Loe raamatut: «Kinder- und Jugendbuchverlage»
BRAMANN Basics – buch & medien
Band 6
Hg. von Klaus-W. Bramann und Anke Vogel
Ulrich Störiko-Blume
Kinder- und Jugendbuchverlage
Macher, Märkte, Medien
Für Monika
Alle Titel der Reihe werden in der Deutschen Nationalbibliografie angezeigt.
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet nach Erscheinen detaillierte bibliografische Informationen unter https://www.dnb.de/
© 2021 Bramann Verlag, Frankfurt am Main
Alle Rechte vorbehalten
Herstellung
Margarete Bramann, Frankfurt am Main
Druck und Bindung
Druckerei TZ-Verlag & Print GmbH
Printed in Germany 2021
ISBN (Print)978-3-95903-015-1
ISBN (EPUB)978-3-95903-108-0
Mit herzlichem Dank an
Christian Stottele, Wolfgang Hartmann, Christian Warweg, Peter Usborne, Gert Frederking, Volker Neumann, Brigitte Obermayer, Karl Heinz Pütz, Craig Virden, Renate Raecke, Hans-Joachim Gelberg, Andreas Meyer, Edite Kroll, Michael Krüger und viele weitere kluge Buch- und Verlagsmenschen.
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
1Einführung
1.1Verlegen heißt: Büchern Chancen geben
1.2Kinder brauchen Bücher
1.3Studien zum Leseverhalten
1.4Vom Wert des Papier-Buchs
1.5Das Kinder- und Jugendbuch zwischen Literatur, Pädagogik, Unterhaltungswirtschaft und Buchhandel
1.6Das Kinder- und Jugendbuch als zweitgrößte Teilbranche des Buchmarkts
2Typen von Kinder- und Jugendbuchverlagen und ihre Marktbedeutung
2.1Zahl und Struktur der Kinder- und Jugendbuchverlage
2.2Der Vertrieb: Nadelöhr oder Türöffner?
2.3Aufmerksamkeit gewinnen
2.4Alternative Verlagsformen – Ergänzung, Erweiterung oder Überflutung des Marktes?
3Wie ein Programm entsteht
3.1Verlag, Imprint, Marke
3.2Programm-Findung
3.3Das Verlags-Portfolio
3.4›Make or Buy‹ – eigene Buchrechte schaffen oder Lizenzen einkaufen?
3.5Spitzentitel, Midlist, Pressetitel
3.6Klassiker, Bestseller, Flops
3.7Die Backlist
4Macher und ihre Motive
4.1Menschen haben Motive für ihr Tun
4.2Die Kreativen: Autoren, Übersetzer, Illustratoren, Lektorinnen, Assistentinnen, Gestalter
4.3Die Kommunikativen: Marketing-Experten, Pressereferenten, Event- und Veranstaltungsmanager, Werbefachleute, Internet-Spezialisten
4.4Die Kommerziellen: Vertriebler im Innen- und Außendienst, Key-Accounter
4.5Die Kaufmännischen: Personaler, Buchhalter, Vertragsexperten, Datentechniker, Controller
4.6›Kindernah‹ – wie lässt sich dieser Anspruch erfüllen?
5Die Beziehung Autor/Verlag
5.1Der literarische Autor
5.2Der Sachbuch-Autor
5.3Das rechtliche Verhältnis Autor/Verlag
5.4Die Rolle der Agenturen
5.5Der Autor als Promoter seines Werkes
6Das Zusammenwirken der Verlagsfunktionen
6.1Routine und Innovation
6.2Planung versus Risiko und Improvisation
6.3Buchkalkulation
6.4Anforderungen an Mitarbeiter in Kinder- und Jugendbuchverlagen
6.5Freie Mitarbeiter
6.6Frauen und Männer in Kinder- und Jugendbuchverlagen
7Ausblick
Anhang
#Spotlights
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Sachregister
Verlags- und Namensregister
Vorwort der Herausgeber
Der Kinder- und Jugendbuchmarkt nimmt den zweiten Rang im Bereich der Publikumsverlage ein. Damit hat dieses Marktsegment nicht nur kulturelle Bedeutung, sondern besitzt auch ökonomische Relevanz. Seit Jahrzehnten verzeichnet man steigende Umsätze und der Marktanteil des Kinder- und Jugendbuchs liegt aktuell bei rund 17 % des Gesamtumsatzes der Branche. Doch nicht Daten stehen im Vordergrund dieses Titels, sondern Menschen, die mit ihrer Individualität das Marktgeschehen prägen: Autorinnen und Autoren, Programmleiter, Lektorinnen, Übersetzerinnen und freie Mitarbeiter, um nur einige von ihnen zu nennen.
Aus pragmatischen Gründen werden im Folgenden keine *Sternchen, Versal-Is oder andere Signale eingesetzt, die auf geschlechtliche Diversität hinweisen. Da wiederholt Berufsbezeichnungen genannt werden, würden solche Markierungen die Aussagekraft nicht erhöhen. Der Autor ist sich bewusst, dass in allen Berufsrollen Menschen beiderlei Geschlechts oder mit unterschiedlichen geschlechtlichen Orientierungen arbeiten. Dies wird auch von den Herausgebern respektiert und ausdrücklich begrüßt. Ferner werden im Fließtext durchgängig die Abkürzungen KJB sowie KJBV für ›Kinder- und Jugendbuch‹ bzw. ›Kinder- und Jugendbuchverlag‹ verwendet, um ein unnötiges Aufblähen des Textkorpus zu vermeiden.
Ulrich Störiko-Blume betreibt seit 2015 die ProjektAgentur, die Manuskripte an Kinder- und Jugendbuchverlage vermittelt. Seine Erfahrungen hat er als Lektor und Verlagsleiter in bekannten Verlagen sowie in einschlägigen Verbänden der Branche gesammelt. Er hält Vorträge, schreibt Artikel in Fachzeitschriften und wirkt als Dozent am Zentrum für Buchwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München.
April 2021 | Klaus-W. Bramann und Anke Vogel |
1
Einführung
Die Formel 6 x M besagt: Die Buchbranche ist ein von Menschen betriebenes komplexes Aktionsfeld; in ihm arbeiten Macher mit bestimmten Motiven, die Medien produzieren; sie haben Mechanismen entwickelt, mit denen sie die Märkte bedienen.
Ein spezielles Marktsegment bilden die Kinder- und Jugendbücher. Hier nehmen Schriftsteller und Illustratoren ihre potenziellen Leser auf eine besondere Weise ernst; hier (er)finden sie für Kinder und Jugendliche Geschichten; hier bemühen sie sich, ihnen die Welt zu erklären; dabei gehen sie sehr bewusst mit der Sprache um; gemeinsam mit ihren Verlagen suchen sie die adäquate Buchform.
Kinder- und Jugendbuchverlage sind wie Katalysatoren: Sie verwandeln die Schöpfung der Autoren vom Manuskript-Stadium in fertige Bücher. Sie betreuen die Interaktion zwischen Autoren, die Kindern und Jugendlichen etwas zu sagen haben, und den jungen Lesern, die mehr über die Welt wissen wollen, als sie selbst jemals werden erfahren können. Verlage bringen ›gute‹ Geschichten ›in Form‹ – das ist ihre genuine Leistung. Mit ›gut‹ ist hier gemeint: der Stoff kommt an; die Figuren bewegen; die Verbindung von Inhalt und Form fasziniert; und man ist bereit, hierfür Geld auszugeben.
Deutschland hat den besten Buchhandel der Welt – das soll kein Eigenlob sein, sondern so bestätigen es immer wieder Kollegen aus anderen Ländern. Das Netz der Buchhandlungen ist so dicht wie nirgends sonst. Praktisch jede Buchhandlung liefert fast jedes Buch über Nacht, und das überall zum festgelegten #gebundenen Ladenpreis. In allen Wirtschaftskrisen der Vergangenheit verlief die Buchhandels-Konjunktur besser als die allgemeine Konjunktur, auch besser als die des Einzelhandels mit Konsumgütern, zu denen Bücher statistisch zählen. Das hat sich auch während der Lockdown-Zeit in der Corona-Pandemie 2020/2021 gezeigt, als der Umsatzeinbruch in Grenzen gehalten werden konnte, wobei das KJB mit knapp 5 % ein beachtliches Wachstum verzeichnete. Dafür gesorgt hat aber nicht die Logistik von #Amazon, sondern der Einfallsreichtum und das erhebliche Zusatz-Engagement vieler Buchhandlungen. Die Buchbranche steht relativ gut da, u.a. auch deshalb, weil die Distribution analoger Bücher hocheffizient organisiert ist, vergleichbar nur der Medikamenten-Lieferung an die Apotheken. Der Wettbewerb sorgt dafür, dass an der Kostenoptimierung der Prozesse ständig gearbeitet wird.
1.1
Verlegen heißt: Büchern Chancen geben
Was heißt Verlegen, und mit welcher Zielsetzung werden Verlage, insbesondere Kinder- und Jugendbuchverlage (im Folgenden KJBV) betrieben? Die Wege und Methoden, die programmatischen und die unternehmerischen Ziele mögen sich noch so sehr unterscheiden – die Kernaufgabe lautet: Finde Autoren, lass sie Geschichten schreiben und bring diese als Bücher zu den Lesern! Über die Existenzberechtigung eines Verlages entscheidet in unserem System zum Glück keine Behörde oder Kommission, sondern der Markt. Der Markt ist kein ideologisches Konstrukt, erst recht kein gottähnliches Wesen, und man sollte ihn keinesfalls idealisieren – so als ob er immer nur Gutes hervorbrächte. Der Markt hat durchaus negative Seiten. Auf den #Bestsellerlisten ganz oben stehen jede Menge Bücher, über deren Qualität man erheblich unterschiedlicher Meinung sein kann. #Filialisten zwingen selbstständige Buchhandlungen zur Aufgabe oder zum Verkauf ihres Geschäfts. Große Verlage schlucken kleine. Bücher, die gewisse Drehzahlen nicht erreichen, werden gnadenlos remittiert und landen entweder auf dem Ramschtisch oder im Schredder. Viele Autoren können von den Honoraren aus dem Verkauf ihrer Bücher nicht leben.
Aber auf ebendiesem Markt werden auch Bücher von literarischen Autoren gekauft, versetzen sich lesende Kinder in das Leben von Gleichaltrigen auf der Flucht aus ihrem vom Krieg erschütterten Heimatland, werden Augen und Sinne geöffnet für die Schönheit und Verletzlichkeit unseres Planeten, wird gelacht und geweint. Verlage sind nicht zum Verhindern von Publikationen da – so wird das ja oft von abgelehnten Manuskripteinsendern dargestellt. Verlage wählen aus, in der Regel aus guten Gründen. Und die Buchhandlungen wiederum stellen aus deren Programmen ihr – ebenfalls ausgewähltes – Sortiment zusammen.
Ein Markt lässt sich verstehen als ein Ort, an dem Angebot und Nachfrage aufeinandertreffen. »Der Markt liest nicht« hat der frühere Hanser-Verleger Michael Krüger einmal zutreffend formuliert. Hans-Joachim Gelberg, Gründer und langjähriger Leiter von Beltz & Gelberg, hat sinngemäß gesagt: Bücher werden nicht geschrieben, weil es einen Markt gibt, sondern weil Autoren etwas mitzuteilen haben.
Markt ist, wo das Angebot der Schreibwilligen auf die Nachfrage der Lesewilligen trifft. Jeder kann schreiben, was er will. Jeder kann drucken lassen, was er will. Jeder kann heute als Self-Publisher (siehe Kap. 2.4) ins Netz stellen, was er will. Zum Glück haben wir diese für ein demokratisches Gemeinwesen konstitutive Freiheit (sofern dabei die Gesetze respektiert werden). Aber nur, weil das Verbreiten von Büchern so einfach geworden ist, bedeutet das noch lange nicht, dass man die Veröffentlichung jeder beliebigen Schrift durch jeden beliebigen Autor begrüßt.
Redaktionen, Verlage und Lektorate haben eine Filterfunktion; sie prüfen und wählen Autoren und Beiträge aus, […] und entscheiden nach kognitiv überprüfbaren Geltungsansprüchen über die Veröffentlichung. (Habermas 2020, 106)
Früher wie heute verlegen Verlage Bücher nicht einfach deshalb, weil ein Verfasser das so will oder gar dafür bezahlt. Niemand jenseits seines persönlichen Umfelds wird solche nur privat motivierten Schriften lesen wollen; das ändert sich auch nicht deshalb, weil sie im Internet im Prinzip jedermann leicht zugänglich zu machen sind. Eine Aufgabe von Verlagen ist es, den geprüften und lektorierten Büchern ihre Chance zu verschaffen – und die Leserschaft (und den Buchhandel) vor chancenlosen, schlecht geschriebenen, abseitigen und überflüssigen Büchern zu bewahren.
Es gibt keine universalen Rezepte, keine verbindlichen Regeln oder gar Vorschriften, wie ein Verlag zu führen ist. Der Stil eines Verlages lässt sich daran erkennen, wie er mit dem ewigen Widerspruch von Kunst und Kommerz umgeht. Es droht ein Übergewicht des kommerziellen Denkens, wenn Lektorate immer mehr zum Produktmanagement mutieren; wenn Verkaufszahlen das eigene Urteil ersetzen; wenn gefordert wird, #Kalkulationen statt Buchkonzepte zu optimieren. Und man wird auf Dauer nicht bestehen, wenn man durch zu aufwändige interne Prozesse seine Kosten nicht in den Griff bekommt oder aufgrund von Marktferne Bücher anbietet, die sich nicht in ausreichenden Stückzahlen verkaufen.
Wenn ein Verlag sich für eine Buchidee entschieden hat, übernimmt er die Kosten, diese in Form zu bringen und zu vervielfältigen. Dafür geht er ein – häufig erhebliches – Risiko ein. Oft genug geht es schief. Man riskiert nur aus wenigen Gründen etwas: aus Ahnungslosigkeit, aus Übermut, aus Leidenschaft oder aus Kalkül. Gute Verlage werden in einer Kombination von Leidenschaft und Kalkül betrieben.
Auch KJBV haben einen Doppelcharakter als Wirtschaftsunternehmen und als Kulturträger. Unter Verwendung dieser einfachen Bipolarität kann man die unterschiedlichen Verlage mal eher auf der kulturellen, mal eher auf der kommerziellen Seite angesiedelt sehen. Was es allerdings nicht gibt, sind einbeinige Extreme. Professionell verlegen heißt also genauer: ausgewählten Büchern Chancen verschaffen.
1.2
Kinder brauchen Bücher
Diese These, die sich auch als Forderung verstehen lässt, ist der Titel einer berühmten Studie von Bruno Bettelheim. Sie trägt den Untertitel Lesen lernen durch Faszination und drückt die gleiche Grundüberzeugung aus, in der auch das vorliegende Buch geschrieben wurde. Bettelheims Werk wurde nach jahrelangen Studien des Psychologen und seiner Mitarbeiter in US-amerikanischen Schulen geschrieben. Zur Zeit dieser Untersuchungen war die einzige Form, Bücher anzuschauen oder zu lesen, das auf Papier gedruckte Buch. Um Geschichten zu lesen, musste man Bücher lesen. Deshalb konzentrieren sich Bettelheims Überlegungen darauf:
Erlebt es [das Kind, Erg. d. Verfassers] das Lesen als etwas Interessantes, Wertvolles und Erfreuliches, so wird ihm die Mühe, die das Lesen lernen kostet, im Vergleich zu den Vorteilen, die es einbringt, kein zu hoher Preis sein. Es ist ziemlich einfach, dem Kind diesen Eindruck zu vermitteln, falls man dabei von seinem Elternhaus unterstützt wird. (Bettelheim 1982, 14)
Die Bedeutung des Lesen-Könnens
Was ist Lesen? Man tut gut daran, sich die einmalige und unersetzliche Bedeutung des Lesens immer wieder klarzumachen. Durch das Entziffern der abstrakten Codes, die wir Buchstaben nennen, entstehen beim Leser Vorstellungen, sinnhafte Bilder, Gedanken, Zusammenhänge, Abläufe, Emotionen. Ein komponiertes, gestaltetes Ganzes solcher Codes erzeugt Eindrücke in unserem Innern, die sich z.B. zu einer Geschichte zusammensetzen.
Im Gegensatz zu seinen Komponenten, wie Sehen und Sprechen, die genetisch organisiert sind, existiert für das Lesen kein unmittelbares genetisches Programm, das es an zukünftige Generationen weitergibt. […] Dies ist ein Grund, warum sich das Lesen – wie jede kulturelle Erfindung – von anderen Prozessen unterscheidet und warum es unseren Kindern nicht ganz von selbst in den Schoß fällt. (Wolf 2009, 13)
Bücher kann man nicht passiv in sich aufnehmen – Lesen ist ein aktiver Prozess, der die gesamte Aufmerksamkeit des Lesenden erfordert. Wenn man das einmal in seinem Gehirn zu synthetisieren gelernt hat, steht einem eine Welt offen. So wie ein Radfahrer entscheiden kann, wohin und wie schnell er fahren möchte, kann der Leser entscheiden, was und in welchen Portionen er lesen will. Die ganze Welt (soweit sie aufgeschrieben und publiziert wurde), wird lesbar; Gedanken, Erfahrungen, Gefühle und eben Geschichten werden auf eine ganz persönliche Rezeptionsweise verfügbar.
»Das Verb lesen duldet keinen Imperativ. Eine Abneigung, die es mit ein paar anderen teilt: dem Verb lieben, dem Verb träumen.«
Daniel Pennac, Wie ein Roman
Lesen-Können ermöglicht Kindern den Zugang zu erheblichen Teilen der Welt, die vor dem Erwerb dieser Fähigkeit den Erwachsenen vorbehalten waren. Lesen ist ein Universalschlüssel zum Entziffern von allem, das schriftlich vorliegt, nicht nur von Büchern. Wenn dieses Tor einmal aufgeschlossen ist, eröffnen sich grenzenlose Räume des Lesbaren.
Der Prozess dahin ist allerdings mühsam, es ist wie alles wirkliche Lernen mit Anstrengung verbunden – aber auf die Mühe folgt auch die Belohnung.
Haben die Kinder erst einmal alle Buchstaben und Entzifferungsregeln gelernt, das verborgene Leben der Wörter erfasst und die verschiedenen Verständnisprozesse ins Rollen gebracht, kann die Erfahrung, dass das Lesen Gefühle hervorrufen kann, in ihnen eine lebenslange, leidenschaftliche Liebe zum Lesen wecken und sie zu kompetenten, verstehenden Lesern machen. (Wolf 2009, 158)
Somit kommt die Entwicklungspsychologin und Literaturwissenschaftlerin Maryanne Wolf zum gleichen Befund wie Bruno Bettelheim ein halbes Jahrhundert zuvor.
Die allermeisten Kinder erlernen in unserer Gesellschaft die Technik des Lesens. Wenn sie endlich lesen können, erfüllt es die Kinder in der Regel mit einem ähnlichen Glücksgefühl, wie wenn sie endlich Fahrrad fahren oder schwimmen können. Wenn es jedoch versäumt wird, bei einem Kind diese Leistung mit Glücks-Empfindungen, auch ›Flow‹ genannt, zu verbinden, wenn Freude am Lesen nicht erfahren wird, ist die Chance oft vertan. Wer als Kind nicht gern und freiwillig liest, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsener nicht zum privaten Leser. Dazu meint Alberto Manguel, bekannt geworden durch sein Werk Eine Geschichte des Lesens in einem Interview:
Ich glaube, es hilft, Kindern zu zeigen, wie viel Freude man selbst an Büchern hat. Aber man kann sie nicht zwingen, sich zu verlieben. (Manguel 2020)
Leselust›Leselust‹ ist ein schöner Begriff für intensiv empfundenen Umgang mit Büchern. Bilderbücher ermöglichen das schon bei ganz jungen Kindern, auch vorgelesene Geschichten, dann Kinderbücher, Jugendbücher sowie später die allgemeine Literatur. Lesen ist ein intimer Vorgang (ich bin mit dir, meinem Buch, allein; du bist nur für mich da; wir beide verstehen uns). Lesen geschieht so langsam, so schnell, so oft, wie ich will. Ein gutes Buch ist wie ein guter (Gesprächs-)Partner: verständnisvoll, aber vor allem macht er einen auf etwas aufmerksam, das man selbst nicht gekannt oder so nicht gesehen hat. Entrücktheit, Versunkensein, rote Wangen, Gleichgültigkeit gegenüber den Erfordernissen des Alltags – all das gehört zur Leselust bei Kindern genauso wie bei Erwachsenen.
Wenn das obligatorische Lesenlernen in der Schule nicht durch das freiwillige Anschauen, Vorlesen und Lesen von Büchern zu Hause ergänzt wird, stellt sich das Lesebedürfnis nicht ein. Dieser Prozess ist – bei allen Unterschieden – dem Sprechenlernen vergleichbar: Wenn ein Kind in einer bestimmten Phase nicht mit dem Sprechen beginnt (was aus ganz verschiedenen Ursachen vorkommen kann), wird es keinen normalen Sprachaufbau durchlaufen.
LesefrustDas Gegenteil von Lust und Liebe ist nicht nur Hass, sondern auch Gleichgültigkeit; der Feind der (roten) Leselust ist nicht einfach der (schwarze) Lesefrust, sondern das (graue) Desinteresse. Lesefrust kann sich einstellen bei einem Buch, das einem nicht gefällt: wegen des Themas, der Protagonisten, der Erzählweise etc. Wie ein abstraktes Gemälde oder ein eigenartiges Musikstück kann man ein Buch als unverständlich und unnahbar empfinden. Man ärgert sich, man ist abgestoßen. Als erfahrener Kunstbetrachter, Musikhörer und Leser wendet man sich dann anderen Künstlern, Bildern, Musikern bzw. anderen Autoren und Büchern zu. Wer allerdings ganz junge, unerfahrene Leser mit Büchern konfrontiert, die sie nicht zugleich fesseln und entfesseln, wird den schwarzen, aktivablehnenden Lesefrust ganz schnell in ein graues, voreingenommenes Desinteresse umwandeln, etwa Haltungen der Art ›Bücher sind langweilig, schwer zu verstehen und haben nichts mit mir zu tun‹.
Diese Art von Lesefrust ist gefährlich, wenn sie sich bei Kindern einstellt, die Leseglück nie erfahren haben. In jeder individuellen Bildungsgeschichte gibt es Zeitfenster für bestimmte Entwicklungsschritte. Wenn diese Fenster nicht innerhalb eines gewissen Zeitraums aufgestoßen wurden, bleiben sie meistens für immer verschlossen – oder können später nur mit einem gewaltigen Mehraufwand an Energie, Geschick oder Motivation noch geöffnet werden.
Lesen fürs LebenDer Erwerb der Lesefähigkeit wirkt sich also nicht nur auf die Kinderzeit aus, sondern auf das gesamte spätere Leben. Es lassen sich verschiedene Formen des Lesens unterscheiden:
• Lesen als elementare zivilisatorische FähigkeitLesen ist ein obligatorisches Kernelement des Ausbildungsauftrags der Schule im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht.
• Lesen, um sich in der Welt zurechtzufindenHinweisschilder, Gebrauchsanleitungen und schriftliche Mitteilungen liefern notwendige Informationen.
• Lesen, um Rechte und Pflichten wahrnehmen zu könnenMan muss Verträge lesen, um sie unterschreiben zu können.
• Lesen als Voraussetzung für das SchreibenWer sich schriftlich mitteilen will, muss schreiben können – das wiederum ist nicht möglich ohne Lesefähigkeit.
• Lesen zum Erwerb von WissenFachliche, berufliche und wissenschaftliche Qualifizierung kann nicht ohne Lesefähigkeit erreicht werden.
• Lesen als Aneignung von KulturEin wichtiger Teil unseres kulturellen Erbes, des Bildungskanons, der Gesetze und des gegenwärtigen Kulturschaffens liegt in geschriebener Form vor und entsteht weiterhin auf schriftlichem Wege.
• Lesen als persönliche BereicherungWer Lesen nicht nur als Pflicht erfährt, dem erschließt sich ein Universum von Möglichkeiten individueller Leseerfahrung.
• Lesen als UnterhaltungLesen kann zur Entspannung, zum ›Zeitvertreib‹, als Konsumvergnügen, als reiner Spaß genossen werden.
Welche Art zu lesen der erwachsene Mensch benötigt oder bevorzugt, bleibt ihm überlassen. Aber es ist nicht egal, ob, wann und mit welcher Motivation Kinder lesen lernen. Zugespitzt: Wenn Kinder nicht gerne lesen, werden sie es schwerhaben, in einer komplexen Welt mitzudenken. Texte leben vom Wort, dem Anfang und Element alles Denkens.
Lesen und Verstehen Oft werden diese Überlegungen, Anstrengungen und Aktivitäten unter dem Begriff #Leseförderung zusammengefasst. Anlässlich der Preisverleihungen der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur hat der Lyriker, Autor und Übersetzer Uwe-Michael Gutzschhahn im Gespräch mit der Akademie-Präsidentin Claudia Maria Pecher im November 2020 den schönen Satz geprägt:
Die beste Leseförderung ist Leseerfahrung. (Gutzschhahn 2020)
Bei zu vielen Kindern sind Lesefähigkeit und Leseverständnis zu schwach ausgebildet, von Leselust ganz zu schweigen. Das kann individuelle und milieubedingte Ursachen haben. Um die Defizite auszugleichen und nicht größer werden zu lassen, existieren zahlreiche Initiativen zur Leseförderung. Hinter diesem hölzernen, stets ein wenig betulich klingenden Begriff verbirgt sich tatsächlich ein großes Thema unserer Gesellschaft. Klarer, als es die Autorin Kirsten Boie mit einigen weiteren Erstunterzeichnern am 15.08.2018 formuliert hat, kann man die Wichtigkeit des Lesens kaum auf den Punkt bringen.
Auf der Website www.change.org kann man zusehen, wie sich die Zahl der Unterschriften dem Ziel 150.000 nähert. Die Resonanz auf diese von zahlreichen bekannten Politikern, Autoren, Bildungsforschern und anderen Interessierten erstunterzeichnete Petition war erheblich. Dennoch musste Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des #Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, ein gutes Jahr seit der Übergabe der Hamburger Erklärung an die Vertreter der Politik feststellen, dass nichts passiert sei: »Es ist höchste Zeit für einen Lesepakt, bei dem Politik, Bildungsinstitutionen sowie breite Teile der Zivilgesellschaft Hand in Hand arbeiten.« (Börsenblatt vom 03.12.2019). Um diesem Ziel einen Schritt näherzukommen, haben Börsenverein und Stiftung Lesen am 03.03.2021 erstmalig einen (digitalen) Nationalen Lese-Summit abgehalten. 150 Organisationen bis hin zum Bundesministerium für Bildung und Forschung wollen gemeinsam dem Lesen größere Sichtbarkeit verleihen. Was dabei über die bekannten ›Sonntagsreden‹ hinaus konkret am Einsatz für das Lesen verbessert wird, bleibt abzuwarten.
Hamburger Erklärung
Seit dem vergangenen Dezember wissen wir: Knapp ein Fünftel der Zehnjährigen in Deutschland kann nicht so lesen, dass der Text dabei auch verstanden wird (18,9%, Internationale IGLU-Studie 2016). Im internationalen Vergleich ist Deutschland damit seit 2001 von Platz 5 auf Platz 21 aller beteiligten Länder abgerutscht und liegt unter dem EU- wie dem OECD-Durchschnitt. Zudem ist Deutschland das Land, bei dem das Ergebnis am stärksten von der sozialen Herkunft abhängt. Wer nach der Grundschulzeit nicht sinnentnehmend lesen kann, wird es in den weiterführenden Schulen nicht lernen. Denn hier wird Lesen nicht mehr gelehrt, sondern vorausgesetzt.
Lesen ist noch immer DIE Schlüsselqualifikation für die Teilhabe an der Gesellschaft. Die betroffenen 18,9 % der Kinder werden einmal unsere Erwachsenen sein. Neben den Folgen, die eine fehlende Lesefähigkeit für jeden Einzelnen von ihnen haben wird, sind auch die Folgen für die Gesellschaft insgesamt erschreckend. Ohne die Möglichkeit, einen qualifizierten Beruf zu erlernen, werden die meisten dieser Menschen vermutlich jahrzehntelang auf staatliche Unterstützung angewiesen sein. Umso wichtiger, dass JETZT in die Bildungspolitik investiert wird.
Die 16 Länder, die Deutschland im Ranking seit 2001 überholt haben, beweisen, dass und wie es möglich ist, die Lesefähigkeit aller Kinder signifikant zu steigern. Ein Land wie Deutschland, dessen wichtigste wirtschaftliche Ressource ein hoher Bildungsstand seiner Bevölkerung ist, kann das Thema nicht länger marginalisieren. Der Verweis auf gewachsene Probleme in der Schülerschaft reicht nicht aus. Auf die Analyse muss die Lösung folgen, und diese Lösung darf nicht länger an Elternhäuser und Ehrenamtliche delegiert werden. Nur die Schule erreicht wirklich alle Kinder.
Die Unterzeichner fordern die Politik in allen Bundesländern, die Bundesministerin für Bildung und Forschung, die Kultusministerkonferenz und die Bildungsminister aller Bundesländer daher dazu auf, für folgende Punkte Sorge zu tragen:
•Das Lesenlernen und Lesen muss sehr viel stärker in den Fokus der Bildungspolitik rücken.
•An den Grundschulen müssen frühzeitig Fördermaßnahmen in Kleingruppen eingeführt werden, die sich auf die reichlich vorliegenden Erkenntnisse der Leseforschung und die Erfahrungen der Lehrer stützen.
•Diese Förderstunden dürfen nicht für Vertretungsunterricht zweckentfremdet werden.
•Es müssen ausreichend Grundschullehrer eingestellt werden, um dieses Ziel umzusetzen. Das heißt: An den Hochschulen müssen deutlich mehr Studienplätze für die Lehrerausbildung geschaffen werden.
•Es muss Schulbibliotheken, Lesungen und Lektüreprogramme gerade auch an solchen Schulen geben, deren Schülerschaft eher bildungsfern ist. Die Lektüre altersgerechter Bücher vermittelt die Fähigkeit, komplexere Zusammenhänge aus längeren Texten zu entnehmen. So kann man später zum Beispiel Zeitungsartikel lesen und verstehen.
•Für all diese Zwecke müssen jetzt genügend Mittel in den Haushalten ausgewiesen werden. Das Lesen darf nicht den derzeitigen (kosten)intensiven Bemühungen um die Digitalisierung der Schulen zum Opfer fallen.
Unverbindliche Absichtserklärungen reichen nicht mehr aus. Deutsche Grundschulen müssen es schaffen, alle Kinder das Lesen zu lehren!