Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen

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Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen
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Tobias Fischer

Veyron Swift und die Allianz der Verlorenen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel: Besuch in der Nacht

2. Kapitel: Auf dem Pfad des Grafen

3. Kapitel: Toms Mission

4. Kapitel: Die Zaltic Asp

5. Kapitel: Im Reich der Seelenkönigin

6. Kapitel: Die Schwarze Horde

7. Kapitel: Die Ankunft der Könige

8. Kapitel: Kommandant Ernie

9. Kapitel: Ganz neue Verwicklungen

10. Kapitel: Die Allianz der Verlorenen

11. Kapitel: Das Luftrennen

12. Kapitel: Neue Hoffnung

13. Kapitel: Aus der Spur

14. Kapitel: Gentrash

15. Kapitel: Weitere Ermittlungen

16. Kapitel: Abschiedstanz

17. Kapitel: Die Falle schnappt zu

18. Kapitel: Das Neujahrsfest

19. Kapitel: Am Boden zerstört

20. Kapitel: Der Aufmarsch

21. Kapitel: Unten, oben und darüber

22. Kapitel: Entscheidungsschlacht

23. Kapitel: Konklusion

Impressum neobooks

1. Kapitel: Besuch in der Nacht

»Es geht um Leben und Tod«

Tom Packard überflog die Nachricht, sooft es ihm möglich war. Die meiste Zeit aber umklammerte er sein Smartphone, denn er musste sich festhalten, um nicht hin und her geworfen zu werden.

Er saß auf dem Rücksitz von Inspektor Gregsons Dienstwagen, die Polizeisirene heulte in seinen Ohren, die Lichter des nächtlichen London wischten an den Fenstern vorbei. Vor ihnen wichen hektisch Fahrzeuge aus: Motorräder, Autos, Busse, Lastwagen. Mehr als einmal wäre es beinahe zum Zusammenprall gekommen. Haarscharf schoss der Polizeiwagen an den anderen Verkehrsteilnehmern vorbei.

Mit Höchstgeschwindigkeit steuerte Gregsons Assistentin, Jane Willkins, den Wagen durch den Verkehr, blitzschnell allen Hindernissen ausweichend. Jane hielt das Lenkrad krampfhaft umklammert, Schweiß stand ihr auf der Stirn. Neben ihr saß Inspektor Gregson, dessen Finger nervös auf der Ablage trommelten. So aufgeregt hatte Tom den hünenhaften Polizisten noch nie gesehen, selbst sein sonst so makellos frisiertes, silbergraues Haar schien seinen inneren Aufruhr zu teilen.

Sie rasten mit mörderischem Tempo über Kreuzungen, schlitterten quer durch die Kreisverkehre. Beinahe trug es sie von der Fahrbahn. Tom krallte sich in die Sitzlehne. Die Reifen quietschten. Jane kurbelte verbissen am Lenkrad, stabilisierte das Fahrzeug schnell wieder. Weiter ging die rasende Fahrt. Rote Ampeln, Vorfahrtsregeln – alles egal. Es ging um Leben und Tod.

Toms Smartphone gab ein neues Bing von sich. Hastig blickte er auf das Display.

»Schneller! Wo bleibt ihr denn?«, stand jetzt dort.

Die Nachrichten stammten von Veyron Swift, Toms Patenonkel und Detektiv für übernatürliche Angelegenheiten. Veyron verfolgte schon seit Längerem einen Serienmörder. Offenbar wurde die Situation allmählich brenzlig.

Tom kannte keinen scharfsinnigeren und intelligenteren Menschen als Veyron. Seine Auffassungsgabe war unglaublich, nicht das kleinste Detail entging ihm. Blitzschnell vermochte er aus scheinbar belanglosen Einzelheiten den tatsächlichen Ablauf eines Geschehens zu rekonstruieren; stets zutreffend und alle Welt um sich herum damit verblüffend.

Doch Veyrons Detektivarbeit beschränkte sich vornehmlich auf übernatürliche Ereignisse: Er spürte Geistern, Kobolden und anderen Unwesen nach. Tom war schon bei einigen solcher Begebenheiten dabei gewesen. Er erinnerte sich an den Fall vom letzten Herbst, als drei Orks im Fahrstuhlschacht eines alten Mietshauses einen Schatzhort einrichteten. Oder diese andere Sache mit dem Bankmanager, der sich ein Vampirelixier spritzen ließ, um nachts länger fit zu bleiben und nach und nach Unsterblichkeit zu erlangen. Das war die Welt des Veyron Swift. Gewöhnlichen, von Menschen begangenen Verbrechen wie etwa Einbrüche, Diebstähle oder Erpressungen schenkte Veyron dagegen gar keine Beachtung – nicht einmal Mord. Deshalb war es umso ungewöhnlicher, als er sich vor rund vier Wochen für diesen Serienmörder zu interessieren begann.

Die rasende Fahrt durch die Straßen Londons gab Tom die Gelegenheit, kurz die Ereignisse der vergangenen Tage zu rekapitulieren.

Vier junge Frauen waren ermordet worden, stets an einem Voll- oder Neumond. Der Killer pflegte seine Opfer zu betäuben, zu erdrosseln und die Leichen anschließend nackt im Greenwich Park zu drapieren. Bei Vollmond mit dem Gesicht nach oben, bei Neumond mit dem Gesicht nach unten. Dazu pinselte er seinen Opfern seltsame Schriftzeichen auf die Körper, in Rot bei Vollmond und in Schwarz bei Neumond. Diese Schriftzeichen hatten Veyrons Interesse überhaupt erst geweckt. Gregsons Team vom CID hatte herausgefunden, dass es sich bei den Opfern um obdachlose Frauen handelte, jede genau dreiunddreißig Jahre alt. Aber mehr Ergebnisse hatte die Ermittlungsarbeit der Polizei nicht erbracht. Es fehlte jede Spur vom Täter, jeder Hinweis führte in eine Sackgasse. Schließlich sah Veyron keine andere Lösung, als den Mann selbst zu jagen – in der »Wildnis«, wie er die Straßen Londons nannte. Das war vor vier Tagen. Seitdem fehlte von Toms Paten jedes Lebenszeichen. Dann, heute Morgen kurz nach drei Uhr, diese WhatsApp-Nachricht: »Hab ihn! Henry Fowler, 277 Jamaica Street, East End!«

Es war die Nacht vor Vollmond! Tom hatte keine Minute gezögert. Im Nu war er aus dem Bett gesprungen, hatte die Nummer von Inspektor Gregson gewählt und Alarm geschlagen. Keine zehn Minuten später hatte es auch schon an der Haustür Sturm geläutet, und jetzt saß er hier, hinter Gregson und Jane Willkins, und zuckte jedes Mal zusammen, wenn sie nur um Haaresbreite einem Unfall entgingen.

Ein weiteres Bing ließ Tom wieder auf sein Smartphone blicken. »Habe ich schon erwähnt, dass es um Leben und Tod geht? GEBT GAS!«

»Ach du Scheiße, es wird richtig ernst«, japste Tom.

Gregson drängte Jane zu noch mehr Eile. »Dieser Drecksack bringt mir kein fünftes Mädchen um! Diesmal nicht«, schimpfte der Inspektor und hieb wütend gegen die Ablage.

»Das ist nicht hilfreich«, gab Jane gepresst zurück. Dennoch drückte sie das Gaspedal ein weiteres Mal bis zum Anschlag durch.

Tom hielt für einen Moment die Luft an, sein Herz ratterte wie ein Maschinengewehr. Nie zuvor war er mit hundert Meilen pro Stunde durch Londons Straßen gejagt.

Vor 277 Jamaica Street fand die Raserei ein Ende. Gregson und Jane sprangen aus dem Wagen, sobald er zum Stillstand kam, Tom folgte ihnen hastig. Vor ihnen ragte ein altmodischer Mietsblock auf, fünf Stockwerke hoch, die schmutzige Klinkerfassade von Fensterreihen unterbrochen. Hinter Gregsons silbernem Dienstwagen kamen weitere Polizeiautos zum Stehen. Uniformierte stiegen aus, gefolgt von den Detective Sergeants Linda Brown und Bob Palmer.

Gregson hielt bereits seine Dienstwaffe in der Hand und rannte in Richtung Hauseingang, gefolgt von zwei Constables. Jane zog nun ebenfalls ihre Pistole und nahm denselben Weg wie ihr Vorgesetzter. Tom wartete nicht lange, sondern heftete sich an ihre Fersen. Von der anderen Seite der Hofeinfahrt kamen Sergeant Palmer und zwei weitere Polizisten herangeeilt.

»Tom! Was soll das? Das ist nichts für dich! Bleib beim Wagen«, rief Jane, die Augen vor Schreck geweitet, als sie Tom schließlich bemerkte. Auf ihrem hübschen, blassen Gesicht zeichnete sich deutlich Furcht ab.

»Mich erschreckt so leicht nichts mehr, und Veyron braucht vielleicht meine Hilfe«, entgegnete Tom. Jane wusste genau, dass er schon einige haarsträubende Abenteuer an der Seite seines Paten bestritten hatte. Nicht nur einmal hatte er dabei um sein Leben kämpfen müssen – gegen Wesen, die weitaus schlimmer waren, als es je ein menschlicher Krimineller sein könnte. Außerdem war Tom mit seinen siebzehn Jahren kein kleines Kind mehr.

 

Jane schüttelte den Kopf, sagte aber nichts und schloss zu den anderen Polizisten auf. Tom bewunderte sie dafür, wie gefasst und konzentriert sie blieb. Dabei hatte sie auch schon so einiges mitgemacht. Erst letztes Jahr hätte sie wegen eines Dämons beinahe ihr Leben verloren. Tom sah in ihr seine engste Vertraute; eine Freundin, auf die er sich verlassen konnte.

Gregson und Sergeant Palmer standen inzwischen vor dem Haupteingang des Wohnblocks und untersuchten die Klingelanlage.

»Nirgendwo ein Fowler, verflucht«, schimpfte Gregson. Die große Faust des Hünen zitterte vor Aufregung. Jeder wusste, dass der geringste Fehler ein Menschenleben kosten könnte.

»Vielleicht ist er nicht angeschrieben?«, meinte einer der Constables.

»Alle Klingeln sind belegt. Ein Fehlalarm?«, versuchte es Sergeant Palmer.

Tom schüttelte den Kopf, als er das hörte. Veyron Swift hatte sich noch nie geirrt. Sie waren richtig, daran bestand nicht der geringste Zweifel …

Bing.

Tom starrte auf sein Smartphone. »Eins, zwei, drei, vier und FÜNF, wenn ihr euch nicht beeilt!«

»Okay, es wird ernst«, rief er voller Aufregung.

Gregson knurrte. Die beiden Uniformierten wuchteten das Gewicht ihrer Körper gegen die Eingangstür, bis sie mit einem metallischen Knall aufsprang. Die Männer drängten in den Flur, gefolgt von Jane und Tom.

»Wollen wir nicht auf die Scharfschützen warten?«, fragte Palmer verunsichert.

»Zum Teufel mit den Scharfschützen! Da drinnen wird gerade eine junge Frau ermordet«, donnerte Gregson. Furchtlos stürmte er seinen Leuten voran, das Treppenhaus hinauf. Ohne Ahnung wohin, klingelten sie an jeder Tür, an der sie vorbeikamen. Fast überall wurde ihnen nach kurzer Zeit geöffnet. Schlaftrunkene Frauen und Männer verfluchten die unzeitigen Besucher. Es war ja auch erst kurz nach halb fünf morgens.

»Fowler! Wo ist Henry Fowler?«, herrschte Gregson die Leute an.

Angesichts seiner riesigen Gestalt und der grimmigen Miene wagte niemand, zu widersprechen oder zu schweigen. Es stellte sich jedoch heraus, dass niemand einen Henry Fowler kannte. Die meisten wussten nicht einmal, wer ihre direkten Nachbarn waren. Lediglich eine ältere Lady am Ende des Flurs konnte Auskunft geben.

»Fünfter Stock, Mister. Da ist nur eine einzige Wohnung belegt, und die gehört ihm. Die vierte Tür auf der rechten Seite. Dieser Kerl war mir schon immer suspekt«, meinte sie und zeigte mit ihrer dürren Hand nach oben.

Gregson und die anderen wirbelten herum und kämpften sich das Treppenhaus nach oben.

Tom folgte ihnen als Letzter. Er erinnerte sich wieder an die ganzen Abenteuer, die er zusammen mit Veyron Swift in Elderwelt bestritten hatte, jener fantastischen Parallelwelt, wo es vor fremden Wesen und Gefahren nur so wimmelte. Trolle, Schrate, Vampire und andere Unwesen hatten ihnen dort schon einige Male das Leben schwer gemacht. Unweigerlich musste er lächeln, als er die Polizisten mit einer Mischung aus Aufregung und Vorsicht nach oben eilen sah, mit ihren Waffen auf jeden Schatten zielend. So viel Panik wegen eines einzelnen Mannes. Was würden sie nur tun, wenn sie einer ganzen Meute blutdürstiger Schrate gegenüberstünden, schwer bewaffnet und auf Mord aus?

Schließlich erreichten sie den fünften Stock, doch obwohl die Männer den Flur auf und ab rannten, von Henry Fowler fehlte jede Spur. Und nicht nur das: Es gab hier oben nicht einmal eine Tür. Sie hatten nichts als nackte Wände vor sich, gestrichen in einem scheußlichen Moosgrün.

»Das gibt’s doch nicht«, rief Sergeant Palmer frustriert. »Die Alte hat uns verarscht!«

Gregson schüttelte die Fäuste, während sich Jane auf die Lippe biss.

Tom fuhr sich nachdenklich durch sein rotblondes Haar. Er schloss die Augen. Denk wie Veyron Swift, sagte er sich. Zweifellos sind wir an der richtigen Adresse. Fowler muss einen falschen Namen an der Klingel haben, denn das Haus hat fünf Stockwerke, und alle Klingeln sind belegt. Das Haus hat auch fünf Fensterreihen. Nur eine einzige Wohnung hier oben sei bewohnt, die Vierte auf der rechten Seite, hat die Alte gesagt. Aber es gibt keine Türen. Es gibt Fenster, aber keine Türen.

»Er hat die Türen zugemauert«, rief er aus, warf sich herum und eilte zurück ins Treppenhaus. Er sprang die Stufen nach unten in den vierten Stock, rannte zur vierten Wohnungstür auf der rechten Seite und läutete Sturm. Wütendes Schimpfen erklang auf der anderen Seite der Tür. Ein verschlafener Mann mittleren Alters öffnete ihm. Smithers, wie Tom von der Klingel ablas.

»Auf geht’s Professor«, rief er in den leeren Flur. »Ich brauche Ihre Hilfe!«

Die Zauber Elderwelts funktionierten auch in der ihren, das wusste Tom. Schon einige Male hatte er diesen einen speziellen Zauber angewandt. Auch jetzt versagte er ihm nicht den Dienst. Aus dem Nichts materialisierte sich ein Schwert in seiner Rechten, die Klinge lang und schmal, fast wie ein Rapier, in dessen blanken Stahl ein verschnörkeltes Muster aus Saphiren eingearbeitet war. Es begann blau zu schimmern. Das Daring-Schwert, die Waffe eines mächtigen Magiers, nach dessen Tod erfüllt von seinem Geist. Es war zu allerhand fantastischen Dingen in der Lage. Mehr als einmal hatte Tom damit schon sein Leben verteidigt.

Mr. Smithers, der Tom eben wütend anfahren wollte, sprang mit einem gellenden Aufschrei zurück. »Hilfe! Ein Irrer«, keuchte er und hob die Hände.

Tom beachtete ihn nicht weiter, sondern stürmte in die Wohnung, vorbei an Küche und Bad, hinein ins Wohnzimmer. Dort riss er das nächstbeste Fenster auf und trat hinaus auf den Sims. Er blickte nach oben, auf die Fensterreihe über ihm, knapp zweieinhalb Meter entfernt. Hinaufspringen kam nicht infrage, und Fassadenklettern zählte nicht zu Toms Hobbys. Aber es gab andere Möglichkeiten.

»Junge, tu das nicht«, hörte er Smithers verängstigt rufen.

Nur nicht nach unten sehen, dachte Tom. Er reckte das Schwert in beinahe heroischer Pose über seinen Kopf. Smithers gab einen Laut des Entsetzens von sich. Was der Mann dachte, konnte sich Tom schon ausmalen. Nun, gleich würde er ein Wunder erleben. Tom umfasste den Griff der Waffe mit beiden Händen, blickte auf den verschnörkelt gestalteten Handschutz und konzentrierte sich kurz. Wieder rief er den magischen Geist des Daring-Schwerts an.

»Bringen Sie mich nach oben, Professor«, flüsterte er.

Das Schwert in seinen Händen ruckte, er umklammerte den Griff fester. Im nächsten Augenblick ruckte die Waffe wie von eigenem Leben erfüllt, und Tom überließ sich ihrer Führung. Während er sich mit seinem ganzen Gewicht an den Griff hängte, pendelte er herum und sah Smithers in seinem Wohnzimmer vor Schreck rückwärts taumeln. Der Mann stieß an die Kante eines Schranks und sackte zu Boden. Hinter dem Mann tauchten die Gestalten von Jane und Inspektor Gregson auf. Das Schwert zog ihn aufwärts. Sollten sich die beiden um den armen Smithers kümmern; Tom war auf der Jagd.

Sofort, als er den schmalen Mauervorsprung unter seinen Sneakers hatte, ging er in die Hocke. Eine falsche Bewegung und er würde abstürzen. Mit der einen Hand krallte er sich in das Mauerwerk, während mit der anderen das Schwer festhielt. Sämtliche Fenster auf dieser Etage, die er sehen konnte, waren mit mitternachtsblauer Farbe angestrichen, absolut blickdicht. Henry Fowler wollte in seinem Versteck nicht gestört oder beobachtet werden. Kein Wunder, strangulierte er dort ja junge Frauen. Jetzt würde ihm jedoch der Garaus gemacht. Tom stach das Schwert durch das Fensterschloss. Wie ein heißes Messer durch Butter fuhr die Klinge durch Holz und Stahl, sprengte das Schloss in Stücke. Tom schob das Fenster auf und sprang in die Wohnung des Mörders.

Es war stockfinster. Der wahnsinnige Fowler hatte nicht nur sämtliche Fenster abgedunkelt, sondern obendrein auch die Wände und Decken schwarz gestrichen. Auf dem Boden war schwarzer Kunststoff verlegt. Tom konnte überhaupt nichts sehen. Allein der bläuliche Schimmer der Saphire seiner Zauberwaffe enthüllte ein paar Details. Sogar Tische und Sessel waren in Schwarz gehalten. Tom schüttelte den Kopf, versuchte, sich zu konzentrieren. Er spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug, und er wagte kaum zu atmen. Es war beinahe totenstill. Von irgendwoher kamen leise, gleichmäßige Atemgeräusche. War es Fowler? Der Wahnsinnige hatte bestimmt bemerkt, wie Tom in seine Wohnung eingedrungen war. Nun lauerte er ihm auf.

Vorsichtig schlich Tom weiter, mit dem Schwert mal hierhin, mal dorthin leuchtend. Vor ihm auf dem Boden konnte er einen großen Umriss ausmachen. Für einen Moment glaubte er, es handle sich um einen aufgerollten Teppich, doch dafür erschien ihm der Gegenstand zu groß. Er hielt die Luft an. Es war ein Körper!

»Mist«, flüsterte er kaum hörbar. Vorsichtig, ganz vorsichtig, näherte er sich. Der Manie Fowlers entsprechend war die Gestalt am Boden in schwarze Gewänder gehüllt und an Armen und Beinen gefesselt. War es sein jüngstes Opfer? Veyron hatte ihn ja ständig per Nachrichten gewarnt. Kam Tom zu spät?

Er näherte sich und untersuchte die bedauernswerte Person. Trotz der Dunkelheit war sie unschwer als stark übergewichtig auszumachen, die Finger plump und … sie hatte einen Bart.

Tom stutzte.

Hinter ihm erklang ein leises Klick. Licht ergoss sich über den Raum. Im gleichen Augenblick machte Toms Herz einen Satz. Er war voll in die Falle getappt!

»Ich habe dich schon erwartet«, meldete sich eine neue Stimme, erfüllt von boshafter Zufriedenheit, die eigene Schläue bewundernd und die Dummheit Tom Packards verhöhnend.

Langsam drehte sich Tom um – und sein Herz machte einen weiteren Satz.

Es war nicht der Sicherheitsbolzen einer Waffe, was da geklickt hatte, sondern der Schalter einer kleinen Nachttischlampe. Von deren Schein spärlich beleuchtet blickte Veyron Swift seinem Patensohn sichtlich entspannt ins Gesicht. Hochgewachsen und hager, das markante, scharf geschnittene Gesicht von schwarzem Haar umkränzt, lümmelte Veyron auf der pechschwarzen Couch dieses Irren. Der Mann zu seinen Füßen musste demnach Henry Fowler sein, gefesselt und geknebelt; obendrein bewusstlos.

Tom sprang auf und steckte das Daring-Schwert in den Gürtel, wo es sich augenblicklich in Luft auflöste. Die Gefahr war vorüber, vorerst wurde es nicht mehr gebraucht.

Mit einem unverschämten Grinsen im Gesicht saß sein Pate vor ihm. Tom wusste erst nicht, was er sagen sollte, und dann sprudelten die Fragen nur so aus ihm heraus: »Wie lange sind Sie schon hier? Wo waren Sie die ganze Zeit? Wie kamen Sie hier überhaupt rein? Wo ist das Opfer? Was ist mir ihr passiert?« Er war sich nicht sicher, ob er erleichtert oder wütend sein sollte. Zu erstaunlich kam ihm Veyrons plötzliche Anwesenheit vor.

»Tom?«, hörte er Janes Stimme vom Fenster aus.

Er lehnte sich hinaus. Gegen das Zwielicht des frühen Morgens sah er den Kopf der Polizistin, die zu ihm hinaufsah.

»Kommen Sie herein, Willkins. Es besteht keinerlei Gefahr«, rief ihr Veyron zu.

Tom hörte Jane einen derben Fluch ausstoßen. Ächzend stieg sie durch das Fenster.

»Gregson immer mit seinen verdammten Räuberleitern. Ich hasse diese Stunts«, murrte sie, dann kam zu ihnen. Jane bückte sich, um den gefesselten Fowler zu untersuchen. Mit einem Seufzen steckte sie die Pistole weg und starrte Veyron entgeistert an.

»Die Geheimtür, Willkins«, antwortete er auf die nicht gestellte, aber offensichtliche Frage. »Henry Fowler hat eine Geheimtür gebaut, die er geschickt getarnt hat. Von außen glaubt man tatsächlich, er hätte alle Türen des Stockwerks zugemauert. Alles sauber verputzt. Die grüne Wandfarbe verbirgt geschickt alle Unregelmäßigkeiten. Allerdings sind mir Schleifspuren am Boden aufgefallen, zwei sehr schmale, geschwungene Kratzer, verursacht durch das Öffnen der Geheimtür.« Veyron stutzte einen Moment, dann warf er Jane ein schulmeisterliches Lächeln zu. »Ich bin überzeugt, sie wären Ihnen selbst noch aufgefallen, Willkins. Wie dem auch sei: Nachdem ich also sicher war, dass Fowler unser Serienmörder ist, bin ich hier eingebrochen und musste nur noch warten, bis er mit seiner Beute zurückkehrte. Übrigens: Sein Opfer, Miss Anita Henderson, liegt drüben im Schlafzimmer. Er hat sie betäubt, aber sie befindet sich außer Lebensgefahr.«

»Eine Geheimtür? Teufel noch eins! Und wir haben das nicht bemerkt«, mischte sich nun Inspektor Gregsons Stimme ein. Der Mann selbst stieg gerade durch das Fenster und sah sich für einen Moment angewidert um. »Alles schwarz, wie? Ein echter Psycho«, meinte er.

 

Veyron stimmte ihm sofort zu. »Obendrein gerissen, aber nicht gerissen genug. Er hat die Klingeln des fünften Stocks mit den Familiennamen seiner Opfer beschriftet. Ziemlich zynisch. Allerdings hat er vergessen, dies auf der Briefkastenanlage zu wiederholen. Es war ein Leichtes, sein Versteck ausfindig zu machen und hier einzudringen. Er leistete zwar ein wenig Widerstand, aber im Handumdrehen hatte ich ihn unter Kontrolle. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass er einige hervorragende Ideen ersann, sich jedoch als unfähig erwies, sie in gleichem Maße meisterhaft umzusetzen. So, mein lieber Inspektor: Hier haben Sie Londons meistgesuchten Serienmörder. Herzlichen Glückwunsch«, sagte er, schnellte einer Sprungfeder gleich in die Höhe und wandte sich in Richtung Ausgang.

»Moment«, rief ihm Tom hinterher. »Sie haben uns immer noch nicht gesagt, wie lange Sie hier schon rumsitzen. Was soll das heißen, Sie haben diesem Kerl aufgelauert?«

»Nun, ich wache hier schon seit einer Stunde und vierundfünfzig Minuten, falls du es genau wissen willst«, antwortete Veyron.

Gregson und Jane sackten die Kinnladen runter, Tom ballte die Fäuste. »Und die ganzen Nachrichten?«

»Etwas Motivation zu mehr Eile. Ich wollte hier nicht bis Sonnenaufgang auf euch warten.«

Jane stieß ein Lachen aus. »Heißt das, es bestand niemals Lebensgefahr?«

»Zumindest nicht mehr, nachdem ich Fowler ausgeschaltet hatte«, gab Veyron zurück.

Ungehalten verschränkte Jane die Arme, Gregson schüttelte den Kopf. Tom musste sich anstrengen, nicht irgendwas Beleidigendes von sich zu geben.

»Sie sind doch verrückt! Wir haben uns fast in die Hosen gemacht«, platzte es aus Jane heraus.

Mit einem gleichgültigen Schulterzucken nahm es Veyron zur Kenntnis. »Verrückt? Vielleicht, effizient ganz sicher – zum Glück für uns alle«, erwiderte er süffisant. Vom Wohnzimmertisch nahm er ein kleines, schwarzes Buch zur Hand und warf es Gregson zu, der es überrascht auffing.

»Das Schwarze Manifest«, las er vom Einband. »Was ist das?«

»Henry Fowlers Motiv, mein guter Inspektor. Es ist das wohl übelste Pamphlet dunkler Philosophie, das ich je gesehen habe. Eine Verherrlichung des Dunklen Meisters, des größten Tyrannen Elderwelts. Soweit ich es herauslesen konnte, verspricht der Glaube an den Dunklen Meister Unsterblichkeit, wenn man bereit ist, in seinem Namen Opfer zu bringen. Menschenopfer natürlich, und zwar nach streng festgelegten Ritualen. Sie werden feststellen, dass sie eins zu eins dem Vorgehen Fowlers entsprechen: Zuerst die Opfer strangulieren, dann den nackten Körper mit dunklen Schriftzeichen bepinseln. Die Übersetzungen werden Ihnen verraten, dass es sich um Fowlers geheime Wünsche handelt, deren Erfüllung er sich vom Dunklen Meister erhoffte. Auch die Drapierung der Opfer wird in diesem Buch festgeschrieben. Nackt und mit dem Gesicht nach oben bei Vollmond und mit dem Gesicht nach unten bei Neumond. Der nächste Vollmond ist morgen. Wir haben Fowler also gerade noch rechtzeitig gestoppt. Glücklicherweise, denn Henry Fowler, Inspektor, war ein hundertprozentiger Gefolgsmann des Dunklen Meisters – und das in unserer Welt. Diese Tatsache sollte uns große Sorgen bereiten«, erklärte Veyron. Er trat zur Wand und drückte eine bestimmte Stelle. Wie von Geisterhand schwang ein ganzes Stück der Mauer nach außen und offenbarte den Blick in den Flur des fünften Stocks. Draußen wirbelten zwei uniformierte Constables herum, die Veyron verdutzt anstarrten. Er winkte ihnen kurz zu.

»Wo wollen Sie denn jetzt hin?«, fragte Tom erstaunt. Das kann doch alles nicht wirklich wahr sein! Sie mussten sich um die bewusstlose Frau kümmern, und bestimmt gab es noch ein paar Zeugen in der Nachbarschaft aufzuspüren.

Veyron drehte sich mit einem Ausdruck ehrlicher Überraschung zu ihm um. Für ihn schien dieser Fall abgeschlossen. Die polizeiliche Arbeit interessierte ihn nicht im Geringsten. »Heim in die Wisteria Road, Tom. Hier sind wir fertig. Also, was ist, kommst du mit? Das Taxi wartet bereits.«

Etwa ratlos drehte sich Tom zu Inspektor Gregson und Jane um. Beide blätterten abwechselnd im Schwarzen Manifest und schüttelten fassungslos die Köpfe.

Ein Buch für die Anhänger des Dunklen Meisters. Und das mitten in London! Na, wenn da mal kein neuer Ärger auf uns zukommt, dachte Tom finster. Was hatte Veyron eben gesagt? ›Hier sind wir fertig.‹ Das glaube ich noch lange nicht.

Wie versprochen stand unten auf der Straße schon ein Black Cab, dessen Fahrer sie recht maulfaul begrüßte.

»Harrow, 111 Wisteria Road«, sagte Veyron beim Einsteigen.

Der Taxifahrer grunzte ungehalten. »Geht’s noch? Das ist ja am anderen der Stadt«, murrte er.

Tom hörte ihn noch ein paar unflätige Worte sagen, weil man ihn so früh am Morgen (seiner Meinung nach mitten in der Nacht) von East End bis nach Harrow fahren ließ. Trotzdem ging es gleich darauf in einem sehr gemächlichen Tempo los. Leider blieb es auch in den kommenden Minuten bei der Trödelei, was Tom einigermaßen aufregte. Sein Adrenalinpegel war immer noch recht hoch.

»Mann, man könnte meinen, wir fahren rückwärts, so schnell sind wir. Warum nehmen wir eigentlich immer ein Taxi?«, beschwerte er sich bei Veyron. »Wenn ich nur endlich meinen Führerschein hätte! Dann könnte ich in Zukunft selber fahren.«

Veyron schürzte kurz die Lippen. »Das wird dir vorerst auch nicht viel helfen. Wir besitzen gar kein Auto, das du fahren könntest.«

Das stimmte, doch so leicht wollte Tom noch nicht aufgeben. Gerade fiel ihm etwas ein. »Aber Ihr Bruder hat doch eins! Diesen alten Käfer, den er nie benutzt. Den könnten wir doch zu uns in die Wisteria Road holen.«

»Schlag dir das gleich wieder aus dem Kopf! Wimilles Wagen wird nicht angefasst«, konterte Veyron sofort. Was seinen Bruder betraf, zeigte sich Veyron unglaublich streng und würgte jedes Gespräch über ihn auf der Stelle ab. Tom hob entschuldigend die Hände. Bisher hatte er Veyrons Bruder noch nie persönlich kennengelernt. Erst seit gut einem Jahr wusste er, dass Wimille Swift überhaupt existierte. Seitdem hatte er versucht, mehr über den Mann herauszufinden. Dass Wimille in Camden wohnte, einen blauen VW-Käfer Baujahr 1968 in der Garage hatte (den er nie benutzte; warum auch immer) und als Software-Entwickler arbeitete, war alles, was ihm in Erfahrung zu bringen gelungen war. Er fragte sich, was zwischen den beiden Brüdern vorgefallen war, dass sich Veyron dermaßen darüber ausschwieg.

Die weitere Fahrt verlief weitgehend still. Veyron begnügte sich damit, aus dem Fenster zu blicken, das Gesicht angespannt, die Blicke hin und her huschend, was seine rasenden Gedanken verriet. Tom versuchte dagegen, ein wenig von seiner Aufregung runterzukommen.

»Hoffentlich gibt die Spurensicherung das Schwarze Manifest schnell frei. Ich muss unbedingt herausfinden, wer solche Bücher herstellt und in unserer Welt verbreitet«, meinte Veyron nach einer ganzen Weile.

Tom ruckte hoch. Eben wäre er fast eingeschlafen, doch die Erwähnung dieses furchtbaren Buchs blies jeden Anflug von Müdigkeit sofort weg.

»Vielleicht hat dieser Fowler es selbst hergestellt. Könnte doch sein«, erwiderte er, worauf Veyron sofort den Kopf schüttelte.

»Sehr unwahrscheinlich. Henry Fowler ist mäßig fantasiebegabter Mensch mit einem unzureichenden Organisationstalent. Nein, ihm wurde dieses Buch zugespielt. Die Frage ist nur, von wem. Erinnerst du dich noch an den Tommerberry-Fall vor rund drei Jahren?«, konterte er.

Tom erinnerte sich noch gut daran. Es war ein kleiner – für Veyron enttäuschender – Fall gewesen, nur wenige Monate nach ihrem ersten großen Abenteuer in Elderwelt. Ein Buchhändler hatte mehrere Bücher verschwinden lassen und dann seinen eigenen Tod fingiert, um einen Raubmord vorzutäuschen. Alles nur, damit Tommerberrys Frau die Versicherungssumme kassieren und die beiden sich nach Jamaica absetzen konnten. Veyron war ihnen auf die Schliche gekommen und hatte die Wahrheit aufgedeckt.

»Klar«, sagte Tom. »Sie hatten den Mann ursprünglich verdächtigt, Zauberbücher voll Schwarzer Magie zu vertreiben. Am Ende kam nichts Interessantes dabei heraus. Mal von diesem sehr speziellen Betäubungsmittel abgesehen, das Tommerberry benutzte, um den eigenen Tod vorzutäuschen. Aber fragen Sie mich nicht nach Details, die hab ich alle schon vergessen.«

Veyron gestattete sich ein kurzes Lächeln, als er die kleine Zusammenfassung des Falls zu hören bekam. »Ich hatte den Fall nach dieser herben Enttäuschung zu den Akten gelegt«, stimmte er Tom zu. »Aber ich frage mich inzwischen, ob dies nicht ein wenig voreilig war. Tommerberry hat gezielt Bücher mit einem schwarzen Einband verschwinden lassen, ganz ähnlich dem des Schwarzen Manifests. Falls es wirklich mehrere Ausgaben dieses besonderen Buchs waren, woher hat er sie bezogen? Wer versorgt einen Buchhändler im Herzen Londons mit dunklem Machwerk aus dem Schattenreich Elderwelts? Tom, ich denke, wir sollten morgen früh dem Gefängnis einen kleinen Besuch abstatten. Mein Gefühl sagt mir, dass uns Tommerberry noch immer etwas zu erzählen hat, von dem wir bislang nichts wussten.«

Tom wetzte unruhig auf der Sitzbank hin und her. Der Gedanke, dass es noch mehr Exemplare dieses teuflischen Buchs geben könnte, die weitere Menschen zu mordenden Monstern wie Henry Fowler machen könnten, bereitete ihm regelrecht Angst. Eben wollte er Veyron vorschlagen, am besten sofort mit Gregson zu telefonieren, als er seinen Patenonkel konzentriert nach vorne starren sah.