Loe raamatut: «Briefe von Klara»
Tove Jansson
BRIEFE von KLARA
Erzählungen
Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer
INHALT
Briefe von Klara
Robert
Im August
Der Seerosenteich
Die Zugfahrt
Das Gesellschaftsspiel
Piratenrum
Im Sommer
Die Bilder
Vorwarnungen
Emmelina
Meine Freundin Karin
Die Reise an die Riviera
BRIEFE VON KLARA
Liebe Matilda,
du bist gekränkt, weil ich deinen uralten Geburtstag vergessen habe. Das ist unvernünftig von dir. Im Klartext – all die Jahre hast du erwartet, dass ich dich ganz besonders feiere, nur weil ich drei Jahre jünger bin. Aber gestatte mir, dir endlich eins zu sagen – das reine Vergehen der Jahre ist nichts, worauf man sich etwas zugutehalten kann.
Du betest um ›höhere Weisung‹, sehr gut. Aber bevor diese dir zukommt, wäre es vielleicht angebracht, gewisse Unsitten zu erwähnen, die im Übrigen auch mir nicht fremd sind.
Liebe Freundin, eine Sache, die man stets im Kopf behalten sollte, ist, möglichst nicht zu jammern, denn dann haben die anderen sofort Oberwasser. Ich weiß, dass es dir erstaunlich gut geht, dem Himmel sei Dank, aber du hast die einzigartige Gabe, deiner Umgebung Schuldgefühle zu vermitteln, indem du jammerst, und das zahlen sie dir heim. Sie werden jovialisch und machen aus dir eine Person, die nicht mehr zählt. Das habe ich beobachtet. Was auch immer du willst oder nicht willst, wäre es doch am einfachsten, deinen Willen sehr lautstark mit kraftvollen Worten kundzutun. Dadurch würden sie endlich aufwachen und vielleicht sogar ein bisschen erschrecken. Ich kann mich daran erinnern, dass du dazu durchaus in der Lage bist – damals hast du nicht herumgemaunzt, oh nein!
Und dass man nachts nicht schlafen kann – vermutlich weil man sich im Laufe des Tages achtmal ein Nickerchen gegönnt hat? Doch, ja, ich weiß; nachts bewegt sich das Gedächtnis rückwärts und nagt sich durch alles hindurch, ohne die kleinste Einzelheit zu verschonen – dass man etwas nicht gewagt hat, dass man falsch gewählt hat, taktlos, gefühllos, kriminell unaufmerksam gewesen ist – und die vielen Kalamitäten, diese Blamagen, diese irreparablen idiotischen Äußerungen, die alle anderen schon längst vergessen haben, nur man selbst nicht! Zu so später Stunde noch mit einem blitzklaren Gedächtnis bedacht zu werden, nur rückwärtsläufig – ist das nicht ungerecht?!
Liebe Matilda, schreibe mir und erzähle, was du über die folgenden heiklen Dinge denkst. Ich verspreche, ich werde versuchen, nicht besserwisserisch zu sein – ja, ja, brauchst es nicht zu leugnen, das hast du gesagt – aber ich wüsste gern, beispielsweise, wie du dich verhältst, wenn du nicht mehr weißt, wie oft du ein und derselben Person ein und dieselbe Sache erzählt hast? Rettest du dich dann, indem du mit »Also, wie schon gesagt …« beginnst oder mit »Wie ich vielleicht bereits erwähnt habe« oder … Hast du andere Vorschläge? Verstummst du einfach?
Und lässt du Gespräche über deinen Kopf hinweg weitergehen? Versuchst du, irgendeinen sinnvollen Kommentar zu finden, und merkst dann, dass sie inzwischen schon über etwas ganz anderes reden? Tröstest du dich mit der Feststellung, dass sie dumm daherreden, über unnötiges Zeug?
Und sind wir überhaupt noch interessiert? Neugierig? Sag, dass wir das sind!
Wenn du mir wieder schreibst, verwende bitte nicht deinen vorsintflutlichen Füller, der macht den Text unleserlich und ist außerdem hoffnungslos unmodern. Die sollen dir Filzstifte besorgen, medium point 0,5 mm, gibt es überall.
Deine Klara
PS: Habe irgendwo gelesen, dass mit Filzstift geschriebene Schrift nach ca. vierzig Jahren unleserlich wird, was sagst du dazu? Ist doch eigentlich ganz schön. Oder planst du etwa irgendwelche Memoiren – du weißt schon: »Erst nach fünfzig Jahren zu lesen.« (Hoffentlich findest du mich jetzt witzig.)
Lieber Ewald,
was für eine nette Überraschung, von dir einen Brief zu erhalten. Wie bist du auf diese Idee gekommen?
Doch, natürlich könnten wir uns treffen, ist ja lange her, wie du so richtig bemerkst. So an die sechzig Jahre ungefähr.
Ich danke dir für die vielen schönen Worte, die du mir geschrieben hast. Aber sind sie nicht ein bisschen allzu schön, lieber alter Freund? Du bist doch auf deine alten Tage hoffentlich nicht sentimental geworden?
Aber ja, Rosen züchten, das finde ich ausgezeichnet! Im Radio kommt jeden Samstagmorgen eine, soweit ich es beurteilen kann, sehr sachliche Gartensendung, sonntags wird sie wiederholt. Hör sie dir an.
Ruf mich an und sag mir, wann es dir passt. Übrigens kann es etwas dauern, bis ich am Telefon bin. Vergiss nicht zu erwähnen, ob du immer noch Vegetarier bist, ich habe vor, uns etwas ziemlich Spezielles zu kochen.
Natürlich sollst du dein Fotoalbum mitbringen, ich hoffe, wir kommen einigermaßen mit diesem unvermeidlichen »Weißt du noch« klar, um dann endlich über alles reden zu können, was uns gerade durch den Kopf geht.
Mit herzlichem Gruß Klara
Hallo Steffe!
Vielen Dank für das Rindenschiff, es ist sehr schön und hat mich gefreut. Hab das Schiff in der Badewanne ausprobiert und gesehen, dass es perfekt das Gleichgewicht hält.
Über das Zeugnis solltest du dir nicht so große Sorgen machen, sag deinen Eltern, manchmal ist es viel wichtiger, dass man mit den Händen arbeiten kann und etwas Schönes zustande bringt. Das mit der Katze tut mir leid. Aber wenn eine Katze siebzehn Jahre alt wird, ist sie wahrscheinlich ziemlich müde und fühlt sich nicht mehr wohl. Deine Grabinschrift ist nicht schlecht, aber achte auf den Rhythmus. Wenn wir uns wiedersehen, können wir näher darauf eingehen.
Deine Patentante Klara
Sehr geehrter Herr Öhlander,
laut Ihrem Brief vom 27. soll ich, offenbar unrechtmäßig, eines Ihrer frühen Werke in meinem Besitz haben, ein Werk, das Sie so schnell wie möglich für eine retrospektive Ausstellung benötigen.
Ich kann mich nicht entsinnen, mir bei einem Besuch beim Sohn Ihrer Nichte das fragliche Bild »erschlichen« zu haben, viel wahrscheinlicher ist, dass er, ohne irgendwelche Vorbehalte, wünschte, ich möge es aus seiner Wohnung mitnehmen. Inzwischen habe ich die Signaturen der Werke, die mich hier umgeben, sorgfältig studiert und kann, mit gewissen Schwierigkeiten, eine entziffern, die von Ihnen stammen könnte. Das Bild stellt möglicherweise etwas zwischen Interieur und Landschaft dar, mit einem Zug ins Quasi-Abstrakte.
Das Maß, von Ihnen nicht erwähnt, ist das klassische Französische, 50 x 61.
Ich werde Ihr Werk umgehend abschicken, in der Hoffnung, dass es seinen zukünftigen Platz in Ihrer Sammlung finden wird.
Klara Nygård
Lieber Niklas,
kaum bist du von deinem »unbekannten Ort« zurückgekommen (den ich im Verdacht habe, Mallorca zu sein), nun, wie dem auch sei, ich habe darüber nachgedacht, mein Testament wieder ein wenig zu ändern. Du brauchst nicht zu seufzen, ich weiß, dass dich dieses ganze Hin und Her eigentlich amüsiert. Also, ich gedenke, dem Altersheim, dessen Dienste ich mit der Zeit in Anspruch nehmen werde, eine feste jährliche Summe zukommen zu lassen. Aber nur, solange ich lebe, wohlgemerkt. Damit meine ich Bank- und Wertpapierzinsen und was ich sonst noch entbehren kann – das alles weißt du am besten. Die können dann ganz nach eigenem Belieben damit verfahren.
Die Idee dahinter verstehst du natürlich, schlau wie du bist; mit diesen Einnahmen im Blick wird das fragliche Heim bemüht sein, mich so lange wie möglich am Leben zu erhalten, ich werde deren Maskottchen sein und kann mir gewisse selbstverständliche Freiheiten herausnehmen. Das, was nach meinem Tod übrig bleibt, soll so wie früher abgemacht verteilt werden. Im Übrigen geht es mir ausgezeichnet und ich hoffe dasselbe von dir.
Klara
Meine liebe Cecilia,
wie lieb von dir, mir meine alten Briefe zu schicken. Was für ein schrecklich großer Karton, hat dir wenigstens jemand dabei geholfen, ihn auf die Post zu befördern? Es rührt mich, dass du alles aufbewahrt hast (die Briefe sind sogar nummeriert), aber, mein Schatz, das mit dem Durchlesen, also, du verstehst? Die Briefmarken alle abgeschnitten, sicherlich für irgendein Briefmarken sammelndes Kind. Falls du noch mehr Korrespondenzen vom Anfang des Jahrhunderts hast, solltest du den ganzen Umschlag aufbewahren; für einen Philatelisten z. B. wird es dann gleich viel erstrebenswerter, und auf Viererblocks musst du ganz besonders achten.
Ich nehme an, du machst gerade reinen Tisch, eine höchst natürliche und lobenswerte Beschäftigung. Ich tue desgleichen und habe nach und nach einiges gelernt, unter anderem, dass junge Leute sich von diesen Kleinodien, die man ihnen schenken will, peinlich berührt fühlen. Sie reagieren mit der Zeit immer höflicher und sind nach und nach immer peinlicher berührt. Hast du das auch schon bemerkt? Weißt du was, zurzeit gibt es auf dem Sandviksplatz einen Flohmarkt, geöffnet Samstag und Sonntag, was sagst du dazu? Da kann jeder selbst was aufstöbern, und niemand braucht gekränkt oder dankbar zu sein. Sehr gute Idee.
Du schreibst, du seist melancholisch geworden, aber Cecilia, das gehört doch dazu, darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich habe irgendwo gelesen, das sei ein physiologisches Phänomen, klingt das nicht tröstlich? Also, man wird melancholisch – dann setzt man sich hin und denkt, aha, das hier zählt nicht, ich kann nichts dafür, das wird einfach so. Nicht wahr?
Was weiter kann ich berichten – tja, ich habe mich von meinen Topfpflanzen befreit und versuche, ein bisschen Französisch zu lernen. Wie du weißt, habe ich dich immer bewundert, weil du diese Sprache perfekt sprichst. Wie heißt doch gleich diese elegante Formulierung am Ende eines Briefes – chère madame, ich schließe Sie ein in, nein, mich in Ihr – du weißt schon.
Ich bin erst am Anfang.
Chère petite madame, Sie fehlen mir manchmal –
Deine Klara
Lieber Sven Roger,
mit Dankbarkeit habe ich festgestellt, dass der Kamin wieder funktioniert. Sollten diese Behörden je wiederkommen und behaupten, er sei unzulässig, werde ich mich an meinen Rechtsanwalt wenden; der Kamin ist historisch, und dessen sind wir uns durchaus bewusst.
Wenn Sie von Ihrem Urlaub zurückkommen, werden Sie feststellen, dass bei Frau Fagerholm im ersten Stock eine mehr als notwendige Entrümpelung ihrer Bodenkammer stattgefunden hat. Aber da sie ihre unsäglichen Besitztümer direkt vor meiner Bodenkammer deponierte, sah ich mich selbstredend gezwungen, alles ins Treppenhaus hinauszubefördern.
Im Hof neben den Mülltonnen habe ich, im Hinblick darauf, dass Sie bei einer Gelegenheit einen Wunsch nach Topfpflanzen für Ihr Sommerhaus zum Ausdruck brachten, meine Kollektion zur freien Auswahl aufgereiht. Lassen Sie das Unbrauchbare einfach in den Tonnen verschwinden. Vorläufig gieße ich sie abends noch, sicherheitshalber. Als eine Erklärung für mein offenbar herzloses Betragen möchte ich erwähnen, dass diese Topfpflanzen eine lebenslange Verantwortung bedeutet haben: Entweder sie bekommen zu wenig Wasser oder zu viel, das weiß man nie. Ich glaube übrigens, mit dem Fensterputzen können wir noch warten, jetzt gerade liegt auf den Scheiben ein leichter, schöner Nebel, den man nicht stören sollte.
Mit freundlichem Sommergruß K. Nygård
PS: Sagen Sie nichts zur Fagerholmerin. Als ich ihren Krempel entsorgte, hatte ich eigentlich ziemlich viel Spaß.
Camilla Alleén
»Von Frau zu Frau«
Sehr geehrtes Fräulein Alleén,
vielen Dank für Ihren freundlichen Brief. Allerdings sehe ich mich ehrlich gesagt nicht imstand, mich, wie Sie es nennen, an der Umfrage zu beteiligen, die Probleme und kleinen Freuden des Alters betreffend.
Man könnte natürlich behaupten, das Alter sei lästig, aber auch recht interessant – aber wozu selbstverständliche Missgeschicke notieren, und der Versuch, das Interessante daran zu formulieren, ist eine Aufgabe, die mir in jene Privatsphäre zu gehören scheint, der definitive Äußerungen fremd sind.
Liebes Fräulein Alleén, ich befürchte, Sie werden keine allzu ehrlichen Antworten auf Ihre Fragen erhalten.
Mit freundlichen Grüßen Klara Nygård
ROBERT
In der Kunstschule hatten wir einen Mitstudenten, der hieß Robert. Robert war lang und mager, den großen Kopf hielt er leicht zur Seite geneigt, als wäre er nachdenklich oder erschöpft. Er war sehr schweigsam und hatte offensichtlich keine Freunde in der Klasse.
Robert malte unerhört langsam, seine Leinwände wurden nie fertig, die meisten übermalte er immer wieder mit Weiß und fing von vorne an, um sie dann erneut zu übermalen.
Aber manchmal signierte er. Wir nahmen es sehr aufmerksam zur Kenntnis, wenn Robert signierte, zwar schauten wir nicht hin, aber wir wussten, was gerade geschah. Die Signatur erfolgte mit der gleichen langsamen Sorgfalt, die Farbe für die Buchstaben wurde immer wieder neu gemischt und übermalt; nichts, das kein organischer Teil des Werkes, des Absoluten, war, durfte sein Bild stören. Nachdem Robert alles endlich zu seiner Zufriedenheit vollbracht hatte, konnten wir mit unserer eigenen Arbeit fortfahren. Zu jener Zeit signierten wir unsere Bilder noch nicht. Eines Tages bekam ich einen Brief von Robert, er hatte ihn auf meine Staffelei gestellt. Er schrieb »Sie«.
»Sie sind so fröhlich, Sie besitzen die leichte Freude. Soweit ich verstehe, gibt es niemanden, den Sie nicht gernhaben, weil es nämlich einfacher ist, jeden gernzuhaben. Ich habe Sie beobachtet; Sie fliegen lieber über alles hinweg, Sie wollen weder klettern noch sich durchbohren – oder warten.
Ich wünsche Ihnen nichts Böses, im Gegenteil, bitte glauben Sie an meine Aufrichtigkeit – aber es muss mir gestattet sein mitzuteilen, dass ich, aus verschiedenen Gründen, die ausschließlich meine eigenen sind, mich gezwungen sehe, unsere Bekanntschaft zu beenden.
Mit größtem Respekt Robert«
Ich verstand das nicht, der Brief beunruhigte mich, nicht um Roberts willen, nein, ich fühlte mich eher unangenehm berührt. Hatte ich jemals auch nur ein Wort mit ihm gewechselt? Kaum. Als wir dann eines Tages alle auf dem Weg zur Kunstgeschichtsvorlesung den Hof überquerten, holte Robert mich ein und fragte: »Haben Sie verstanden?« Und ich sagte: »Vielleicht nicht unbedingt viel …« Ich war verlegen. Robert ging an mir vorbei, setzte seinen Weg über den Hof fort.
Was hätte ich sagen sollen? Hätte er etwas erklären können, wollte er das überhaupt – also, ich meine, so benimmt man sich doch nicht! Aber trotzdem, ich hätte fragen können.
Mit der Zeit kam heraus, dass Robert an jeden Einzelnen aus der Malklasse geschrieben hatte, und jeder Brief schloss mit einer sehr höflichen Kündigung der Bekanntschaft. Wir zeigten einander seine Briefe nicht und besprachen die Angelegenheit auch nicht. Vielleicht fanden wir es irgendwie komisch, auf etwas, das nie existiert hat, zu verzichten, aber wir sprachen es nicht aus. Alles ging so weiter wie immer, ganz so wie immer.
Dann kam die Zeit, als wir unsere Leinwände signierten. Und sehr bald kam der Krieg.
Nach dem Krieg stieß ich einmal zufällig auf einen Kollegen aus der Malschule, wir gingen in ein Café. Irgendwann kam ich auf Robert zu sprechen. »Weißt du, wo er sich heutzutage aufhält?«
»Niemand weiß das. Er verirrte sich. Er ging über die Grenze.«
»Wie meinst du das?«
»Das war so typisch für ihn«, fuhr mein Studienfreund fort. »Also, er lief einfach in die falsche Richtung. Das war in jener Zwischenzeit, als nichts passierte, man wartete nur und machte Holzschnitzereien oder was immer man damals trieb. Robert war mit seinem Skizzenblock unterwegs, machte den Wald unsicher und kehrte dann mit seinen Skizzen zur Kantine zurück. Ich glaube, er wollte damals zur Kantine, dort gab es einen anständigen Mittagstisch. Aber er ging in die falsche Richtung. Er hatte keinen Orientierungssinn.«
Ich habe ziemlich viel an Robert gedacht, vielleicht vor allem an seine Abschiedsbriefe. Inzwischen glaube ich zu verstehen, dass diese Briefe aus unwiderstehlichem Zwang geschrieben wurden und ein enormes Gefühl der Erleichterung und Befreiung hinterließen. Waren da noch andere, außerhalb der Schule, denen er auf dieselbe Art geschrieben hatte? Hatte er an seine Eltern geschrieben? Ja, mit Sicherheit an seine Eltern.
Unglaublich, so etwas zu wagen – die eigene Umgebung von sich zu distanzieren, alle diese Personen, entweder sie sind unerreichbar oder man hat sie zu nahe an sich herankommen lassen!
… aus verschiedenen Gründen, die ausschließlich meine eigenen sind, sehe ich mich gezwungen …
Aber so etwas macht man ja nicht.
IM AUGUST
Eines Abends im August saßen Tante Ada und Tante Ina auf der Veranda und erholten sich, die letzten Verwandten waren in ihre Autos gestiegen und weggefahren, und jetzt war nur der Wind draußen im Garten zu hören. Der Abend war sehr warm, aber man konnte keine Fenster aufmachen, denn dann flogen die Nachtfalter gegen die Lampe und lagen schließlich mit zitternden Flügeln über großen haarigen Körpern da, und sie zu töten, war scheußlich.
»Ist alles gutgegangen?«, fragte Ina. »Es waren zu viele. Und warum mussten sie die kleinen Kinder mitbringen, es war doch eine Gedenkfeier? Wir haben den Salat vergessen.«
Ada antwortete nicht, und ihre Schwester fuhr fort: »Müssen wir das jedes Mal am Todestag wiederholen? Das können doch die anderen übernehmen, in der Stadt ist das einfacher. Was ist eigentlich alles schiefgegangen?«
»Nichts«, sagte Ada, »überhaupt nichts, nur, dass du sie in Verlegenheit gebracht hast. Du hast zu viel über Mama geredet. Warum willst du unbedingt, dass sie ein schlechtes Gewissen bekommen? Gestatte ihnen lieber, zu vergessen. Mama war schrecklich alt, und es ging sehr schnell.«
Einem Nachtfalter war es gelungen hereinzukommen und sich an der Lampe zu verbrennen. Ada sagte rasch: »Lass mich« und zerdrückte das Insekt mit einer Kaffeetasse.
»Mach die Lampe aus!«, rief Ina.
Als es auf der Veranda dunkel wurde, kam der Garten näher, mit Silhouetten von Bäumen, die sich im Nachtwind bewegten. »Aber ich will, dass sie sich erinnern«, sagte Ina. »Warum soll ich die Einzige sein, die sich erinnert?«
»Was weißt du schon, woran die sich erinnern«, bemerkte Ada. »Übrigens trafen sie Mama meistens nur an irgendwelchen Feiertagen. Das mit der Badezimmerdecke bedrückt sie nur.«
»Und das geschieht ihnen recht, Ada, das geschieht ihnen ganz recht! Da war sie, ganz allein …«
»Ja, ja. Ich weiß. Mama klettert auf eine Leiter, um die Badezimmerdecke zu streichen, selbstständig und wie immer klammheimlich. Und dann passiert Folgendes: Sie vertraut niemandem, nur sich selbst, sie fällt von der Leiter und bricht sich das Genick. Sie ist über achtzig. Ein guter Abgang. Und jetzt predigst du, wir hätten Gott weiß was tun sollen, um ihr noch weitere zehn Jahre zu ermöglichen! Ina, du weißt doch, im Innersten war sie ziemlich, ja – ziemlich …«
»Überhaupt nicht«, protestierte Ina, »überhaupt nicht!« Sie fuhr hoch und begann auf der Veranda auf und ab zu gehen.
»Sie war überhaupt nicht despotisch!«
»Aber das hab ich nie gesagt!«
»Aber das hast du damit gemeint!«
»Setz dich«, sagte Ada, »setz dich um Himmels willen und beruhige dich. Ich weiß, was du nie aussprechen kannst, jetzt lass es ausnahmsweise mal gesagt sein – erinnere dich bitte: Was macht Mama jetzt, wo steckt sie, warum schweigt sie so hartnäckig, ist sie gekränkt oder geht es ihr irgendwie schlecht, was habe ich gesagt oder nicht gesagt oder getan – das alles wissen wir doch noch, na und?«
»Du klingst so hart«, sagte Ina. »Mama war wunderbar.«
»Setz dich endlich.«
»Ada, weißt du, damals, als es passierte, hab ich Zahnschmerzen bekommen, und der Arzt sagte, das hätte damit zu tun, dass ich immerzu die Zähne zusammenbiss.«
»Ja, ja, hast du schon erzählt. Setz dich. Du wirst mir jetzt zu anstrengend, und dir geht es genauso. Fang jetzt bloß nicht an zu weinen. Ich hole Kerzen.«
Ada kam mit zwei brennenden Kerzen zurück, stellte sie auf den Tisch und sagte, sehr freundlich: »Ina, lässt sich eine angenehmere Art zu sterben überhaupt vorstellen? So geschickt, und kein einziger Mensch war daran schuld! Sie hatte ihren Spaß, begreif das doch, es hat ihr Spaß gemacht! Und es blieb ihr erspart, im Ernst alt zu werden. Sie befand sich in einem neuen Trotzalter, und was hätten wir groß dagegen tun können?«
Jetzt weinte Ina.
»Ja, ja, genau«, sagte ihre Schwester. »Was willst du eigentlich? Vielleicht, dass du die Decke hättest streichen sollen? Fleckig und halbfertig ist sie immer noch, und ich kann mir gut vorstellen, dass du jedes Mal die Augen schließt, wenn du zum Zähneputzen hineinkommst … Bist du etwa zu diesem schlechten Gewissen verpflichtet? Als ob du auch nur das Recht dazu hättest!«
»Jetzt bist du diejenige, die predigt!«, rief Ina aus. »Jetzt weißt du alles besser als alle anderen, genau wie Mama! Darf man nicht einmal in Ruhe trauern!«
»Gut. Tu das. Du hast natürlich das Monopol darauf. Hier hast du ein Taschentuch. Ina. Überleg doch. Es ist so einfach: Mama musste unbedingt alles selbst machen, sie kam uns immer zuvor und hat sich auf nichts und niemand verlassen! So war das!«
»Freilich verließ sie sich auf etwas«, sagte Ina.
»Wie meinst du das?«
»Sie verließ sich darauf, dass wir sie in Ruhe lassen würden.«
»Ha, das war gut!«, bemerkte Ada. »Sehr gut sogar! Und wir haben sie in Ruhe gelassen. Das ist das Beste, was du seit Langem gesagt hast.«
»Findest du wirklich?«
»Ja, das finde ich. Liebste Ina, könnten wir jetzt nicht zu Bett gehen?«
»Geh du nur, ich bleibe noch ein bisschen.«
»Und denkst hoffentlich daran, die Kerzen ordentlich zu löschen?«
»Komisch«, bemerkte Ina. »Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Ja, ja. Ich werde die Kerzen schon löschen.«
In jener Nacht kam es in der Villa der alten Schwestern zu einem eigenartigen Vorfall: Eine von ihnen war auf eine Leiter gestiegen, um die Badezimmerdecke zu streichen, war heruntergefallen und hatte sich den Arm sowie ein paar Rippen gebrochen. Auf dem Regal im Bad standen noch zwei brennende Kerzen. Aber das Erstaunlichste war, dass die bedauernswerte Frau nach dem Unfall so gut gelaunt war, geradezu aufgekratzt. Das muss der Schock gewesen sein.
Tasuta katkend on lõppenud.