Oh nee, Boomer!

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Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Oh nee, Boomer!
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Uli Hannemann

OH NEE, BOOMER!

Wenn früher plötzlich alles besser wird


Uli Hannemann

(geb. 1965 in Braunschweig) »lebt« und »arbeitet« als »freier« »Autor« in Berlin und ist dort Mitglied der wöchentlichen Lesebühne »LSD – Liebe statt Drogen«.

2005 erschien sein erstes Buch »Hähnchen leider« bei Satyr, was zugleich die allererste Veröffentlichung des Satyr Verlags war. Die Geschichtenbände bei Ullstein, allen voran »Neulich in Neukölln«, wurden Bestseller. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind die Sagenparodie »Die megascharfe Maus von Milo: 24 neue Arbeiten des Herakles« (Berlin Verlag; 2016), die Textsammlung »Wunschnachbar Traumfrau« (Voland & Quist; 2017) sowie die Fußballfibel »Eintracht Braunschweig« (CULTURCON; 2018).

Daneben schreibt Hannemann Glossen, Kolumnen und Polemiken vor allem für die taz. Auf seiner Website veröffentlicht er zudem den Blog »Blök«, und »Die besten Texte der Welt« sind von ihm jeden Sonntag auf dem Münchner Radiosender egoFM zu hören.

E-Book-Ausgabe Oktober 2020

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2020

www.satyr-verlag.de

Cover: Jussi Jääskeläinen | www.kobaia-design.com

Korrektorat: Jan Freunscht

Autorenfoto: Ulla Ziemann

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-947106-65-3

Inhalt

Wie anfangen?

Böse Menschen kennen viele Lieder

Ein Buch mit leeren Seiten

Der Mann in der Andropause: Midlife-Crisis? What Midlife-Crisis?

Forever young

Der Spieler

Saufen für Luchsbabys

Der Mann in der Andropause: Der dritte Frühling

Eulen nach Athen

Knastgespräche

Diesseits jeder Hoffnung

Der Mann in der Andropause: Junge Menschen

Lernkasse

Schwamm drüber

Perlen vor die Säue

Der Mann in der Andropause: Eine Null

Shavasana

Eine Mauer des Schweigens

Neu in Berlin

Der Mann in der Andropause: Weinen ist gesund

Sommer vor der Stadt

Fast erster April

Lebensraum im zweiten Stock

Der Mann in der Andropause: Murphy’s Gesetz

Die große Demo

Drei Quadratmeter Deutschland

Muttertag

Der Mann in der Andropause: Die wilde Wut

Blechkuchen

Operation Erwachsenenkreditkarte

Mein Albtraum

Der Mann in der Andropause: Kinder

Heraus zum achten Mai

Kunstpatienten

Die Sorgen der Arschlöcher

Der Mann in der Andropause: Die Menomädels

Filmstadt Berlin

Der lange Heimweg

Soko »Klauschwein«

Der Mann in der Andropause: Neue Skills

Gedanken zum Frauentag

Stiller Exzess

Immer auf die Kleinen

Der Mann in der Andropause: Angst

Sparschwein mit Brille

Tötet sie alle!

Der Mann in der Andropause: Sex sells, Corona buys

Zivilcourage

Das Büro

Der Mann in der Andropause: Androurlaub

Vitamin Weh

Klopapier

Das Grauen schlechthin

Der Mann in der Andropause: Starrsinn

Schönheit muss leiden

Es ist noch nicht zu spät

Der Mann in der Andropause: Androarbeit

Erleuchtung im Alltag

Kein Auge trocken

Nur Mut

Der Mann in der Andropause: Krank

Wie anfangen?

Wie anfangen?

Ich versuche es mal so:

Der Begriff »Boomer« macht schon seit geraumer Zeit besonders unter Jüngeren die Runde. Er ist die Sau, die noch zum x-ten Mal durchs Dorf getrieben wird, obwohl ihr längst die Zunge raushängt. Die ursprünglich wertfreie Bezeichnung für die Alterskohorte der hierzulande in den geburtenstarken Jahrgängen zwischen 1955 und 1969 Geborenen (»Baby-Boomer«) ist dabei mehr und mehr zu einem Synonym für »altes Arschloch« geworden.

Außer für die originären Arschlöcher ist die Beschäftigung mit dem potenziellen Arschloch in uns allen für jeden eine wichtige Erfahrung. So oft habe ich mich wie eines benommen, ohne wirklich eins zu sein. Dieser Widerspruch ist nicht gesund. Er verursacht existenzielle Zweifel und seelische Altlasten. Irgendetwas fühlt sich immer falsch an, doch ausschließlich nach den Regeln der Vernunft zu leben, wäre erst recht eine deprimierende Vorstellung.

Fast beneide ich Menschen, die sich wie Arschlöcher verhalten und zugleich echte Arschlöcher sind. Denn so leben sie in harmonischem Einklang: Minus mal minus gibt plus. Sie sind scheiße und dennoch oder sogar gerade deshalb mit sich absolut im Reinen. Das ist der lässige Groove des Bösen. Sie können Drogenboss, Chef der Bild-Zeitung oder Söldner sein – alles fühlt sich für sie richtig an. Die Welt gehört ihnen und mit ihr alle anderen Menschen und Tiere. Sie können damit machen, was sie wollen, und es ist in Ordnung, nur weil sie sind, wer sie sind. Und meistens sind es Männer und hier wiederum oft Boomer.

 

Ein Boomer zu sein, kehrt die Beweislast somit automatisch um. Das gilt auch für mich selbst. Denn ich benehme mich nun vielleicht nicht mehr so oft wie ein Arschloch, doch dafür bin ich jetzt per se eines – einfach nur, weil ich ein Boomer bin. Betrete ich irgendwo den Raum, ob analog oder virtuell, ist es für die Anwesenden, als schöbe sich ein klobiger Schatten vor die Sonne. Ehe ich den Mund öffne, wissen schon alle, was ich sagen werde. Ich bin grundsätzlich auf Bewährung unterwegs.

All das würde sich mit der Hypothek meines einschlägigen Verhaltens nun also wunderbar ausgleichen, gäbe es denn ein noch höheres und vor allem gerechteres Wesen als dasjenige, das den eh schon von uns Ausgebeuteten am anderen Ende der Welt obendrein noch die Hütten ins Meer fegt, sodass uns von dem Anblick daheim auf dem Fernsehsofa beinah der Lachsbagel im Hals stecken bleibt.

Aber so ein Wesen gibt es wohl nicht.

Oder vielleicht so?

Der Boomer gilt als unsexy und ungeschmeidig. Als technisch, moralisch, historisch abgehängt. Als an seiner Macht klebend, misogyn und notorisch heterosexuell, wenngleich nur noch in einer Art parodistischem Notbetrieb praktizierend. Der schwule Boomer, die Boomerin sind in der Regel nicht gemeint, obwohl eine altersbedingte Versteifung der nicht nur körperlichen Haltung auch bei ihnen oftmals nicht zu leugnen ist.

Der Prototyp des gemeinten Boomers ist peinlich, aber auch unfreiwillig komisch in seinem Strampeln, so etwas wie Würde und Relevanz zu bewahren. Gern möchte er in sämtlichen Lebensbereichen noch irgendwie mittendrin, ach was, weiterhin wie gewohnt ganz vorne mit dabei sein. Nun versucht man halt, über ihn zu lachen, so wie er Jahrtausende lang über andere gelacht hat. Das funktioniert nicht immer, weil es zumindest rudimentären Humor voraussetzt, und aggressiver Ageismus ist ja an sich noch kein Humor.

Er ist aber auch alt und hässlich! Also nicht alt und hässlich in einer ehrenwerten Dimension, die derart drüber ist, dass sie ihn schon wieder unangreifbar macht, sondern so ein schmerzhaftes Übergangs-alt-und-hässlich – der Apfel, an dem man schon die meisten Stellen rausschneiden muss, bevor man ihn zur Not noch essen kann. Eine Person darauf zu reduzieren, wäre normalerweise politisch unkorrekt, doch nicht in seinem Fall, denn schließlich hat er mit allem angefangen und noch immer den weißen (in diesem Fall der höchste) Gürtel in Diskriminierung inne. Da darf man das. Muss sogar, denn niemand besitzt mehr unsichtbare Privilegien als er.

Die soll er nun endlich fressen. Über die vergangenen zehntausend Jahre hat seinesgleichen alle anderen genervt. Eigentlich gehörten für das nächste Dekamillennium jetzt jene anderen ans Ruder. Frauen und so. Blöd nur, dass es für die Menschen auf diesem Planeten gar keine weiteren zehntausend Jahre mehr geben wird. Selbst dafür hat der Boomer vorgesorgt: Er hat die Umwelt zerstört, das Klima, die Gesellschaft und alles andere im Grunde auch. Er hat buchstäblich verbrannte Erde hinterlassen und die Brücken hinter sich gesprengt. Wie so ein Nazi. Wahrscheinlich ist der Boomer einfach nur ein Nazi. Nach ihm die Sintflut. Die Rechnung wird auf ewig unbeglichen bleiben.

Oder am Ende so:

Dass der heterosexuelle mittelalte weiße Mann ein Arsch ist, wissen wir nun also alle zur Genüge. Doch was treibt dieser Arsch denn überhaupt, wenn er nicht gerade unvorteilhaft altert oder catcalling und mansplaining durch die Wurstbuden zieht? Und schlägt tief unter diesem Berg aus faulendem Fleisch, Niedertracht und Starrsinn vielleicht doch noch irgendwo ein kleines, schwarzes Herz?

Um es kurz zu machen: Nein. Da ist gar nichts. Wo bei anderen das Herz sitzt, schwärt in ihm nur hartes Gestein. Denn zu all dem andern Übel kommt ja auch noch das Manspreading, das betreibt er schließlich obendrein, das macht alles nur noch schlimmer. Breitbeinig und raumgreifend sitzt er auf dem Weg zum Arzt in der U-Bahn. Er fährt nun jeden Tag zum Arzt, weil er glaubt, dass der ihm noch helfen kann. Kann er aber nicht. Gegen Älterwerden gibt es keine Medizin und gegen Verbohrtheit schon mal gar nicht. Das macht den Mann böse und traurig. Umso schlimmer, da heute noch nicht mal mehr das Manspreading funktioniert: Denn neben ihm sitzt ein junger Mann, der stärker ist. Der Ältere drückt und drückt, doch gegen den strammen Spagat des Jüngeren hat er keine Chance. Warum gilt der eigentlich nicht als Arsch?, fragt sich der Ältere wütend und verzweifelt.

Nun, auch diese Antwort ist ganz einfach. Der junge Mann ist jünger und sieht besser aus. Das Auge hasst halt mit. Und weil er jünger ist, denken die anständigen Leute, dass der vielleicht noch irgendwie die Kurve kriegt und später nicht so wird wie der Boomer. Wird er am Ende aber leider meistens doch.

Böse Menschen kennen viele Lieder

Es ist ein Uhr morgens. Von der Grünanlage neben dem Haus dröhnt elektronische Musik zu uns nach oben in den vierten Stock. Na gut, dann machen wir eben das Schlafzimmerfenster zu. Draußen ist es Sommer, drinnen ist es warm – wir bleiben trotzdem cool. Dit is eben unsa Ballin. Da steppt der Bär nach dem achten Bärenpils schon mal ein bisschen lauter, wa.

Halb zwei. Im Zimmer ist es heiß. Trotz geschlossenem Fenster ist es zu laut zum Schlafen. Inzwischen ertönt auch hinten auf der Oberbaumbrücke Musik. Unter den Arkaden dort hallt das ganz wunderbar, da bräuchte man eigentlich keine Verstärker. Mit fetzt allerdings noch mehr. Ich stülpe mir das Kissen wie einen Sturzhelm über den Kopf und stelle mir vor, wie ein Streifenwagen nach dem anderen stumm staunend die öffentlichen Lärmquellen passiert. Ruhestörung ist offenbar kein Offizialdelikt. Ruft niemand bei der Polizei an, unternehmen die auch nichts. Finde ich ja eigentlich gut. Schließlich sind wir gar nicht die Bösen. Also bürgerliche Edelwaldschrate, die, sobald nach 22 Uhr auch nur das zarte Stimmchen einer nachtwandernden Elfe ans empfindliche Ohr dringt, nach dem SEK brüllen. Die Kneipentöter, die Clubkiller, die schwarz-grünen Dorfdeppen vom Helmwitzplatz. Von mir aus können die fröhlichen jungen Leute ja draußen bis, sagen wir, Mitternacht rumlärmen. Selbst danach würde ich nicht einfach die Bullen rufen, wie so ein Spießer, für den die Krachmacher uns dennoch halten. Schlafen kann man ihrer Meinung nach noch lang genug, wenn man entweder tot ist oder so alt wie wir – was für die ja sowieso dasselbe ist. Und wer möchte sich schon von Toten, toten Spießern noch dazu, vorschreiben lassen, wo und zu welcher Nachtstunde er Pauke, Signalhorn oder Stalinorgel aufstellt, um frohgemut zu musizieren. Natürlich rufen wir nicht die Bullen. Da sind Petze, Blockwart, Denunziant gefordert. Aber doch nicht wir. Eine Frage muss trotz alledem gestattet sein: Warum kann es immer nur das eine oder andere Extrem geben?

Zwei Uhr. Am Eingang zur Hochbahn spielt jetzt eine Rockband. Die Gitarre jault, der Bass puckert, das Schlagzeug scheppert. Dazu singt – gemäß meiner aus dem Kontext getroffenen Ferndiagnose – ein Arschloch. Das Arschloch singt laut. Eine hörbar wachsende Menge Schaulustiger jubelt dem Arschloch zu. Das Inferno tobt nun von allen Seiten. Mir wird klar, warum hier keiner die Bullen ruft. Mitten im Tsunami schreit auch niemand nach der Badeaufsicht.

Halb drei. Betrunkene grölen und werfen mit Flaschen, Glas splittert. Tatütata. Vier Live-Acts werben gleichzeitig um die Aufmerksamkeit eines entfesselten Mobs. Lautes Lachen, Hilferufe und lautes Lachen über Hilferufe. Tatütata. Irgendwer göbelt mit dem Sound eines gepfählten Orks in einen Hauseingang, wahrscheinlich unseren. Wir sind allein mit unserer Verzweiflung und unserer Schlaflosigkeit. Das kann man ja alles niemandem erzählen. Da kämen eh bloß die üblichen Totschlagsprüche wie »Na, wer keinen Lärm aushält, darf eben nicht in der Stadt wohnen« oder »Zieh doch nach Brandenburg zu deinen Nazifreunden«. Was man eben so sagt, wenn man jung ist. Und dumm. Und rücksichtslos und gemein, so gemein, brunzdumm und hundsgemein. Bin ich so nassgeschwitzt, oder sind das alles meine Tränen?

Drei Uhr. Wir stehen todmüde auf dem Balkon und blicken ungläubig nach unten auf das brodelnde Meer aus zugedröhnten Menschenfeinden. Irres Lachen mischt sich in unser Weinen, als uns die absurdeste Redensart der Welt einfällt: »Böse Menschen kennen keine Lieder.« Denn in Wahrheit kennt keine Personengruppe auch nur annähernd so viele Lieder wie die bösen Menschen. Kaiser Nero, Horst Wessel, Dieter Bohlen. Die Leute denken ja immer gern, klar, Krieg, Folter, Mieterhöhungen – so in etwa sehen sie aus, die klassischen Kernkompetenzen des bösen Menschen –, aber auf die nächstliegende kommen die meisten mal wieder nicht: Lieder.

Es ist ein unendliches Repertoire; die meisten Texte handeln von Ruhestörung, Rücksichtslosigkeit und dem Wahnsinn lächerlicher Liebesprojektionen. Böse Menschen haben das Lied quasi erfunden. Den Trommelwirbel zur Hinrichtung. Den Takt für die Galeerensklaven. Die Marschmusik. Auf den Schlachtfeldern der Geschichte trommelten eigens aufgestellte Musikkompanien den bewaffneten Kollegen den Rhythmus zum Sterben.

Halb vier. Jemand muss nun doch die Polizei gerufen haben. Eine Wanne hält an der Kreuzung, meine lieben Freunde, die wackeren Beamten – formerly fälschlich known as »Drecksbullen« –, steigen aus. Sie begeben sich zur U-Bahn-Combo, man sieht Taschenlampen leuchten, kurz verstummt die Musik. Dann gehen sie zurück auf die andere Straßenseite, wo mittlerweile die Wanne geparkt steht. Rotzfrech fängt die Band sofort wieder an zu spielen. Na, ich hoffe, die Wachtmeister holen bloß schnell ihre Waffen.

Als sie zurückkehren, bin ich enttäuscht. Soweit ich das vom Balkon aus erkennen kann, läuft da unten nur so ein windelweiches Deeskalationsgelaber. Wäre ich der Einsatzleiter, würde ich den Knüppel aber mal im 1/32-Takt tanzen lassen und anschließend den Brei großzügig mit Pfefferspray nachwürzen. Das machen sie doch schließlich schon bei friedlichen Demos, am helllichten Tag und ohne Musik. Warum ist das ausgerechnet hier zu viel verlangt, wo endlich mal ein guter Grund vorliegt? Ich würde sogar noch weiter gehen. Erst eine Salve über die Köpfe hinweg – die hört man auch gut – als allerletzten Warnschuss. Und wenn dann immer noch nicht Ruhe ist: die Bande einfach niedermähen. Die Köpfe der Rädelsführer abschlagen und überall in der Umgebung oben auf Ampeln und Verkehrsschilder stecken, zur Abschreckung. Die Instrumente verbrennen, das Schlagzeug in winzig kleine Teile schreddern. Und natürlich auf die Reste draufscheißen, auf alles und alle gründlich draufscheißen, gähn, bin ich müde.

Ein Buch mit leeren Seiten

Jedes Mal, wenn Radfahrer auf dem Bürgersteig für meinen Geschmack zu dicht an mir vorbeifahren, bekommen sie von mir verlässlich ein in die Seite gebrummeltes »Arschloch« mit auf den Weg. Es ist wie ein Reflex.

Und so habe ich den bewährten Fluch schon auf den Lippen, als sich eine Frau mit einem sperrigen Lasten-Bike, in dem offenbar ihr ganzer Wurf verstaut ist, zwischen mir und einem Baugerüst hindurchquetschen möchte. Doch stattdessen lasse ich sie, wohl aus einer instinktiven Eingebung heraus, stumm passieren, ja trete sogar noch freiwillig ein Stück beiseite. Erst dann erkenne ich in ihr die Freundin einer Kollegin. Ein kurzer Gruß, ein schlampig aufgesetztes Lächeln und weiter. Sie ahnt nicht, welchem Schimpf sie gerade knapp entgangen ist. Puh.

Umso mehr, da ich in solchen Fällen zu gegenderten Beleidigungen neige. Als eine mir flüchtig bekannte Radiomoderatorin mich mit ihrem Rad mal ohne hinzugucken übel schnitt, entfuhr mir automatisch ein »Och nö, Häschen«. Sie drehte sich kurz um und zwitscherte: »Sorry.« Ich lächelte so säuerlich wie falsch und hegte die begründete Hoffnung, dass sie mich nicht gehört hatte. Andernfalls hätte sie sich ja wohl kaum entschuldigt, weil dann wären wir ja quitt gewesen.

Man kann das Kind ruhig beim Namen nennen: Das ist nicht korrekt. Ich weiß das natürlich. Ich bin kein Heiliger, auch wenn die meisten das von mir denken, das ist mir schon klar. Für sie bin ich immer nur Ikone, silbergraues Sexsymbol, Liebling der Massen. Die enttäusche ich nun natürlich, doch ich will hier wenigstens dieses eine Mal ehrlich sein.

Natürlich niemals das F-Wort. Gegenüber Frauen schon mal prinzipiell nicht, und ohnehin wäre das, am Anlass gemessen, ein gewaltiger Overkill. Aber so ein halb ironisches »Häschen« kann mir schon mal entschlüpfen. Das fände ich normalerweise auch nicht so ganz die feine Art, doch genau deshalb mache ich das ja. Wie Jod brennt es erst, bevor es heilt und nützt. Sie merken sich das auf diese Weise Erlernte besser, und ich kann die alte Sau rauslassen – eine klassische Win-win-Situation.

 

Vierzigjährigen rufe ich im Wilden Westen des Straßenverkehrs hingegen gerne mal ein »Ach nee, Muttchen« zu, im gespielt gutmütigen Tonfall des in der Routine bitter gewordenen Altenpflegers, denn obwohl oder eben gerade weil auch die mittlerweile fast schon wieder meine Töchter sein könnten, verletzt es in seiner boshaften Anmaßung ganz besonders, und das ist schließlich der Zweck. So beleidigt das tapfere Schneiderlein: Sexismus, Ageismus und ein bisschen Lookismus auf einen Streich – ein eleganter, ein großartiger Kniff, wie ich meine. Besser noch als das F-Wort, denn oft sticht der Degen tiefer als der Säbel. Das nächste Mal fahren die Ziegen bestimmt rücksichtsvoller.

Heute beglückwünsche ich mich allerdings zu der zufälligen Ausnahmeentscheidung, die Frau nicht angeraunzt, sondern ihr in einem unerklärlichen Anflug von Milde im Gegenteil sogar noch Platz gemacht zu haben. Und das, obwohl ich in dem Moment noch nicht mal ihr Gesicht gesehen hatte.

Was für ein Glück! Denn andernfalls hätte sich das doch nur rumgesprochen: »Neulich hat mich so ein Typ am Hermannplatz vollkommen grundlos mit ›blöde Sau‹ beschimpft. Und weißt du, wer das war? Dein komischer Schreibkumpel da, dieser Olli oder so, der hat mich wohl erst nicht erkannt. Und dann aber so rumgenuschelt von wegen ›nicht so gemeint‹ und so. Also ich fand den ja schon immer ganz schön creepy.«

Nein, nicht auszudenken. Einmal mehr stelle ich fest, wie wenig ich möchte, dass die Leute herausbekommen, wie ich wirklich bin. Das ist deswegen merkwürdig, da man mir meistens recht gut anmerkt, wie es in mir aussieht: ob ich verlegen, wütend, ungeduldig, gelangweilt oder aufgeregt bin. Nur wenn ich mich freue, was ohnehin selten geschieht, weiß ich das bestens zu verbergen.

Ansonsten aber bin ich wie ein offenes Buch, wenngleich mit leeren Seiten. Wenn ich es mir recht überlege, bin ich außerdem ein reichlich widerwärtiger Mensch. Doch, Hand aufs Herz, wer ist das eigentlich nicht?