Die falsche Witwe

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Die falsche Witwe
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Ulrike Schmitzer

DIE FALSCHE WITWE

Roman


© Edition Atelier, Wien 2011

www.editionatelier.at Lektorat, Satz: Angela Heide Umschlaggestaltung: Julia Kaldori unter Verwendung des Fotos Steckdose von view7/PHOTOCASE ISBN 9783902498410

Die Personen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Mögliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Das Buch ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere für Übersetzungen, Nachdrucke, Vorträge sowie jegliche mediale Nutzung (Funk, Fernsehen, Internet). Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder weiterverwendet werden.

Mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

1

Ein Brief vom Gericht. Ein Rsa-Brief. So schnell hat sie ihn nicht erwartet. Sie muss ihn bei der Post abholen. Sie schlüpft aus den Gartenschuhen in die Stadtschuhe, zieht sich eine Jacke über. Die Benachrichtigung in der Tasche, fährt sie mit dem Rad zur Post. Ihr kräftiges, weißes Haar gerät durcheinander. Grüß Gott. Die Schalterbeamtin greift zum abgegriffenen Karton und fingert ihren Brief heraus, noch bevor sie den gefalteten Benachrichtigungszettel aus der Tasche nehmen kann. So, sagt die Beamtin und legt den Brief zur Unterschrift vor. So, wiederholt sie automatisch. Keine Fragen, kein neugieriger Blick. Zu oft kommen Briefe vom Gericht, das allein macht noch niemanden verdächtig.

»Was bist du doch für ein Idiot«, hat sie ihn angeschrien. »Ich plage mich jahrzehntelang, und du machst im Suff alles zunichte. Ich hab dir gesagt, geh nicht mehr zum Stammtisch, der Krallinger ist ein boshafter Mensch. Aber nein, du musst ständig dorthin rennen und unser ganzes Leben zerstören.«

Ein Wort habe das andere ergeben. Sie hätten über den Tod geredet und dann habe er gesagt, dass er schon tot sei, offiziell zumindest. Das sei aus ihm herausgekommen. In dem Moment habe er gewusst, dass es ein Fehler war. Der Krallinger habe zu bohren begonnen, erst auf lustig und dann sei ihm die Zornesröte ins Gesicht gestiegen und er habe sich furchtbar aufgeregt, dass es keinen Anstand mehr gebe und dass nicht nur die Afrikaner ihn aussaugen wollten, sondern auch die eigenen Leute, und dann sei er volltrunken auf die Polizei gegangen und habe ihn angezeigt.

Was hätte ich denn tun sollen, fragte er. Sie konnte nicht mehr antworten, ihr Schluchzen erdrückte ihre Stimme. Er versuchte sie zu trösten, dass so eine Anzeige noch nicht bedeute, dass deshalb die ganze Wahrheit ans Licht komme. Es sei einfach eine Anzeige wegen Betrugs und sonst gar nichts. Sie solle sich nicht so aufregen. Das werde schon wieder. Zwei Tage später war er tot.

Das Begräbnis ist erst in zehn Tagen. Der Pfarrer hat vorher keine Zeit. Er muss drei Orte betreuen und zurzeit wird viel gestorben, sagt er. Und dann sind auch noch zwei Taufen und eine Hochzeit, und die könne man keinesfalls verschieben. Die haben es eilig, sagt er.

Ich muss mit euch reden, hat sie am Telefon gesagt. Sie zupft an ihrem Pullover, drückt mit der flachen Hand ihre weißen Locken im Nacken nach oben. Anna und Eva sitzen am Küchentisch.

»Das ist mein Platz«, sagt Eva grinsend und verweist Anna auf die Längsbank. Zwei Kinderseelen im Körper von fast 60jährigen Frauen.

»Watsche?«, fragt sie ganz wie in alten Zeiten und Anna tut, als ob sie zusammenzucken würde und Angst hätte – genauso wie damals. Eva sieht Anna nicht oft.

»Da bin ich gespannt«, sagt Anna. »Wahrscheinlich informiert sie uns über das geheim gehaltene Vermögen.«

»Da würde ich nicht nein sagen«, sagt Eva.

Anna war sein Liebling. Sie sitzen am Küchentisch und warten. Ihre Mutter verschiebt die Dosen auf der Küchenkredenz um ein paar Zentimeter, wischt mit der bloßen Hand Brösel weg und öffnet die Lade, während sie sagt, dass es ein Problem gibt. Sie holt ihre Brille und einen Brief aus der Schublade.

»Der ist vom Gericht«, sagt sie.

Anna schaut sie erschrocken an. »Um was geht’s denn? Ist es wegen dem Erbe vom Onkel?«, fragt sie.

»Nein. Lies.«

»Lies laut«, sagt Anna zu Eva.

Eva überfliegt den Brief »… Staatsanwaltschaft erhebt Anklage … Paragraph 147, Abs. 3 StGB … schweren Betruges begangen … Täuschungshandlung … mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen … Gesamtsumme von fast zwei Millionen Schilling.«

»Was heißt Paragraph 147?«, fragt Anna.

»Schwerer Betrug«, sagt Eva und schaut die Mutter an.

»Schwerer Betrug«, wiederholt sie.

»Ich verstehe überhaupt nichts.« Annas Stimme bricht. »Das muss doch eine Verwechslung sein, oder?«

Die Mutter schweigt. Sie ist dünn und alt geworden. Sie hat dunkle Augenhöhlen. Ihre Hand, in der sie die Brille hält, zittert.

»Was ist passiert?«, fragt Eva.

»Das Ganze ist doch schon gar nicht mehr wahr. Das ist schon gar nicht mehr wahr! Ich weiß gar nicht, was die jetzt wollen.«

Eva trinkt einen Schluck Kaffee, schenkt Anna nach. Sie bemerkt es gar nicht.

»Ich habe zu viel Pension bekommen. Und da sind sie jetzt draufgekommen. Das hätte ich melden müssen«, sagt die Mutter.

»Was? Und deshalb wollen sie dich einsperren?«, fragt Anna hysterisch.

»Eingesperrt wird hier niemand«, sagt Eva.

»Aber wieso bringen sie eine alte Frau vor Gericht? Das gibt’s doch gar nicht. Das müssen sie doch selber kontrollieren, dafür gibt’s doch diese ganzen Beamtenburgen!«

»Anna, bitte, reg dich nicht so auf«, sagt Eva. Sie spürt, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Sie schaut ihre Mutter an.

»Das kann ich doch nie im Leben zurückzahlen. Irgendwann war es zu spät, versteht ihr. Irgendwann wusste ich, dass der Geldbetrag schon zu hoch ist, um alles in Ordnung bringen zu können. Wenn ich es gemeldet hätte, wären wir ruiniert gewesen«, sagt sie und ihr Blick bittet um Zustimmung. Anna schüttelt den Kopf.

»Aber so schlecht ist es uns doch gar nicht gegangen«, sagt Anna.

»Eben«, sagt die Mutter. »Kind, du warst so klein. Du hast das doch alles gar nicht richtig mitbekommen. Das war auch richtig so. Wir wollten euch doch nicht mit Geldsorgen belasten. Ich hab es einfach laufen lassen.«

»Und das ist alles?«, fragt Anna.

Die Mutter geht aus der Küche. Ihre Augen sind rot unterlaufen, ihre eingefallenen Wangen dunkelrot vor Aufregung. Sie will nicht, dass ihre beiden Kinder sie weinen sehen.

Anna nimmt die Kaffeetasse, stellt sie jedoch, ohne einen Schluck zu trinken, wieder weg.

»Was soll das alles heißen«, fragt sie. »Das ergibt doch keinen Sinn.«

2

Er ist es. Da ist sie sich ganz sicher. Sie sagt es zuerst Anna. »Plemplem«, ist die Antwort der kleinen Schwester. Sie sagt es ihrer Mutter. Aber die lacht nur. Es ist ein eigenartiges, lautes Lachen. Und dann ist die Mutter ganz ernst und sagt: »Sei still. Dein Papa ist im Himmel, das weißt du.«

Während die Mutter ins Dorf einkaufen fährt und er im Stall arbeitet, durchsucht Eva den Schrank. Dort sind die Fotos. Es gibt ein Album und die bunte Schachtel. Im Album sind vergilbte Schwarzweißfotos von den Urgroßeltern, den Urgroßtanten und den Urgroßcousinen. Nichts. Kein Bild von Papa. In der Schachtel sind die Fotos, die nicht eingeklebt werden. Aber zum Wegwerfen zu schade, sagt die Mutter immer. Sie sieht jedes Foto einzeln durch. Und noch einmal. Sie muss etwas übersehen haben. Mutter als junges Mädchen. Doch es gibt kein Foto, auf dem ihr Vater zu sehen ist. Einmal seine Strickweste auf der Sitzbank, einmal ein Hausschuh quer im unteren Bildrand auf dem Teppich. Eva als Baby, mit einer großen Torte, in der Mitte eine Kerze. Eva auf der Hängeschaukel, zwei Kerzen, mit dem Dreiradler, drei Kerzen. Ihr vierter Geburtstag fehlt. Und dann ist Anna immer auf den Fotos.

Ich werde von Papa träumen, nimmt sie sich vor.

»Geht’s dir nicht gut?«, fragt die Mutter.

»Nein«, sagt Eva.

»Hast du Fieber?«, fragt sie, während sie ihr auf die Stirn greift.

»Ich gehe heute besser früher ins Bett«, sagt Eva und versucht so wenig wie möglich zu sprechen. Zu viel sprechen ist immer verdächtig.

 

»Schlaf dich gesund«, sagt die Mutter und beobachtet sie noch aus dem Augenwinkel, während sie den Küchentisch abräumt.

Es ist noch hell. Sie schlüpft unter die Decke, damit es dunkler wird.

»Was machst du da?« Anna krabbelt in ihr Bett. Eva dreht sich so schnell, dass Anna ihre Füße im Bauch hat.

»Geh weg!«, schreit sie, »lass mich in Ruhe«.

Anna dreht beleidigt ab. Eva versucht sich zu konzentrieren. Sie hat schon öfter von ihrem Vater geträumt. Einmal war er bis kurz vor dem Aufwachen da und sie hat seine weiche, große Hand in ihrer gespürt. Sein Gesicht hat sie aber noch nie gesehen. Eva hat nichts im Kopf, sagt die Mutter. Eva geht einkaufen und vergisst, dass sie Milch bringen soll. Sie fährt mit dem Rad ins Dorf und weiß dann nicht mehr, wo sie es abgestellt hat. Sie kann sich nicht erinnern, wie das dritte Kätzchen ausgesehen hat, das gleich bei der Geburt gestorben ist.

»Du bist dumm!«, sagt Anna und zeichnet ihr das Fell der Katze auf. »Es war gefleckt mit einer Viertel schwarzen Nasenspitze«, sagt Anna. Dabei kann sie gar nicht wissen, was ein Viertel ist.

Eva kann nicht einschlafen. Sie denkt an die Kätzchen. Zwei durfte sie behalten. Wenn ich erwachsen bin, lasse ich alle Katzenbabys leben, überlegt sie. Egal wie viele. Sie dreht und dreht und dreht sich. Endlich, der Schlaf. Er kommt in Form einer großen Kugel auf sie zu, auf einer riesigen Fläche. Ein großer Raum, er wird enger und enger. Dieses Gefühl kennt sie nur vom Einschlafen. Normalerweise versucht sie die Kugel zurückzudrücken, heute aber nicht. Das Bett kracht. Es ist finster, mitten in der Nacht. Sie dreht das Licht auf. Anna wetzt neben ihr im Bett. Sie darf nicht vergessen, was sie geträumt hat. Zu spät. Morgen will sie sich Zettel und Stift zum Bett legen. Ich werde es ab jetzt jede Nacht versuchen, nimmt sie sich vor. Aber sie braucht noch einen anderen Plan, einen Ersatzplan.

»Iss das Brot«, sagt die Mutter.

»Ich hab keinen Hunger«, sagt Eva.

»Aber du wirst einen bekommen.« Die Mutter steht an der Küchenanrichte und beschmiert das Brot dick mit dunkelgelber Butter.

»Warum soll ich dann jetzt essen?«, fragt Eva.

Der Onkel sitzt auf der Eckbank und lacht. Aber nur so lange, bis sich die Mutter von der Anrichte zu ihm dreht.

»Sei nicht frech«, sagt die Mutter.

Der Onkel ist nicht streng. Er war nur einmal sehr böse, als der Nachbar herüberkam. Eva hatte vergessen, das Tor zum Hof zuzumachen.

»Hallo?«, hat der Nachbar gerufen. Und noch einmal: »Hallo, Frau Lienbacher!«

Er war schon bei den Fahrrädern mitten im Hof und rief wieder. Eva lief ihm entgegen.

»Hallo«, sagte sie.

»Ist die Mutter nicht da?«, fragte der Nachbar.

Er hatte einen grauen verschmierten Arbeitsmantel an. Er roch nach Öl.

»Doch, die ist hinten im Gemüsegarten.«

»Geh, sag ihr, wenn sie Gurken will, soll sie rüberkommen, ich habe heuer ganz große und viel zu viele.«

»Mm«, sagte Eva. Sie hatten doch selber Gurken. Aber das sagte sie nicht.

»Und«, setzte er neugierig an, »wie geht’s denn dem Onkel?« Er betonte das Wort Onkel eigenartig. Er war früher öfter hier gewesen. Manchmal war er mit der Mutter in der Küche gesessen, bis Anna und Eva ins Bett gehen mussten. Eva hörte sie dann laut lachen. Aber seit der Onkel da war, war er nicht mehr gekommen.

Auf dem Boden lag eine tote Biene. Eva schob sie mit dem Fuß hin und her.

»Gut.« Dann wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte und er fragte auch nichts.

»Dann geh ich wieder«, sagte er.

Eva gab der ausgetrockneten Biene einen Fußkick und lief in die Küche.

»Das Tor zum Hof war doch immer offen«, sagte sie zu ihrer Verteidigung. Und da knallte es schon. Als ob ein Teppichklopfer direkt auf ihrer Wange gelandet wäre.

»Schon lange nicht mehr«, brüllte er.

Eva sah Anna an, sie weinte.

»Wieso weinst du, wenn ich eine Watsche kriege?«, fragte sie und wunderte sich, dass sie noch sprechen konnte.

Sie hat einen neuen Plan. Größeres Hirn, besseres Gedächtnis.

»Was liest du da?«, fragt Anna und setzt sich neben Eva auf die Bank vor dem Haus.

»Nichts«, sagt Eva, während sie in einem großen Buch mit Ledereinband blättert.

»Das ist doch das Namenslexikon«, deutet Anna auf das Buch auf Evas Schoß.

»Warum fragst du dann, wenn du es weißt?«

»Was machst du denn damit?«, fragt Anna.

»Ich lerne Namen auswendig«, sagt Eva.

Anna lacht. »Wozu denn das? Du spinnst doch!«

»Ich brauche das für die Schule.«

Anna schweigt. Die Schule flößt ihr Ehrfurcht ein.

»Du wirst mich prüfen«, sagt Eva.

Normalerweise ist Eva die Lehrerin. Sie steht an der Holztafel, die ihnen der Onkel gemacht hat, und Anna tut so, als ob sie die Worte abschreiben könnte, die ihr Eva auf der Tafel vorschreibt.

»Du prüfst mich, aber nur heute«, sagt Eva streng.

Anna ist ganz begeistert. »Wir spielen Schule und ich bin die Lehrerin!«, brüllt sie.

Nach einer halben Stunde haben beide genug. Das geht viel zu langsam, denkt Eva.

»Gummibandl, Strumpfbandl, Zigaretten, Schoklad!«, ruft ein Mann vor dem Hof. »Gummibandl, Strumpfbandl, Zigaretten, Schoklad!« Die Kinder laufen hinaus. Es ist zwar schon finster, aber noch nicht Schlafenszeit. Anna hat bereits ihren Pyjama an. Der Mann hat einen dicken Rucksack auf den Rücken geschnallt und zieht einen Leiterwagen hinter sich her.

»Komm rein!«, ruft die Mutter, nachdem sie dem Onkel einen Blick zugeworfen und er sich zurückgezogen hat. »Wir werden schon ins Geschäft kommen.«

Der fremde Mann kommt in die Küche. Er stinkt nach Schweiß. Eva starrt auf die dicken schwarzen Ränder unter seinen Fingernägeln. Er packt aus: Nadeln, kleine Seier, Schuhcreme. »Ah, die Zünder«, sagt die Mutter. Sie deutet als nächstes auf die weißen Papierbriefchen und sagt, dass sie davon auch fünf nimmt. »Ein bissl Saccharin macht das Leben gleich viel süßer«, sagt der Mann und grinst Eva an. Er gibt den Kindern jeweils eine Tablette. Eva lässt sie langsam auf der Zunge zergehen. Ein bleiener Geschmack bleibt in ihrem Mund zurück. Die Mutter holt einen Sack Kartoffeln, Gemüse und Butter. »Die Kurgäste im Tal kaufen wie verrückt«, sagt der Mann, »als ob es in Wien gar nichts geben würde. Habt ihr mehr Butter. Die wäre mir lieber als das Gemüse. Ich hätte dann auch Dosen mit Fisch, Corned Beef – die amerikanischen Sachen. Oder den Cheddar. Wenn ihr den wollt? Der wird euch sicher schmecken«, meint er.

Die Mutter sucht sich einen großen Seier und Nadeln aus. Er sieht Eva an und schenkt beiden Mädchen eine ganze Reihe von einer aufgebrochenen Tafel Schokolade. Anna hüpft vor Freude den ganzen Weg zum Tor und begleitet den Mann singend hinaus. Eva hört, wie der Onkel sagt, dass die Schleichhändler immer teurer werden, obwohl doch alles von den Amerikanern kommen würde.

»Ich will nicht, dass wir von den Hilfslieferungen kaufen«, schimpft der Onkel.

»Da fressen wir lieber unser eigenes Zeug. In der Not zeigt sich der wahre Charakter. Die Hilfslieferungen stehlen und dann den Armen um teures Geld verkaufen, da mach ich nicht mit!«

»Jetzt hab ich eine ordentliche große Nadel«, ignoriert ihn die Mutter. »Mit der kann ich jetzt für Anna eine Jacke aus der alten Decke nähen.« Und dann sagt sie noch: »Sei du lieber ganz ruhig.«

»Sie treffen sich noch immer«, sagt er, »in dem kleinen Stüberl in der Alpenstraße«. Die Mutter schält weiter die Kartoffeln ohne sich umzudrehen. Sie deutet mit dem Messer auf Eva und sieht ihn an. Eva tut so, als ob sie mit einem Buch beschäftigt wäre.

»Ich möchte da hingehen«, sagt er.

»Kind, geh doch in den Stall und hol mir ein bisschen Milch für das Kartoffelpüree!«

Das ist eindeutig ein als Bitte getarnter Befehl. Eva geht aus der Küche, bleibt allerdings noch im Vorzimmer stehen. Sie kann die Mutter gut verstehen, weil sie schreit.

»Bist du verrückt? Was fällt dir denn ein?«, hört Eva die Mutter zum Onkel sagen. »Was glaubst du, warum ich das alles gemacht habe? Nicht genug damit, dass du in die Stadt willst, wo dich jemand erkennen könnte. Nein! Der Herr will zu der vertrottelten Kameradenpartie gehen! Was denkst du dir bloß? Willst du mit den alten Kameraden anstoßen und über alte Zeiten plaudern? Woher wissen die überhaupt, dass du da bist?«

»Reg dich doch nicht so auf. Sie wissen es doch gar nicht. Ich hab in der Zeitung einen Artikel gelesen. Da haben sie es einen Skandal genannt, dass sie sich treffen dürfen.«

»Das wird man ihnen wohl nicht verbieten können!«, sagt sie.

»Na eben. Da waren mehr Anständige drinnen als heraußen. Und ich komm überhaupt nie raus, falls dir das nicht auffällt«, sagt er vorwurfsvoll.

»Das haben wir gemeinsam beschlossen und das muss jetzt auch so bleiben«, sagt sie.

Eva kann sich nicht noch langsamer anziehen. Sie geht in den Stall.

»Anna, sag«, flüstert Eva, damit es die Mutter nicht hören kann.

Anna bastelt gerade eine Figur aus Kastanien und will nicht gestört werden.

»Du, Anna … was ist das Erste, woran du dich erinnern kannst?«, fragt Eva ihre Schwester.

»Wie, woran ich mich erinnern kann?« Anna fragt manchmal, obwohl es gar nichts zu fragen gibt.

»Kannst du dich noch erinnern, als Papa daheim war?«, fragt Eva, bevor die Mutter in die Küche kommt. Lange wird sie nicht mehr im Garten bleiben. Anna überlegt. »Weiß nicht … Ich kann mich aber noch erinnern, wie der Grießkoch geschmeckt hat. Der war immer so gut!«

»Ob Papa dich auch gefüttert hat?«, fragt Eva schnell weiter.

»Was fragst du denn immer nach Papa? Mutti und der Onkel mögen das gar nicht.«

»Kannst du dich auch noch erinnern, wie der Nachbar immer herübergekommen ist?«

»Der kommt doch nie«, meint Anna. Sie sieht Eva fragend an und drückt ihr rasch eine Kastanie in die Hand. Sie soll ein Loch hinein machen.

»Der Onkel hat mich nämlich gestern danach gefragt. Ich hab gesagt, ich kann mich nicht erinnern. Dabei stimmt das gar nicht. Die Erwachsenen fragen oft so komisch, dass ich sofort die Antwort weiß, die sie hören wollen. Heute soll ich mich an alles erinnern und das weltbeste Gedächtnis haben und dann soll ich wieder alles vergessen. Denen sage ich überhaupt nichts mehr!«, sagt Eva.

Anna zuckt mit den Schultern.

Eva muss mit Gott sprechen. Am besten dort, wo er wohnt.

»Ich geh ins Dorf«, sagt sie ganz selbstverständlich und hat schon den Türgriff in der Hand.

»Moment, Madame!«, hält sie die Mutter zurück.

»Ich brauche doch einen Bleistift für die Schule«, erklärt Eva.

»Hast du denn Geld?«, fragt die Mutter. Das hat Eva vergessen. Die Mutter öffnet die Küchenlade und nimmt die abgegriffene braune Ledergeldtasche heraus.

»Da. Aber das Restgeld bringst du mir wieder. Und bleib nicht zu lange.«

Eva steckt die Schillinge in den Latz der roten Hose. Das ist ihre Lieblingshose. Sie reicht ihr nicht einmal mehr zum Knöchel. »Hast du schon wieder die Hochwasser-Hose an«, sagt der Onkel immer. Dabei hat sie gar keine andere. Anna läuft sogar mit einer Hose herum, die früher eine Herrenjacke war.

Eva rennt zur Kirche. Sie muss sich beeilen, die Mutter kennt den Weg und hat ein unheimliches Zeitgefühl. Sie weiß genau, wann das Ei fertig gekocht ist, sie weiß auch genau, wann der Regen aufhören wird. Eva war schon ein paar Mal in der Kirche. Sie mag den Duft der Kerzen, die Eiseskälte, die einem entgegenschlägt. Sie setzt sich auf eine Bank. Der Altar ist überall gold, und dicke Engel springen aus dem Altar heraus. Wie fängt man ein Gebet an, mit dem man seine Erinnerung zurück haben will?

»Lieber Gott.« Sie konzentriert sich, bläst die Luft durch die zum Gebet gefalteten Hände. Plötzlich klopft ihr jemand auf die Schulter. Sie dreht sich um.

»Anna! Was willst du da?«, flüstert sie.

»Was willst DU da?«, fragt Anna.

»Psst. Ich bete«, sagt sie.

»Du weißt, dass das Mama gar nicht mag«, sagt Anna.

»Sie mag aber auch nicht, wenn du davonläufst.«

Anna überlegt kurz.

»Hier riecht es unheimlich«, sagt sie. »Ich helfe dir. Wenn zwei beten, wirkt es sicher besser.«

Eva zögert. Sie weiß doch selbst noch nicht, wie sie beten soll.

»Lieber Gott. Mach, dass mir alles wieder einfällt.«

 

»Das ist ein komisches Gebet«, sagt Anna.

»Geh weg, Anna. Geh!«

Eva nimmt eine Kerze und zündet sie an.

»Du darfst sie nicht stehlen, dann funktioniert es nicht. Das ist eine Todsünde! Du kommst dafür in die Hölle«, flüstert Anna. »Jetzt liegt ein Fluch auf dir, der dich bis zu deinem Tod …«

Eva legt den Finger auf ihren Mund. Bei Anna geht es derzeit immer um den Tod. Sie will wissen, wie lange sie leben wird, wie lange die Katze lebt, wo man hinkommt, wenn man stirbt. Eva wirft ihr Kleingeld in den Opferstock. Und dann starrt sie Anna an.

»Anna, gib mir dein Geld!«

Anna erschrickt, damit hat sie nicht gerechnet. Sie greift in die Tasche ihrer Hose und verschränkt dann die Arme.

»Ich hab kein Geld«, schreit sie und läuft kreischend aus der Kirche. Eine alte Frau schaut auf, betet aber ihren Rosenkranz weiter. Eva erwischt Anna noch auf dem Platz vor der Kirche. Anna wehrt sich heftig.

»Bitte, Anna!«

Eva sagt nicht oft Bitte zu ihr. »Es bleibt unser Geheimnis.«

»Ich will aber ein Eis und kein Geheimnis«, sagt Anna.

»Du bekommst beides. Das verspreche ich dir. Ich gebe dir daheim das Geld, spätestens in einem Monat hast du es wieder. In Ordnung?«

»Bis dahin kann ich längst tot sein«, sagt Anna. »Oder du.«

Sie gehen zurück in die Kirche. Eva wirft ihre Münze in den Opferstock und stellt eine zweite Kerze in das vom Wachs verpickte Eisengestell.

Als sie zurückkommen, will die Mutter den Bleistift sehen. Eva muss dringend aufs Klo. »Hier geblieben!«, hält die Mutter sie zurück. »Wo ist der Bleistift?«, fragt sie.

»Im Geschäft.«

»Soweit so gut. Aber wo ist das Geld?«

»Ich habe es dem lieben Gott geschenkt.«

»Warum um Himmels willen schenkst du der Kirche unser Geld? Du bist doch kein kleines Kind mehr!«

Eva sagt, dass sie das Geld für einen guten Zweck gespendet habe. Sie verrät nur nicht für welchen. Sie glaube nicht, dass das eine Sünde sei. Die Mutter schüttelt den Kopf.

»Ist es nicht schon schlimm genug, wenn die Frau Lehrerin für euch beide die alten Hefte aufreißen und daraus neue heften muss? Ihr könnt nicht auch noch verlangen, dass sie euch Bleistifte schenkt! Macht es euch Spaß, wenn ihr immer diejenigen seid, die am wenigsten haben? Genieren muss man sich mit euch! Ich bin es nicht gewohnt, arm zu sein, und ich werde mich auch nicht daran gewöhnen! Das ist doch menschenunwürdig! Und ihr, ihr macht es noch schlimmer! Verschenkt unser Geld! Ausgerechnet der Kirche! Haben die schon irgendwas für uns getan? Machen das vielleicht die anderen Kinder auch? Schaut doch, wie brav die anderen Kinder sind! Ihr macht dauernd Ärger und undankbar seid ihr!«

»Sonst sagst du immer, was die anderen tun ist uns egal«, sagt Eva.

»Halt den Mund! Frech auch noch werden!« Bevor sie zuschlagen kann, läuft Eva davon.

Das mit den Heften stimmt schon, denkt Eva. Und dass andere in der Klasse mehr haben als sie. Aber ihr macht das nichts aus. Nur manchmal hat sie großen Hunger. Und dann geht sie mit den anderen Kindern in die Kinderausspeisung der Amerikaner. Dort gibt es Suppe und Grießkoch. Danach ist der Bauch ganz warm und so voll, dass er fast platzt. Die Mutter hat ihr das verboten, aber die Lehrerin sagt, wenn sie das anschafft, müssen alle Kinder folgen. Manchmal ist Eva froh, wenn Erwachsene etwas befehlen.

»Du, Mutti«, fragt Eva. Sie reagiert nicht, wischt den Boden weiter auf.

»Warum geht der Onkel eigentlich nie ins Dorf oder fährt in die Stadt?«

»Wie kommst du denn darauf?« Die Mutter richtet sich auf, rührt mit dem Fetzen wild im Wasserkübel herum.

»Stimmt doch.«

»Der Onkel mag andere Menschen nicht so gern. Er ist lieber für sich.« Sie drückt den Putzfetzen mit aller Kraft aus. Das Wasser spritzt auf den Boden.

Eva wartet, nimmt ihren ganzen Mut zusammen.

»Hat er etwas angestellt? Muss er sich verstecken?«

»So ein Blödsinn.« Die Mutter lacht, aber anders als sonst. »Was du dir in deinem hübschen Kinderkopf schon wieder ausdenkst. Du machst dir immer viel zu viele Gedanken. Geh spielen! Wo ist denn die Anna?«

Anna versteckt sich. Sie hat einen Milchzahn verloren, weil sie so schnell gelaufen ist, sagt sie. Jetzt hat sie Angst. »Schau ich aus wie vorher?«, hat sie Eva gefragt. »Wie schau ich denn mit ohne Zahn aus?« »Du wirst dir nie merken, dass es ›mit ohne‹ nicht gibt«, hat Eva gesagt. »Du siehst aus wie vorher, nur ohne Zahn.« Aber Angst haben sie doch beide, dass die Mutter sie nicht wiedererkennen wird.

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