauer des Verfahrens nach Art. 3 Abs. 4 lit. b ECRL wird man bei der Notwendigkeit eines Straf- und Bußgeldverfahrens regelmäßig von einem dringlichen Fall ausgehen können. Spätestens mit Beendigung des Verfahrens ist sodann aber die Mitteilung nach Art. 3 Abs. 5 Satz 2 ECRL vorzunehmen.316 Da § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG eine solche Pflicht nicht enthält, liegt damit ein Verstoß gegen die Vorgaben der ECRL vor, der durch eine richtlinienkonforme Auslegung zu beseitigen ist. Danach gilt der Ausschluss des § 3 Abs. 5 Satz 2 TMG nicht für die Mitteilung an die Kommission und den Niederlassungsstaat nach Beendigung des Strafverfahrens.317