Loe raamatut: «Mara und der Feuerbringer»
Copyright © 2019 Tommy Krappweis
Copyright © 2019 by Edition Roter Drache für die deutsche Ausgabe
Edtion Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org
Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München
Buchgestaltung: Holger Kliemannel
Korrektorat: Diane Krauss & Holger Kliemannel
Zeichnungen: Adriaan Prent
Fachberatung: Prof. Rudolf Simek
Gesamtherstellung: Jelgavas tipografia, Lettland
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN 978-3-964260-42-0
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Impressum
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Teil 2
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Teil 1
Schwarz wird die Sonne, die Erde sinkt ins Meer,
Vom Himmel schwinden die heitern Sterne.
Glutwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum,
Die heiße Lohe beleckt den Himmel.
Kapitel 1
Und darum finde ich es natürlich besonders zauberhaft, dass Sie, Herr Professor, sich für solcherlei Themen erwärmen können! Haben Sie auch schon mal eine Aura gesehen? Ein erhebender Anblick!«
Mara blickte quer über den Tisch zu Professor Reinhold Weissinger, dessen Hand mit dem Löffel auf halbem Weg zurück zum Teller eingefroren war. Im Moment war sein gesamter Denkapparat wohl fieberhaft damit beschäftigt, sich eine Antwort zu überlegen. Da musste der Körper eben alle anderen Aktivitäten einstellen und sämtliche Energie im Kopf sammeln.
Eigentlich war ja alles Maras Schuld: Sie hatte dieses Desaster schließlich arrangiert. Es wäre wohl früher oder später sowieso passiert, da sich Mama in den Kopf gesetzt hatte, den Professor mal zum Abendessen einzuladen. In einem Anfall geistigen Kontrollverlustes hatte Mara das dann plötzlich auch für eine gute Idee gehalten und Professor Weissinger dazu genötigt, hier aufzutauchen. Wobei ihr sein »Ja« dann doch etwas zu schnell gekommen war, aber nun gut …
Jetzt saß sie also hier und musste mit ansehen, wie sich Mama vor Professor Weissinger zum Obst machte. Wobei der Professor gerade auch ziemlich obstig rüberkam und immer noch nach einer Antwort suchte.
»Eine Aura … nein, das … nicht, dass ich mich erinnern könnte …«, hüstelte sich der Professor schließlich zusammen und steckte direkt danach den Löffel in den Mund, um ein besonders armseliges Ablenkungsmanöver einzuleiten. »Mmh, aber Ihre Maronensuppe ist wirklich exquisit, Frau Lorbeer!«
Mara verdrehte die Augen. Das Ganze hätte entscheidend an Glaubwürdigkeit gewonnen, wenn er vorher den Löffel in den Teller getaucht hätte.
Aber das fiel Mama weder auf noch brachte es sie vom Thema ab. »Schön, wenn es Ihnen schmeckt. Um ehrlich zu sein, als ich zum ersten Mal eine Aura um einen Menschen herum wahrgenommen habe, war ich noch Wochen später völlig verstört.«
»Tatsächlich? Wie äh … schön für Sie?«, sagte der Professor und es klang tatsächlich wie eine Frage.
»Ja, allerdings«, schwärmte Mama weiter. »Sie wissen ja gar nicht, was Sie da verpasst haben.«
»Es scheint fast so, ja«, nickte Professor Weissinger und steckte erneut einen leeren Löffel in den Mund. Diesmal bemerkte er den Fehler aber und riss ihn so ruckartig von den Lippen, dass Mara glaubte, ein leises »Webbl« zu hören.
Sie hatte den Professor ja schon in einigen brenzligen Situationen erlebt, aber selbst Auge in Auge mit dem Lindwurm Fafnir war er ihr nicht so nervös vorgekommen. Gerade schmetterte Professor Weissinger den Löffel etwas zu schnell in den Teller und versetzte die Maronensuppe in Aufruhr.
»Hoppla, na ja, dieses Hemd sollte eh mal wieder in die Wäsche«, scherzte er lahm.
Aus diesem Bart hab ich aber echt schon witzigere Sprüche gehört, dachte Mara.
Mama war dafür wild entschlossen, das sogar höchst amüsant zu finden, und schraubte sich dazu in ein Geräusch, das dringend den Untertitel »Hahaha« benötigt hätte, weil man es kaum als Lachen erkannte.
Die meisten Mädchen und Jungs in Maras Alter konnten es gar nicht erwarten, endlich erwachsen zu sein. Aber wenn Mara sich dieses seltsame Schauspiel so ansah, konnte es ihr persönlich gar nicht lange genug dauern. Vermutlich änderte sich im Alter von achtzehn Jahren irgendetwas schlagartig im Hirn und betätigte dann den Komisch-Knopf. Dieser Volljährigkeitseffekt sorgte bestimmt auch dafür, dass jeder zweite Satz mit »Ich mein’s doch nur gut …« begann. Mara war froh, dass sie sich ab und zu in ihre Gedankenwelt zurückziehen konnte. Das machte es irgendwie erträglicher. Man konnte durchatmen und dann der wirklichen Welt wieder ins Auge sehen. Nur manchmal schien die Welt zu schielen.
Wie zum Beispiel jetzt. Gerade erklärte Mama nämlich dem Professor, dass sie als Ergebnis des Aurakurses im Wicca-Café doch tatsächlich eine Art Lichtwolke um die Kursleiterin herum wahrgenommen hatte.
»Normalerweise nimmt man ja eher den Ätherischen Körper wahr. Ich sah aber deutlich diese hellen Lichtstreifen auf bläulichem Untergrund, was ja bekanntermaßen auf den Negativen Ätherischen Körper schließen lässt. Die Kursleiterin meinte, das sei der helle Wahnsinn, hahaha.«
»Nun, ich hoffe, Sie verstehen mich nicht falsch, wenn ich dem einhellig zustimme, haha«, antwortete der Professor und handelte sich dafür einen scharfen Blick von Mara ein.
Mama mit Ironie zu kommen, war nicht fair, denn dafür fehlte ihr der Decoder.
Immerhin versuchte der Professor gerade wieder zurückzurudern: »Allerdings bin ich durchaus schon mit Auren konfrontiert worden, Frau Lorbeer, aber nicht in dem Sinne, wie Sie das beschreiben. Zum einen ist mir natürlich die griechische Göttin gleichen Namens bekannt: Aura aus dem Geschlecht der Titanen, Patronin der Morgenbrise.«
»Ach was, wie interessant«, sagte Mama und schien tatsächlich interessiert zu sein.
Mara atmete erleichtert auf.
»Ja, allerdings«, fuhr der Professor fort. »Laut griechischer Mythologie verfällt sie später … dem Wahnsinn und äh … najaistjetztvielleichtnichtsowichtig … ist denn noch Suppe da?«
»Aber natürlich. Mara, bist du so nett und bringst dem Professor noch einen Teller?«
Mara nickte und nahm Professor Weissingers Teller mit in die Küche. Im Flur hörte sie ihn noch »Und zum anderen …« sagen, dann schloss sie die Küchentür und lehnte sich erschöpft mit dem Rücken an den Kühlschrank.
Puh. Bei Gelegenheit würde sie den Professor fragen, was die griechische Göttin denn so Schlimmes angestellt hatte, dass er es am Tisch nicht erzählen wollte. Aber sie wusste ja inzwischen aus eigener Erfahrung, dass alte Götter generell nicht besonders zimperlich waren. Der germanische Halbgott Loki, dessen Flucht aus seinem Gefängnis sie ja eigentlich verhindern sollte, wurde zum Beispiel nicht mit einem Seil auf die Felsen gebunden, sondern mit den Gedärmen seines eigenen Sohnes Narfi. Brr, Mara schüttelte sich jedes Mal, wenn sie nur daran dachte. Und leider dachte sie viel zu oft daran. So in etwa dauernd.
Mara seufzte und schöpfte dann Maronensuppe aus dem Topf in den Teller. Hier stand sie nun, suppeschöpfend, während man eigentlich von ihr erwartete, dass sie einen Halbgott an der Flucht hinderte, damit der nicht den Anfang vom Ende der Welt auslöste. Aber das Problem war doch, dass sie gar nicht das Gefühl hatte, bei Loki bestünde Fluchtgefahr. Und außerdem fand sie den Kerl eigentlich auch ganz … nett?
Ja klar, er konnte schreien, dass die Erde bebte, und hatte wohl damals zur Zeit der nordisch-germanischen Götter eine Menge Mist gebaut: Monster geschaffen, Streit angezettelt, gelogen, betrogen, Odins Lieblingssohn in die Hölle geschickt und so … Nein, ganz sicher war Loki kein harmloser Kumpel von nebenan.
Aber als sie ihn in seinem Höhlengefängnis aufgesucht hatte, wirkte er eher wie der lebende Beweis für die heilsame Wirkung von über tausend Jahren Gefangenschaft: Er hatte glaubhaft versichert, dass ihm nicht an Rache gelegen war, und Mara sogar einen Teil seiner Götterkraft verliehen.
Und überhaupt: Nach wie vor hatte sich ihr geheimnisvoller Auftraggeber nicht persönlich gemeldet und vielleicht lag der sogar völlig falsch mit seinem Verdacht gegen Loki?
Denn da gab es ja noch den Feuerbringer namens Loge, diese seltsame Mischung aus Loki, einem Feuerriesen namens Logi und einer Figur aus Richard Wagners Ring-Opern.
Vor dem hätte man sie mal warnen sollen, denn der hatte schließlich deutlich mehr Probleme gemacht als der arme Loki in seiner Höhle. Also echt!
Mara hörte auf zu schöpfen, als ihr die Suppe über den Daumen lief. Sie schimpfte leise und wischte den Tellerrand noch schnell mit einem schräg abgerissenen Fetzen Küchenrolle ab. Manchmal hatte sie fast den Eindruck, diese Perforation sollte nur zeigen, wo die Küchenrolle garantiert nicht reißen würde.
Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, schlug ihr ein eisiger Wind entgegen.
»Alles okay?«, fragte sie leise und las die Antwort bereits an den zusammengepressten Lippen ihrer Mutter ab.
»Der Professor meint, ich leide an einer Nervenkrankheit«, flötete es aus Mamas gespitztem Mund.
Mara verdrehte die Augen. Typisch Erwachsene – da kehrt man ihnen nur kurz den Rücken, und schon …
Professor Weissinger war redlich bemüht, sich zu erklären. »Du liebes bisschen, aber nein! Ich wollte wirklich nur rein informationshalber darauf hinweisen, dass ich das Verspüren von Auren eigentlich nur im Zusammenhang mit Epilepsiekranken kenne! ›Aura‹ nennt man das Gefühl, wenn wieder ein Anfall droht. Womit ich selbstverständlich weder Sie noch die bedauernswerten Epilepsiepatienten beleidigen wollte, Frau Lorbeer.«
»Also, wie darf ich denn das nun wieder verstehen?«
»Nun ja, nicht falsch, wär’ mir recht«, antwortete der Professor und lächelte dazu entwaffnend unter seinem Professorenbart hervor.
Das half. Mama lächelte zurück. Mara und Professor Weissinger atmeten fast gleichzeitig auf.
Puh, diese Klippe wäre also umschifft. Na dann, volle Kraft voraus zum nächsten Eisberg, dachte sie und sagte stattdessen: »Hier ist Ihre Suppe, Herr Professor. Ich würd’ ja gern schon den Hauptgang vorbereiten, aber ich glaube, das mit dem Anbraten hab ich nicht so drauf …«
»Ach Gott, nein, nein, das mache ich schon selbst«, fuhr Mama dazwischen. »Wenn ich Sie kurz mit Mara alleine lassen darf, Herr Weissinger?«
»Aber gern … ich meine, kein Problem. Sie kommen doch irgendwann zurück, oder nicht?«, charmantete der Professor hinterher und hatte damit durchaus Erfolg.
»Na, selbstverständlich komme ich zurück und ich bringe sogar Saltimbocca mit. Und dann muss ich Ihnen noch etwas ganz besonders Erstaunliches erzählen«, salbte Mama und ging lächelnd hinaus.
Kaum hatte Mara das typische Klickediklack der Küchentür vernommen, sprang sie auf und schloss leise die Tür zum Flur.
»Es tut mir leid!«, zischte der Professor sofort los. »Deine Mutter ist wirklich eine tolle Frau, aber wenn sie mit diesem Esoterikzeugs anfängt, weiß ich einfach nicht, was ich sagen soll!«
Eine tolle Frau? Auf diese Aussage war Mara gar nicht vorbereitet gewesen. Musste sie darauf jetzt was sagen? Sie zwang sich schließlich dazu, den ersten Teil des Satzes zu übergehen und nur auf den zweiten zu reagieren.
»Glauben Sie mir, ich weiß auch nie, was ich sagen soll. Das Problem ist aber, dass das nur der Anfang war. Weil, jetzt gleich wird sie Ihnen wohl von unserem … Ausflug erzählen.«
»Ausflug, welcher Ausflug?«, fragte der Professor verwirrt und Mara konnte förmlich beobachten, wie er sich die schlimmstmögliche Antwort zusammenreimte. »Oder hast du etwa … du wirst doch nicht …«
Mara nickte nur, denn, oh, genau das hatte sie eben leider doch. Sie hatte nur bisher einfach nicht den Mut gefunden, es dem Professor zu beichten.
Da kam Mama auch schon zurück und zwischen ihren Handschuhen hielt sie einen Bräter, in dem mit Speck und Salbei ummanteltes Fleisch vor sich hin brutzelte.
Sie stellte den Topf auf dem Tisch ab und bat Mara, ihr mit den Beilagen zu helfen. Mara stand auf und ließ den Professor mit offenem Mund zurück. Sie hatte den berechtigten Verdacht, dass er diesen nicht geöffnet hatte, um gefüttert zu werden …
In der Küche flüsterte Mara ihrer Mutter zu: »Mama, ich weiß, du willst ihm von unserem Ausflug in diesen Wald erzählen, aber meinst du nicht …«
»Mara, ich merke doch, dass Herr Weissinger mich für verschwurbelt hält!«
»Ach nein … bestimmt nicht …«, murmelte Mara halbgar dazwischen, aber Mama ließ sie kaum zu Wort kommen.
»Und diese Sache ist nun mal der schlagende Beweis für meine Kräfte, denn du warst dabei und wirst es bezeugen!« Und mit diesen Worten schnappte sie sich die Soßenkelle und winkte Mara zu der Schüssel mit den gerösteten Kartoffeln.
Warum nur habe ich Mama mit in diese Vision genommen?, seufzte Mara in Gedanken.
Dabei kannte sie die Antwort. Sie hatte Mama eben trösten wollen und das war ihr damit gelungen.
Aber warum habe ich es dem Professor nicht vorher gesagt?, fragte Mara sich selbst auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer. Na ja, sie kannte auch diese Antwort. Zu feige. Mist.
Kapitel 2
Und plötzlich stehe ich mit meiner Tochter in diesem wunderschönen, romantischen Wald. Die Vögel zwitschern und der Himmel strahlt, fast wie im Märchen! Es war einfach unglaublich, im wahrsten Sinne des Wortes zauberhaft!«
Mara überlegte, ob sie vielleicht unter den Tisch kriechen sollte, so wie früher als kleines Kind. Damals hatte sie eine Menge Zeit unter dem Tisch zugebracht. Wenn man das Tischtuch komplett auseinandergefaltet hatte, war man sich wie in einem Zelt vorgekommen. Am schönsten war es immer mit der weinroten Tischdecke gewesen, weil es so toll aussah, wenn das Licht da durchgeschienen hatte …
»… und dann war da noch dieser Hirsch, nicht wahr, Mara? Ich bin mir sicher, das war kein normaler Hirsch, ganz sicher nicht, oder Maraschatz? Das kann doch kein normaler Hirsch gewesen sein, so, wie der zu uns rüber geschaut hat, nicht wahr? Mara?«
Mara schreckte hoch. »Nein, nein, sicher nicht. Vermute ich mal. Ich weiß nicht.«
Mama warf ihr einen seltsamen Blick zu. Gar nicht verärgert, wie Mara erwartet hätte, sondern enttäuscht. Mara konnte allerdings schnell nachvollziehen, woher das kam. Ihre Mutter hatte zum ersten Mal etwas tatsächlich Unglaubliches erlebt – nicht nur, dass es warm wurde, wenn man jemandem die Hand auflegte, oder das Schwindelgefühl, nachdem man sich eine Stunde zum »Dönggg« einer Klangschale hin und her gewiegt hatte – nein, das war nichts gewesen, was man sich hinterher schönreden musste. Das war ein reales Erlebnis, das man sehen, fühlen, riechen und schmecken konnte. Und dazu kam noch, dass Mama nicht allein gewesen war. Sie hatte eine Zeugin: Mara. Und die sollte jetzt gefälligst aussagen und ihre Mutter freisprechen von jeglichem Blabla-Verdacht.
Dem Professor hingegen war immer noch die Überraschung ins Gesicht geschrieben wie eine Schlagzeile. Aber er blieb still.
Was hatte Mara für eine Wahl? Eben. Also sagte sie leise: »Ja, ich hab’s auch gesehen. War wirklich schön. Und der Hirsch war auch echt komisch.«
Mama grinste zufrieden und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Sehen Sie? Das ist der Beweis für mein starkes Band zu den arkanen Urkräften: Ich habe eine transzendentale Reise gemacht und sogar meine Tochter mit in diese Erfahrung eingeschlossen.«
»Sie haben …?« Professor Weissinger schaute zwischen Mama und Mara hin und her.
Letztere konnte nur gequält lächeln und dazu leise nicken. Ja, genau: Mama war der festen Überzeugung, sie habe sich selbst und Mara für fünf Minuten in einen Märchenwald versetzt. Und für die Tatsache, dass sie weder an einen Wald gedacht noch sich sonst wie konzentriert hatte, gab es folgende Erklärung: »Der Schlüssel ist, dass ich mich bisher wohl zu sehr verkrampft habe und es einfach zu sehr wollte. Doch die Erdmutter lässt sich nicht gerne drängen, sondern entscheidet selbst, wem sie die Türe der Erkenntnis öffnet. Was denken Sie denn, was es wohl mit dem Hirsch auf sich hatte, Herr Weissinger?«
»Mit dem Hirsch«, wiederholte der Professor langsam und Mara vermutete, dass er seine Festplatte nun nach irgendwelchen passenden Infos über Hirsche durchforstete.
Mara beneidete Professor Weissinger für sein umfassendes Wissen. Es ermöglichte ihm, zu jedem Thema irgendetwas halbwegs Passendes vorzutragen – eine Fähigkeit, die Mara so gar nicht besaß.
»Nun, der Hirsch ist in jedem Fall ein äußerst symbolträchtiges Tier«, dozierte der Professor nun los, um von seiner Überraschung abzulenken. »Er steht in verschiedenen Mythen und Religionen für die Wiedergeburt. Ansonsten finden wir ihn zum Beispiel im griechischen Aktaios-Mythos über einen Halbgott in Hirschgestalt, in der Sage von König Artus, und in der germanischen Mythologie gibt es unter anderem Eikthyrnir, den Hirsch auf dem Dach der Valhöll.«
»Sie meinen Walhalla?«, fragte Maras Mutter dazwischen.
»Nein, mit Verlaub, ich meine Valhöll. Zur Walhalla wurde die ›Halle der in der Schlacht Gefallenen‹ erst vor zweihundertfünfzig Jahren grundlos eingedeutscht und somit …«
»Ähm«, räusperte sich Mara und hob kaum merklich ihre beiden Zeigefinger Richtung Schläfe.
»… äh … somit zurück zum Hirsch«, fuhr der Professor mit seinem Vortrag fort. »In seiner alten, gemeingermanischen Form ›Herut‹ ist er aller Wahrscheinlichkeit nach sogar der Namenspatron eines ganzen germanischen Stammes: der Cherusker. Ach ja, und Siegfried der Drachentöter wurde verschiedenen Versionen der Sage nach von einer Hirschkuh aufgezogen. Aber Siegfried hat mit der ganzen Sache ja wohl eher gar nichts zu tun, nicht wahr? Hahaha … hm.«
Einen Moment lang war es still am Tisch. Dann erinnerte sich der Professor wieder an die Frage von vorhin. »Also, um auf Ihre Frage zurückzukommen, Frau Lorbeer, was der Hirsch wohl zu bedeuten hat: Ich habe keine Ahnung. Vielleicht war es einfach nur ein Hirsch?«
Da lachte Mama ihr Mag-ja-sein-aber-ich-weiß-es-besser-Lachen, das Mara so gar nicht an ihr mochte, und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Herr Weissinger, wenn Sie dieses erhabene Tier auch gesehen hätten, dann würden Sie so nicht sprechen.«
Wie gerne hätte Mara ihr jetzt serviert, dass der Professor den Hirsch in der Tat gesehen hatte, und das sogar ein paar Stunden vor ihr … Oh Mann.
Der Rest des Abendessens verlief erstaunlich entspannt, denn Professor Weissinger schaffte es letztlich doch recht elegant, zu seinem Herzensprojekt überzuleiten: dem originalgetreuen Nachbau eines Wikingerschiffs am Tegernsee. Ihm und seinen Mitstreitern war zwar im vorigen Jahr das Geld ausgegangen, aber jetzt hatte dann doch noch der Freistaat Bayern eingegriffen und man war zuversichtlich, dass das Boot in ein paar Monaten vom Stapel laufen konnte. Seine Augen leuchteten begeistert, als er von den Schiffen erzählte, die aufgrund ihrer flachen Bauweise direkt bis ans Ufer fahren konnten, wo man sie dann mit vereinten Kräften an Land zog. Mara konnte sich gut vorstellen, wie Professor Weissinger mit wild flatterndem Bart Kommandos brüllte, während seine Studenten versuchten, ein tonnenschweres Wikingerschiff an den Strand zu zerren.
Als Mara nach dem Dessert – Bayrische Creme mit Waldbeeren – die Schüsseln in die Küche trug, merkte sie aber, dass Mama noch irgendwas vorhatte. Mara versuchte, sich gar nicht erst vorzustellen, was es wohl sein würde, aus Angst, vielleicht richtig zu tippen. Im Fernsehen hieß es nämlich nach solchen Abenden immer: »Wollen Sie noch mit reinkommen, auf einen Kaffee?« Die Hauptdarsteller setzten sich dann aufs Sofa, Musik setzte ein und die Kamera schwenkte auf den brennenden Kamin, den vorher irgendjemand mit einem Schlüssel für die Wohnung vorsorglich angezündet haben musste.
Aber in ihrem Fall waren die beiden ja erstens schon drin, zweitens gab es hier nur lösliches Pulver CappuccinoArt und drittens würde Mara den ganzen Abend lang zwischen den beiden sitzen und darauf achten, dass keiner plötzlich einen brennenden Kamin reinschleppte, verdammt noch mal!
Verwundert von ihren eigenen Gedanken horchte Mara kurz in sich hinein, um herauszufinden, was genau eigentlich ihr Problem war. Erst hatte sie das Treffen selbst eingefädelt und jetzt hätte sie die beiden am liebsten in getrennte Zimmer gesperrt. Schnell stellte Mara fest, dass sie darauf keine zufriedenstellende Antwort hatte. Sie fand es nun mal gleichzeitig irgendwie gut und irgendwie blöd und jetzt gerade fühlte es sich eben eher blöd an. Hm… Schließlich zuckte sie mental mit den Achseln und beschloss, das Ganze einfach auf die Pubertät zu schieben. Warum sollte diese praktische Ausrede nur den Erwachsenen zur Verfügung stehen? Eben.
Entschlossen, nun jegliche Annäherungen von Mama und Professor Weissinger, wenn nötig gewaltsam, zu unterbinden, stapfte Mara wieder ins Wohnzimmer zurück und ihr erster Blick fiel auf das Sofa. Es war leer. Die beiden saßen immer noch brav am Tisch, durch selbigen getrennt. Na wenigstens …
Außerdem sprach Mama gerade wieder von irgendeinem Wicca-Kram und Professor Weissinger wirkte, als würde er gleich durchs geschlossene Fenster springen und laut schreiend davonlaufen.
»… und da dachte ich mir, wo Sie doch so offen sind für spirituelle Themen jenseits wissenschaftlicher Trampelpfade, könnten Sie uns vielleicht dorthin begleiten«, beendete Mama gerade ihren letzten Satz und Mara wusste sofort, was Sache war. Mama hatte Professor Weissinger gerade eingeladen, mit ihnen zu dem Rückführungsseminar von Dr. Thurisaz zu fahren!
Mama, du weißt ja gar nicht, was du mir damit gerade für einen Gefallen getan hast, grinste Mara in sich hinein. Sofort machte sie einen kleinen Schritt rückwärts, damit Mama sie nicht direkt sehen konnte, und nickte dem Professor so heftig zu, dass sie fast mit dem Kinn auf den Boden beziehungsweise mit dem Schädel an die Decke stieß.
Als Mama sich umdrehte, um zu sehen, was ihre Tochter hinter ihrem Rücken für Faxen machte, nutzte der Professor die Chance für eine stumme Antwort. Um noch energischer den Kopf zu schütteln, hätte er dafür hin und her laufen müssen.
Verstand er denn nicht? Er wusste doch, dass Mara die geheimnisvollen Verse des Feuerbringers auf dem Infoblatt über das Seminar entdeckt hatte! Sie hatte sowieso schon ein mulmiges Gefühl dabei gehabt, dort mit Mama allein hinzufahren. Denn inzwischen konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, ohne Professor Weissinger ein weiteres Abenteuer durchzustehen. Sie brauchte ihn doch! Wusste er das denn nicht?
Da Mara ihm vor ihrer Mutter ja nicht direkt sagen konnte, warum sie die Idee so großartig fand, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm ein paar versteckte Hinweise zu geben. Und wenn das nichts half, würde sie ihn eben so weit in die Grütze reiten, dass er gar nicht anders konnte.
»Ich finde die Idee total super, Herr Professor! Wir werden bestimmt eine Menge lernen …«
Verstehen Sie doch: Lernen! Wie: Rausfinden!, dachte Mara.
»Das mag ja alles sein, aber ich kann leider meine Studis nicht vernachlässigen«, schüttelkopfte Professor Weissinger zurück.
»Aber diese tolle Gelegenheit dürfen wir uns doch nicht entgehen lassen!«, sprach Mara eindringlich auf ihn ein.
Verstehen Sie mich doch!
»Sind Sie nicht auch gespannt, was uns dort erwartet?«
Bitte raff es! Raff es bitte!
Eine Pause entstand. Der Professor seufzte. Schließlich sah er Mara an, nickte und Maras Herz machte einen Sprung: YES.
»Oh, das ist ja ganz wunderbar! Glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen«, sagte Mama. »Meine Wicca-Freundinnen sind ganz wunderbare und spirituelle Wesen.«
Mara sah, wie bei »spirituelle Wesen« etwas im Blick des Professors zerbrach, als hätte jemand seine Kontaktlinsen zersungen.
Da sehen Sie mal, was ich alles schon durchgemacht habe, dachte sie und musste grinsen.
Als Mama hinausging, um für sie zwei Tassen CappuccinoArt zu holen, schlug sich der Professor mit der flachen Hand gegen die Stirn und zog dann die Finger sehr langsam über das Gesicht nach unten, wobei er seine Wangen zu einer seltsamen Grimasse zerdrückte. Als er Mara mit trüben Augen ansah, musste sie richtig lachen. Er nahm es also auch mit Humor. Sehr gut, das würde helfen.
»Ich hab’s doch verstanden, Mara Lorbeer, danke für die vielen subtilen Hinweise. Aber ich musste mich erst einmal innerlich damit abfinden, mehrere Tage mit spirituellen Wesen verbringen zu müssen.«
»Ach, zusammen wird es vielleicht sogar ganz lustig. Meine Mutter ist ja auch dabei und mit der verstehen Sie sich doch ganz gut, oder nicht?«, fragte Mara lauernder, als sie beabsichtigt hatte.
»Aber ja, deine Mutter ist mir nach wie vor sehr sympathisch. Ich glaube, sie ist einfach nur auf der Suche nach Antworten und sondiert dafür den falschen Ort. Wenn ich das mal so ausdrücken darf.«
»Papa hat das Sondieren halt so genervt, dass er irgendwann weggegangen ist«, sagte Mara und beeilte sich hinterherzuwerfen: »Also, nicht dass Sie jetzt denken …«
»Keine Sorge, Mara, ich verstehe dich genau richtig. Aber was ich nicht verstehe, ist, warum du deine Mutter mit in eine Vision genommen hast. So gesehen hast du ja noch mal Glück gehabt, dass sie denkt, sie hätte es irgendwie selbst bewerkstelligt. Andererseits …«
»Andererseits ist es seitdem schlimmer denn je«, seufzte Mara. »Sie sitzt stundenlang da drüben vor ihrer Schale mit den Focus Stones™ und … fokust rum.«
Der Professor folgte Maras Blick hinüber in die Ecke, wo die schief getöpferte Schale mit den großen Flusskieseln stand, und nickte. »Lass mich raten, seitdem hat sie es aber nicht noch mal geschafft, sich in den Wald zu versetzen. Oder hast du etwa …«
»Nein, nein, hab ich nicht, ehrlich! Nur das eine Mal!« Natürlich hatte Mara schon darüber nachgedacht, ob sie ihrer Mutter den Gefallen noch einmal tun sollte. Aber es sprachen so viele Gründe dagegen, dass sie mit dem Zählen gar nicht hinterherkam. Außerdem hatte sie damit sowieso das letzte Quäntchen von Lokis Göttergeschenk verbraucht. Mara konnte gar nicht sagen, ob sie es mit ihren eigenen Kräften überhaupt hinbekommen würde. Am Ende reichte es vielleicht gerade so für die Reise dorthin, aber nicht mehr für die Rückfahrkarte. Bloß nicht!
Mama betrat das Wohnzimmer, in den Händen hielt sie zwei Kaffeetassen. »Bitte entschuldigen Sie den etwas labbrigen Kaffee-Ersatz, das ist mir furchtbar unangenehm. Aber ich habe leider vergessen, heute mal wieder echtes Pulver zu kaufen. Ich weiß natürlich, dass das vom energetischen Standpunkt her grundfalsch ist, aber ich habe mich irgendwann an dieses lösliche Chemiezeugs gewöhnt. Ich denk mir dann immer: Ein Laster darf ich mir doch vielleicht gönnen.« Sie lachte und Mara versuchte, ihre Mutter mit den Augen des Professors zu sehen.
Kann schon sein, dass Mama trotz ihres Wicca-Zeugs ganz okay rüberkommt, dachte sie. Auf jeden Fall stand ihr das Lachen besser als der sparsame Spitzmund …