Der Zauberberg. Volume 1

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Drittes Kapitel

Ehrbare Verfinsterung

Hans Castorp hatte befürchtet, die Zeit zu verschlafen, da er so überaus müde gewesen war, aber er war früher als nötig auf den Beinen und hatte Muße im Überfluß, seinen Morgen-gewohnheiten ausführlich nachzukommen, hochzivilisierten Gewohn-heiten, unter denen eine Gummiwanne sowie eine Holzschale mit grüner Lavendelseife nebst zugehörigem Strohpinsel eine Hauptrolle spielten, – und mit den Geschäften der Säuberung und der Körperpflege das andere des Auspackens und Einräu-mens zu verbinden. Während er den versilberten Hobel über seine mit parfümiertem Schaum bedeckten Wangen führte, er-innerte er sich seiner verworrenen Träume und schüttelte nach-sichtig lächelnd, mit dem Überlegenheitsgefühl des im Tages-licht der Vernunft sich rasierenden Menschen den Kopf über so viel Unsinn. Sehr ausgeruht fühlte er sich eben nicht, aber frisch mit dem jungen Tage.

Indes er sich die Hände trocknete, trat er mit gepuderten Bak-ken, in seiner fil d'écosse-Unterhose und roten Saffian-Pantoffeln auf den Balkon hinaus, der durchlief und nur vermittelst undurchsichtiger, nicht ganz bis zum Geländer vortretender Glaswände in einzelne Zimmerbereiche geteilt war. Der Mor-gen war kühl und wolkig. Gestreckte Nebelbänke lagen unbe-weglich vor den seitlichen Höhen, während massiges Gewölk, weißes und graues, auf das fernere Gebirge niederhing. Flecken und Streifen von Himmelsblau waren hie und da sichtbar, und wenn ein Sonnenblick einfiel, schimmerte die Ortschaft im Tal-grunde weiß gegen die dunklen Fichtenwälder der Hänge. Ir-gendwo gab es Morgenmusik, wahrscheinlich in demselben Hotel, wo man auch gestern abend Konzert gehabt hatte. Choral-Akkorde klangen gedämpft herüber, nach einer Pause folgte ein Marsch, und Hans Castorp, der Musik von Herzen liebte, da sie ganz ähnlich auf ihn wirkte, wie sein Frühstücksporter, näm-lich tief beruhigend, betäubend, zum Dösen überredend, lauschte wohlgefällig, den Kopf auf die Seite geneigt, mit offe-nem Munde und etwas geröteten Augen.

Drunten schlang sich die Wegschleife zum Sanatorium her-auf, die er gestern abend gekommen war. Kurzstieliger, stern-förmiger Enzian stand im feuchten Grase des Abhanges. Ein Teil der Plattform war als Garten eingezäunt; dort gab es Kies-wege, Blumenrabatten und eine künstliche Felsengrotte zu Fü-ßen einer stattlichen Edeltanne. Eine mit Blech gedeckte Halle, in der Liegestühle standen, öffnete sich gegen Süden, und dane-ben war eine rotbraun gestrichene Flaggenstange aufgerichtet, an deren Schnur zuweilen das Fahnentuch sich entfaltete, – eine Phantasiefahne, grün und weiß, mit dem Emblem der Heilkun-de, einem Schlangenstab, in der Mitte.

Eine Frau ging im Garten umher, eine ältere Dame von dü-sterem, ja tragischem Aussehen. Vollständig schwarz gekleidet und um das wirre schwarzgraue Haar einen schwarzen Schleier gewunden, wanderte sie ruhelos und gleichmäßig rasch, mit krummen Knien und steif nach vorn hängenden Armen auf den Pfaden dahin und blickte, Querfalten in der Stirn, mit kohl-schwarzen Augen, unter denen schlaffe Hautsäcke hingen, starr von unten geradeaus. Ihr alterndes, südlich blasses Gesicht mit dem großen, verhärmten, einseitig abwärts gezogenen Mund erinnerte Hans Castorp an das Bild einer berühmten Tragödin, das ihm einmal zu Gesichte gekommen, und unheimlich war es zu sehen, wie die schwarzbleiche Frau, offenbar ohne es zu wis-sen, ihre langen, gramvollen Tritte dem Takt der herüberklin-genden Marschmusik anpaßte.

Nachdenklich teilnehmend blickte Hans Castorp auf sie hin-ab, und ihm war, als verdunkele ihre traurige Erscheinung die Morgensonne. Gleichzeitig aber faßte er noch etwas anderes auf, etwas Hörbares, Geräusche, die aus dem Nachbarzimmer zur Linken, dem Zimmer des russischen Ehepaars, nach Joachims Angabe, kamen und gleichfalls nicht zu dem heiteren, fri-schen Morgen passen wollten, sondern ihn irgendwie klebrig zu verunreinigen schienen. Hans Castorp erinnerte sich, daß er schon gestern abend dergleichen vernommen, doch hatte seine Müdigkeit ihn gehindert, darauf zu achten. Es war ein Ringen, Kichern und Keuchen, dessen anstößiges Wesen dem jungen Mann nicht lange verborgen bleiben konnte, obgleich er sich infangs aus Gutmütigkeit bemühte, es harmlos zu deuten. Man hätte dieser Gutmütigkeit auch andere Namen geben können, zum Beispiel den etwas faden der Seelenreinheit, oder den ern-sten und schönen der Schamhaftigkeit, oder die herabsetzenden Namen der Wahrheitsunlust und Duckmäuserei, oder selbst den einer mystischen Scheu und Frömmigkeit, – von alledem war etwas in Hans Castorps Verhalten zu den Geräuschen nebenan, und physiognomisch drückte es sich aus in einer ehrbaren Ver-finsterung seiner Miene, so, als dürfe und wolle er von dem, was er da hörte, nichts wissen: einem Ausdruck von Sittsamkeit, der nicht ganz originell war, den er aber bei bestimmten Gele-genheiten anzunehmen pflegte.

Mit dieser Miene also zog er sich von dem Balkon ins Zim-mer zurück, um nicht länger Vorgänge zu belauschen, die ihm ernst, ja erschütternd schienen, obgleich sie sich unter Gekicher kundtaten. Aber im Zimmer war das Treiben jenseits der Wand nur noch deutlicher zu hören. Es war eine Jagd um die Möbel herum, wie es schien, ein Stuhl polterte hin, man ergriff einan-der, es gab ein Klatschen und Küssen, und hierzu kam, daß es nun Walzerklänge waren, die verbraucht melodiösen Phrasen eines Gassenhauers, die von außen und fernher die unsichtbare Szene begleiteten. Hans Castorp stand, das Handtuch in Hän-den, und horchte wider besseren Willen. Und plötzlich errötete er unter seinem Puder, denn was er deutlich hatte kommen se-hen, war gekommen und das Spiel nun ohne allen Zweifel ins Tierische übergegangen. Herrgott, Donnerwetter! dachte er, in-dem er sich abwandte, um mit absichtlich geräuschvollen Bewe-gungen seine Toilette zu beenden. Nun, es sind Eheleute, in Gottes Namen, soweit ist die Sache in Ordnung. Aber am hel-len Morgen, das ist doch stark. Und mir ist ganz, als hätten sie schon gestern abend keinen Frieden gehalten. Schließlich sind sie doch krank, da sie hier sind, oder wenigstens einer von ih-nen, da wäre etwas Schonung am Platze. Aber das eigentliche Skandalöse ist selbstverständlich, dachte er zornig, daß die Wän-de so dünn sind und man alles so deutlich hört, das ist doch ein unhaltbarer Zustand! Billig gebaut natürlich, schändlich billig gebaut! Ob ich die Leute nachher zu sehen bekomme oder ih-nen gar vorgestellt werde? Das wäre im höchsten Grade pein-lich. Und hier wunderte sich Hans Castorp, denn er bemerkte, daß die Röte, die ihm vorhin in die frisch rasierten Wangen ge-stiegen war, nicht daraus weichen wollte, oder doch nicht das Wärmegefühl, wovon sie begleitet gewesen, sondern fix darin stand und nichts anderes als jene trockene Gesichtshitze war, an der er gestern abend gelitten, deren er im Schlafe ledig gewor-den, und die bei dieser Gelegenheit sich wieder eingestellt hatte. Das stimmte ihn nicht freundlicher gegen die benachbarten Eheleute, vielmehr murmelte er mit vorgeschobenen Lippen ein sehr absprechendes Wort gegen sie und beging dann den Fehler, sein Gesicht nochmals mit Wasser zu kühlen, was das Übel be– tend verschlimmerte. So geschah es, daß seine Stimme miß-mutig schwankte, als er seinem Vetter antwortete, der ihm zuru-fend an die Wand geklopft hatte, und daß er bei Joachims Ein-tritt nicht eben den Eindruck eines erfrischten und morgenfro-hen Menschen machte.

Frühstuck

«Tag», sagte Joachim. «Das war ja nun deine erste Nacht hier oben. Bist zu zufrieden?»

Er war fertig zum Ausgehen, sportlich gekleidet, in kräftig gearbeiteten Stiefeln, und trug über dem Arm seinen Ulster, in dessen Seitentasche sich die flache Flasche abzeichnete. Einen Mut hatte er heute nicht.

"Danke", erwiderte Hans Castorp, "es geht. Ich will weiter nicht urteilen. Etwas konfus geträumt habe ich, und dann hat das Haus ja den Nachteil, daß es sehr hellhörig ist, das ist etwas lästig. Wer ist denn die Schwarze da draußen im Garten?"

Joachim wußte sogleich, wer gemeint war.

"Ach, das ist 'Tousles-deux'", sagte er. "So wird sie allgemein genannt hier von uns, denn das ist das einzige, was man von ihr zu hören bekommt. Mexikanerin, weißt du, kann kein Wort deutsch und auch französisch fast gar nicht, nur ein paar Brocken. Sie ist seit fünf Wochen hier bei ihrem ältesten Sohn, einem vollständig hoffnungslosen Fall, der jetzt ziemlich rasch eingehen wird, – er hat es schon überall, durch und durch ver-giftet ist er, kann man wohl sagen, das sieht dann zuletzt unge-fähr wie Typhus aus, sagt Behrens, – scheußlich für alle Beteilig-ten jedenfalls. Vor vierzehn Tagen kam nun der zweite Sohn herauf, weil er den Bruder noch sehen wollte – , bildhübscher Kerl übrigens, wie auch der andere, – beide sind bildhübsche Kerle, so glutäugig, die Damen waren ganz aus dem Häuschen.

Na, der jüngere hatte unten ja wohl schon ein bißchen gehustet, war aber sonst ganz munter gewesen. Und kaum ist er hier, was meinst du, kriegt er Temperatur, – aber gleich 39,5, höchstes Fieber, verstehst du, legt sich ins Bett, und wenn er noch auf-kommt, sagt Behrens, dann hat er mehr Glück als Verstand. Je-denfalls sei es die höchste Zeit gewesen, sagt er, daß er herauf-kam … Ja, und seitdem geht die Mutter nun so herum, wenn sie nicht bei ihnen sitzt, und wenn man sie anspricht, sagt sie immer nur 'Tous les deux!', denn mehr kann sie nicht sagen, und hier ist im Augenblick niemand, der spanisch versteht."

"So ist es also mit der", sagte Hans Castorp. "Ob sie es wohl auch zu mir sagen wird, wenn ich sie kennenlerne? Das wäre doch sonderbar, – ich meine, es wäre komisch und unheimlich zu gleicher Zeit", sagte er, und seine Augen waren wie gestern: sie schienen ihm heiß und schwer, als habe er lange geweint, und jenen Glanz hatten sie wieder, den der neuartige Husten des Herrenreiters darin entzündet. Überhaupt kam es ihm vor, als habe er jetzt erst den Anschluß ans Gestrige gefunden, als sei er gleichsam wieder im Bilde, was nach seinem Erwachen zu-nächst so recht nicht der Fall gewesen war. Er sei übrigens fer-tig, erklärte er, indem er etwas Lavendelwasser auf sein Ta-schentuch träufelte und sich die Stirn und die Gegend unter den Augen damit betupfte. "Wenn es dir recht ist, können wir tous les deux zum Frühstück gehen", scherzte er mit einem Gefühl von ausschweifendem Übermut, worauf Joachim ihn sanft an-blickte und eigentümlich dazu lächelte, melancholisch und etwas spöttisch, wie es schien, – warum, das war seine Sache.

 

Nachdem Hans Castorp sich überzeugt, daß er zu rauchen bei sich habe, nahm er Stock, Mantel und Hut, auch diesen, trotzi-gerweise, denn er war seiner Lebensform und Gesittung allzu gewiß, um sich so leicht und auf bloße drei Wochen fremden und neuen Gebräuchen zu fügen – und so gingen sie denn, gin-gen die Treppen hinab, und auf den Korridoren wies Joachim auf diese und jene Tür und nannte die Namen der Inwohner, deutsche Namen und solche von allerlei fremdem Klang, indem er kurze Anmerkungen über ihren Charakter und die Schwere ihres Falles hinzufügte.

Sie begegneten auch Personen, die schon vom Frühstück zu-rückkehrten, und wenn Joachim jemandem Guten Morgen sagte, lüftete Hans Castorp höflich den Hut. Er war gespannt und nervös wie ein junger Mensch, der im Begriffe ist, sich vielen fremden Leuten zu präsentieren und der dabei von dem deutli-chen Gefühl geplagt ist, trübe Augen und ein rotes Gesicht zu Ilaben, was übrigens nur teilweise zutraf, denn er war vielmehr blaß.

"Ehe ich es vergesse!" sagte er plötzlich mit einem gewissen Minden Eifer. "Du kannst mich gern der Dame im Garten vor-stellen, wenn es sich gerade so macht, dagegen habe ich nichts. Sie soll nur immerhin 'tous les deux' zu mir sagen, das macht mir gar nichts, ich bin ja vorbereitet und verstehe den Sinn und werde schon das richtige Gesicht dazu machen. Aber mit dem russischen Ehepaar wünsche ich nicht bekanntzuwerden, hörst du? Das will ich ausdrücklich nicht. Es sind überaus unmanierli-che Leute, und wenn ich schon drei Wochen lang neben ihnen wohnen soll und es nicht anders einzurichten war, so will ich sie doch nicht kennen, das ist mein gutes Recht, daß ich mir das mit aller Bestimmtheit verbitte …"

"Schön", sagte Joachim. "Haben sie dich denn so gestört? Ja, es sind gewissermaßen Barbaren, unzivilisiert mit einem Wort, ich hab' es dir ja im voraus gesagt. Er kommt immer in einer Lederjoppe zum Essen, – abgeschabt, sage ich dir, mich wundert immer, daß Behrens nicht dagegen einschreitet. Und sie ist auch nicht die Properste, trotz ihrem Federhut … Übrigens kannst du ganz unbesorgt sein, sie sitzen weit von uns fort, am Schlechten Russentisch, denn es gibt einen Guten Russentisch, wo nur feinere Russen sitzen – , und es gibt kaum eine Mög-lichkeit, daß du mit ihnen zusammentriffst, selbst wenn du wolltest. Es ist überhaupt nicht leicht, Bekanntschaften zu machen, schon weil so viele Ausländer unter den Gästen sind, und ich selbst kenne persönlich nur wenige, so lange ich hier bin."

"Wer ist denn krank von den beiden?" fragte Hans Castorp. – Er oder sie?"

"Er, glaube ich. Ja, nur er", sagte Joachim merklich zerstreut, während sie an den Garderobeständern vorm Speisesaal ableg-ten. Und dann traten sie ein in den hellen, flachgewölbten Raum, wo Stimmen schwirrten, Gerät klapperte und die Saal-töchter mit dampfenden Kannen umhereilten.

Sieben Tische standen im Speisesaal, die meisten in Längs-richtung, nur zwei in die Quere. Es waren größere Tafeln; für lehn Personen jede, wenn auch die Gedecke nicht überall vollzählig waren. Nur ein paar Schritte schräg in den Saal hinein, und Hans Castorp war schon an seinem Platz; er war ihm an der Schmalseite des Tisches bereitet, der mitten vorn stand, zwi-schen den beiden querstehenden. Aufrecht hinter seinem Stuh-le, verbeugte Hans Castorp sich steif und freundlich gegen die Tischgenossen, mit denen Joachim ihn zeremoniell bekannt machte, und die er kaum sah, geschweige daß ihm ihre Namen ins Bewußtsein gedrungen wären. Einzig Frau Stöhrs Person und Namen faßte er auf, und daß sie ein rotes Gesicht und fetti-ge aschblonde Haare hatte. Man konnte ihr die Bildungsschnit-zer wohl zutrauen, so störrisch unwissend war ihr Gesichtsaus-druck. Dann setzte er sich und nahm beifällig wahr, daß man das erste Frühstück hier als eine ernste Mahlzeit behandelte.

Es gab da Töpfe mit Marmeladen und Honig. Schüsseln mit Milchreis und Haferbrei, Platten mit Rührei und kaltem Fleisch; Butter war freigebig aufgestellt, jemand lüftete die Glasglocke über einem tränenden Schweizer Käse, um davon abzuschnei-den, und eine Schale mit frischem und trockenem Obst stand obendrein in der Mitte des Tisches. Eine Saaltochter in Schwarz und Weiß fragte Hans Castorp, was er zu trinken wünsche: Kakao, Kaffee oder Tee. Sie war klein wie ein Kind, mit einem alten, langen Gesicht, – eine Zwergin, wie er mit Schrecken er-kannte. Er sah seinen Vetter an, aber da dieser nur gleichmütig mit Schultern und Brauen zuckte, als wollte er sagen: "Ja, nun, was weiter?", so fügte er sich in die Tatsachen, bat mit besonde-rer Höflichkeit um Tee, da es eine Zwergin war, die ihn fragte, und begann Milchreis mit Zimt und Zucker zu essen, während seine Augen über die anderen Speisen hingingen, von denen zu kosten ihn verlangte, und über die Gästeschaft an den sieben Ti-schen, Joachims Kollegen und Schicksalsgenossen, die alle in-nerlich krank waren und schwatzend frühstückten.

Der Saal war in jenem neuzeitlichen Geschmack gehalten, welcher der sachlichsten Einfachheit einen gewissen phantastischen Einschlag zu geben weiß. Er war nicht sehr tief im Ver-hältnis zu seiner Länge und von einer Art Wandelgang umlau-fen, in dem Anrichten standen und der sich in großen Bögen gegen den Innenraum mit den Tischen öffnete. Die Pfeiler, bis zu halber Höhe mit Holz in Sandelpolitur bekleidet, dann glatt beweißt, wie der obere Teil der Wände und die Decke, wiesen buntfarbige Bandstreifen auf, einfältige und lustige Schablonen, die sich an den weitgespannten Gurten des flachen Gewölbes fortsetzten. Mehrere Kronleuchter, elektrisch, aus blankem Messing, schmückten den Saal, bestehend aus je drei übereinan-der gelagerten Reifen, welche mit zierlichem Flechtwerk ver-bunden waren und an deren unterstem wie kleine Monde Milchglasglocken im Kreise gingen. Es waren vier Glastüren da, an der entgegengesetzten Breitseite zwei, die hinaus auf eine vorgelagerte Veranda gingen, eine dritte vorn links, die gerade-wegs in die vordere Halle führte, und dann jene, durch die Hans Castorp von einem Flur aus eingetreten war, da Joachim ihn eine andere Treppe hinabgeführt hatte als gestern abend.

Er hatte zur Rechten ein unansehnliches Wesen in Schwarz mit flaumigem Teint und matt erhitzten Backen, in der er etwas wie eine Nähterin oder Hausschneiderin sah, wohl auch weil sie ausschließlich Kaffee mit Buttersemmeln frühstückte und weil er die Vorstellung einer Hausschneiderin von jeher mit derjenigen von Kaffee und Buttersemmeln verbunden hatte. Zur Linken saß ihm ein englisches Fräulein, schon angejahrt gleichfalls, sehr häßlich, mit dürren, verfrorenen Fingern, die rundlich geschrie-bene Briefe aus der Heimat las und einen blutfarbenen Tee dazu trank. Neben ihr folgte Joachim und dann Frau Stöhr in einer schottischen Wollbluse. Die linke Hand hielt sie geballt in der Nähe ihrer Wange, während sie speiste, und bemühte sich sicht-lich, beim Sprechen eine feingebildete Miene zu machen, in-dem sie die Oberlippe von ihren schmalen und langen Hasen-zähnen zurückzog. Ein junger Mann mit dünnem Schnurrbart und einem Gesichtsausdruck, als habe er etwas Schlechtschmek-kendes im Munde, setzte sich neben sie und frühstückte voll-Mündig schweigend. Er kam herein, als Hans Castorp schon saß, senkte im Gehen und ohne jemanden anzublicken einmal zum Gruße das Kinn auf die Brust und nahm Platz, indem er es durch sein Verhalten rundweg ablehnte, sich mit dem neuen Gaste bekannt machen zu lassen. Vielleicht war er zu krank, um für solche Äußerlichkeiten noch Sinn und Achtung zu haben oder überhaupt an seiner Umgebung Interesse zu nehmen. Einen Augenblick saß ihm gegenüber ein außerordentlich mage-res, hellblondes junges Mädchen, das eine Flasche Yoghurt auf seinen Teller entleerte, die Milchspeise auflöffelte und sich un-verzüglich wieder entfernte.

Die Unterhaltung am Tisch war nicht lebhaft. Joachim plauderte formell mit Frau Stöhr, er erkundigte sich nach ihrem Be-finden und vernahm mit korrektem Bedauern, daß es zu wün-schen übrig lasse. Sie klagte über "Schlaffheit". "Ich bin so schlaff!" sagte sie gedehnt und zierte sich auf ungebildete Wei-se. Auch habe sie beim Aufstehen schon 37,3 gehabt, und wie werde es da erst nachmittags sein. Die Hausschneiderin bekann-te sich zu derselben Körpertemperatur, erklärte aber, daß sie sich im Gegenteil aufgeregt fühle, innerlich gespannt und rastlos, als stände ihr etwas Besonderes und Entscheidendes bevor, was doch gar nicht der Fall sei, sondern es sei eine körperliche Erre-gung ohne seelische Ursachen. Sie war doch wohl keine Hausschneiderin, denn sie sprach sehr richtig und fast gelehrt. Übri-gens fand Hans Castorp diese Aufgeregtheit oder doch die Äu-ßerung davon irgendwie unangemessen, ja fast anstößig bei ei-nem so unscheinbaren und geringen Geschöpf Er fragte nach-einander die Nähterin und Frau Stöhr, wie lange sie schon hier oben seien (jene lebte seit fünf Monaten, diese seit sieben in der Anstalt), suchte hierauf sein Englisch zusammen, um von seiner Nachbarin zur Linken zu erfahren, was für einen Tee sie da trinke (es war Hagebuttentee) und ob er denn gut schmecke, was sie fast stürmisch bejahte, und sah dann in den Saal hinein, in dem man kam und ging: das erste Frühstück war keine streng gemeinsame Mahlzeit.

Er hatte ein wenig Furcht vor schreckhaften Eindrücken gehabt, aber er fand sich enttäuscht: es ging ganz aufgeräumt zu hier im Saale, man hatte nicht das Gefühl, sich an einer Stätte des Jammers zu befinden. Gebräunte junge Leute beiderlei Ge-schlechts kamen trällernd herein, sprachen mit den Saaltöchtern und hieben mit robustem Appetit in das Frühstück ein. Auch reifere Personen waren da, Ehepaare, eine ganze Familie mit Kindern, die russisch sprach, auch halbwüchsige Jungen. Die Frauen trugen fast sämtlich eng anliegende Jacken aus Wolle oder Seide, sogenannte Sweater, weiß oder farbig, mit Fallkra-gen und Seitentaschen, und es sah hübsch aus, wenn sie, beide Hände in diese Seitentaschen vergraben, standen und plauder-ten. An mehreren Tischen wurden Photographien herumgezeigt, neue, selbst angefertigte Aufnahmen ohne Zweifel; an einem anderen tauschte man Briefmarken. Es wurde vom Wetter ge-sprochen, davon, wie man geschlafen und wieviel man morgens im Munde gemessen. Die meisten waren lustig, – ohne besonderen Grund wahrscheinlich, sondern nur, weil sie keine un-mittelbaren Sorgen hatten und zahlreich beisammen waren. Einzelne freilich saßen, den Kopf in die Hände gestützt, am Ti-sche und starrten vor sich hin. Man ließ sie starren und achtete nicht auf sie.

Plötzlich zuckte Hans Castorp geärgert und beleidigt zusammen. Eine Tür war zugefallen, es war die Tür links vorn, die gleich in die Halle führte, – jemand hatte sie zufallen lassen oder gar hinter sich ins Schloß geworfen, und das war ein Ge-räusch, das Hans Castorp auf den Tod nicht leiden konnte, das er von jeher gehaßt hatte. Vielleicht beruhte dieser Haß auf Er-ziehung, vielleicht auf angeborener Idiosynkrasie, – genug, er verabscheute das Türwerfen und hätte jeden schlagen können, der es sich vor seinen Ohren zuschulden kommen ließ. In die-sem Fall war die Tür obendrein mit kleinen Glasscheiben ge-lullt, und das verstärkte den Chok: es war ein Schmettern und Klirren. Pfui, dachte Hans Castorp wütend, was ist denn das für eine verdammte Schlamperei! Da übrigens in demselben Au-genblick die Nähterin das Wort an ihn richtete, so hatte er keine Zeit, festzustellen, wer der Missetäter gewesen sei. Doch standen Falten zwischen seinen blonden Brauen, und sein Gesicht war peinlich verzerrt, während er der Nähterin antwortete.

Joachim fragte, ob die Ärzte schon durchgekommen seien. Ja, zum erstenmal seien sie dagewesen, antwortete jemand, – sie hätten den Saal verlassen fast in dem Augenblick, als die Vettern gekommen seien. Dann wollten sie gehen und nicht warten, meinte Joachim. Eine Gelegenheit zur Vorstellung werde sich im Laufe des Tages ja finden. Aber an der Tür wären sie fast mit Hofrat Behrens zusammengestoßen, der, gefolgt von Dr. Kro-kowski, im Geschwindschritt hereinkam.

"Hoppla, Achtung die Herren!" sagte Behrens. "Das hätte leicht schlecht ablaufen können für die beiderseitigen Hühneraugen." Er sprach stark niedersächsisch, breit und kauend. "So, das sind Sie", sagte er zu Hans Castorp, den Joachim mit zusam-mengezogenen Absätzen präsentierte; "na, freut mich." Und er gab dem jungen Mann seine Hand, die groß war wie eine Schaufel. Er war ein knochiger Mann, wohl drei Köpfe höher als Dr. Krokowski, schon ganz weiß auf dem Kopf, mit heraus-tretendem Genick, großen, vorquellenden und blutunterlaufe-nen blauen Augen, in denen Tränen schwammen, einer aufgeworfenen Nase und kurzgeschnittenem Schnurrbärtchen, das schief gezogen war, und zwar infolge einer einseitigen Schür-zung der Oberlippe. Was Joachim von seinen Backen gesagt hatte, bewahrheitete sich vollkommen, sie waren blau; und so wirkte sein Kopf denn recht farbig gegen den weißen Chirur-genrock, den er trug, einen über die Knie reichenden Gurtkittel, der unten seine gestreiften Hosen und ein paar kolossale Füße in gelben und etwas abgenutzten Schnürstiefeln sehen ließ. Auch Dr. Krokowski war im Berufskleide, allein sein Kittel war schwarz, aus einem schwarzen Lüsterstoff, hemdartig, mit Gummizügen an den Handgelenken, und hob seine Blässe nicht we-nig. Er verhielt sich rein assistierend und beteiligte sich auf kei-ne Weise an der Begrüßung, doch ließ eine kritische Spannung seines Mundes erkennen, daß er sein untergeordnetes Verhältnis als wunderlich empfinde.

 

"Vettern?" fragte der Hofrat, indem er mit der Hand zwi-schen den jungen Leuten hin und her deutete und mit seinen blutunterlaufenen blauen Augen von unten blickte … "Na, will er denn auch zum Kalbsfell schwören?" sagte er zu Joachim und wies mit dem Kopf auf Hans Castorp … "I, Gott bewahre, – was? Ich habe doch gleich gesehen" – und er sprach nun direkt zu Hans Castorp – , "daß Sie so was Ziviles haben, so was Kom-fortables, – nichts so Waffenrasselndes wie dieser Rottenführer da. Sie wären ein besserer Patient als der, da möcht ich doch wetten. Das sehe ich jedem gleich an, ob er einen brauchbaren Patienten abgeben kann, denn dazu gehört Talent, Talent gehört zu allem, und dieser Myrmidon hier hat auch kein bißchen Talent. Zum Exerzieren, das weiß ich nicht, aber zum Kranksein gar nicht. Wollen Sie glauben, daß er immer weg will? Immer-zu will er weg, irrt mich und plagt mich und kann es nicht er-warten, sich da unten schinden zu lassen. So ein Biereifer! Kein halbes Jährchen will er uns schenken. Und dabei ist es doch ganz schön hier bei uns, – nun sagen sie mal selbst, Ziemßen, ob es nicht ganz schön hier ist! Na, Ihr Herr Vetter wird uns schon besser zu würdigen wissen, wird sich schon amüsieren. Damenmangel ist auch nicht, – allerliebste Damen haben wir hier. Wenigstens von außen sind manche ganz malerisch. Aber Sie sollten sich etwas mehr Couleur anschaffen, hören Sie mal, sonst fallen Sie ab bei den Damen! Grün ist ja wohl des Lebens goldner Baum, aber als Gesichtsfarbe ist grün doch nicht ganz das Richtige. Total anämisch natürlich", sagte er, indem er ohne weiteres auf Hans Castorp zutrat und ihm mit dem Zeige – und Mittelfinger ein Augenlid herunterzog. "Selbstverständlich total anämisch, wie ich sagte. Wissen Sie was? Das war gar nicht so dumm von Ihnen, daß Sie Ihr Hamburg mal auf einige Zeit sich selbst überließen. Ist ja eine höchst dankenswerte Einrichtung, dieses Hamburg; stellte uns immer ein nettes Kontingent mit seiner feuchtfröhlichen Meteorologie. Aber wenn ich Ihnen bei dieser Gelegenheit einen unmaßgeblichen Rat geben darf – ganz sine pecunia, wissen Sie – , so machen Sie, solange Sie hier sind, mal alles mit, was Ihr Vetter macht. In Ihrem Fall kann man gar nichts Schlaueres tun, als einige Zeit zu leben wie bei leichter tuberculosis pulmonum, und ein bißchen Eiweiß anzu-setzen. Das ist nämlich kurios hier bei uns mit dem Eiweiß-stoffwechsel … Obgleich die Allgemeinverbrennung erhöht ist, setzt der Körper doch Eiweiß an … Na, und Sie haben schön geschlafen, Ziemßen? Fein, was? Also nun mal los mit dem Lustwandel! Aber nicht mehr als 'ne halbe Stunde! Und nachher die Quecksilberzigarre ins Gesicht gesteckt! Immer hübsch aufschreiben. Ziemßen! Dienstlich! Gewissenhaft! Sonnabend will ich die Kurve sehen! Ihr Herr Vetter soll auch gleich mitmessen. Messen kann nie was schaden. Morgen, die Herren! Gute Unterhaltung! Morgen … Morgen …" Und Dr. Krokowski schloß sich ihm an, der weiter segelte, mit den Ar-men schlenkernd, die Handflächen ganz nach hinten gekehrt, indem er nach rechts und links die Frage richtete, ob man "schön" geschlafen habe, was allgemein bejaht wurde.