Junger Wilder

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Junger Wilder
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Urb Sinclair (Pseudonym):

Dipl. Umweltingenieur und Buchautor, wurde 1976 in Winterthur (Schweiz) geboren. Nach seiner Kindheit mit der Familie in Nepal fand er seine Heimat im Raum Zürich. Neben den zahlreichen Reisen in Asien, Ozeanien und Nordamerika schrieb er unterwegs Zitate und Texte zu seinem Buch. Das vorliegende Erstlingswerk ‚Junger Wilder’ ist über Jahre als begleitendes Buchprojekt stets auf seinen Reisen dabei gewesen.

Erläuterung zum Pseudonym:

Der Rufname Urb setzt sich aus den Anfangsbuchstaben des tatsächlichen Namens des Autors zusammen. Der Name Sinclair wurde einst als Pseudonym von Hermann Hesse (1877 - 1962) zur Veröffentlichung seiner Erzählung ‚Demian’ (1919) gewählt.

Urb Sinclair




Junger Wilder

Urb Sinclair

Copyright: © 2013 Urb Sinclair

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-4971-2

Erste Auflage 2013

Alle Rechte auf das Werk einschliesslich aller seiner Teile (inkl. Titelbild, Symbole und Zeichnungen) sind urheberrechtlich geschützt und ausschliesslich dem Autor (bez. dem Künstler) vorbehalten.

Die Geschichte wurde frei erfunden. Jegliche Namensgleichheiten beruhen auf zufälliger Basis. Neben den originalen Schauplätzen wurden gewisse Lokalitäten abgeändert oder auch erfunden.

Zusammenfassung der Geschichte:

Der Roman ‚Junger Wilder’ erzählt in drei Teilen stückweise die tragische, mit der stetigen Desillusionierung eng verbundene Lebensgeschichte des jungen Mannes namens René Wilder.

In René Wilders gut behüteten Kindheit mit seiner jüngeren Schwester Sarah und den Eltern zusammen, werden die beiden Kinder bei einem Autounfall auf sein Verschulden direkt aus dem unbekümmerten und fröhlichen Leben herausgerissen und auf einen Schlag zu Vollweisen.

Nach dem plötzlichen Tod ihrer Eltern nimmt sich ein Pfarrer namens Bruno Mächler, zusammen mit seiner Gattin Verena dem Schicksal des Geschwisterpaares an. Mit dem Beginn der Zeit im Internat findet René in den Schulferien zwei Freunde fürs Leben. Gemeinsam schliessen die drei gleichaltrigen Freunde während ihren Ferien auf dem Bauernhof einen Pakt und schwören dabei auf die Treue ihrer Freundschaft.

Über die Zeit werden seine beiden Freunde Richard und Jasmin, die sich zu dritt untereinander als Brüder und Schwester gleich stellen, neben seiner leiblichen jüngeren Schwester zu seiner neuen Familie. Auf ihrem gemeinsamen Lebensweg finden sich schon in ihrer frühen Jugend Richard Rosenkranz, der von seinen Freunden kurz Ritschi genannt wird, und Jasmin Silver als Paar zueinander. Trotzdem bleiben die drei jungen Freunde ihrer Familienrolle treu und gehen gemeinsam bei ihren erlebten Abenteuern durch Dick und Dünn.

Nach ihrer regulären Schulausbildung im Internat führt sie ihr gemeinsamer Weg zuerst durch Europa und anschliessend in die Limmatstadt Zürich. René und seine Freunde werden dabei in der Altstadt von Zürich heimisch. Auf dem Weg zum Erwachsen werden, trifft René ein weiterer schwerer Schicksalsschlag innerhalb seiner Familie. Von den Fachärzten am Universitätsspital erfahren seine Schwester Sarah und er, dass sie schon im fortgeschrittenen Stadium einer Brustkrebserkrankung leidet. Parallel zu seinem Hadern mit diesem weiteren Tiefschlag in seinem jungen Leben, verliebt sich René bei einem festlichen Anlass in Jeanette Brunner. Sie ist die Tochter eines sehr strengen und konservativen Firmeninhabers, der mit seiner wohlhabenden Familie am Zürichberg lebt.

Hin und her gerissen von seinen Gefühlen gerät Renés Leben ein halbes Jahr später bei dem tödlichen Unfall in einem sinnlosen Machtkampf zwischen ihm und Alexander (einem langjährigen Freund und Nebenbuhler von Jeanette) gänzlich aus den Fugen.

Verfolgt von zahlreichen intensiven Träumen quer durch seine Gefühlswelt versucht er immer wieder den Sinn zu verstehen und mit Hilfe des Flusses sich selber zu finden. Doch nach dem tödlichen Autounfall bei der Mutprobe von seinem besten Freund und Bruder Richard Rosenkranz rutscht René der Boden vollends unter seinen Füssen weg. In der darauf folgenden Nacht findet René in einer Gefängniszelle, nach einem weiteren Traum mit dem Fluss, zu seiner Selbsterkenntnis in seinem jungen Leben und erkennt plötzlich auch den schweren Weg den er gehen muss, um mit sich und seiner Vergangenheit in das Reine zu kommen.

Mit dieser klaren Gewissheit endet der Weg für ihn und seine kleine, geliebte Schwester Sarah kurze Zeit später in einer ausweglosen Situation...

Die Geschichte ‚Junger Wilder‘ wird in drei Teilen erzählt, wobei der erste Teil sich in der Stadt Zürich abspielt. In den beiden weiteren Teilen geht die Erzählung zurück bis in die Kindheit des Geschwisterpaares. Bei diesem Exkurs zeigt sie die feinmaschigen Zusammenhänge im Leben des jungen Mannes und wie er sich zum Schluss hin immer mehr auf eine waghalsige Gratwanderung ohne Ausweg begibt.

Seine Verfolgung über die Jahre durch verschiedene schwere Schicksalsschläge, die wie Pech an den Füssen des jungen Mannes kleben, begleiten ihn bei seinem moralischen Zweifel und fehlendem Glaube an Gerechtigkeit, immer eng verstrickt intensive Träume. Die Ansammlung der Geschehnisse lassen ihn letztendlich den unkonventionellen Weg gehen und seinen Glauben wieder finden…

Hinweis: Gewisse Textpassagen und Inhalte des Romans sind mit Vorsicht zu interpretieren und können teilweise missverstanden werden. Auch können sie auf den Leser gefühlsverwirrend sein und eventuell psychischen Einfluss nehmen. Da dieses Buch im Selbstverlag entstanden ist, wird jegliche Haftung vom Autor auf inhaltliche und formale Fehler abgelehnt.

‚Kunst ist wie ein Blatt im Wind – Ständig in Bewegung’

Urb Sinclair


‚Wenn die Schmerzen im Herzen meines

Körpers schreien könnten, wäre mein Körper

schon längst in tausend Stücke zersprungen.’

J. W.

Widmung

Für meine liebe Familie und meine verstorbene Grossmutter

- ohne Sie wäre dieses Buch nie zustande gekommen

An der Limmat zu Hause

In der kalten Morgenluft eines schönen, jungen Herbsttages liegen leichte, weisse Dunstfäden über dem klaren Wasser des blauen Zürichsees. Unter dieser schmalen, milchigen Nebelschicht glitzern tausende, kaum wärmende Sonnenstrahlen auf der sich leicht kräuselnden Wasseroberfläche.

Vom unteren Ende des Sees sieht man die Umrisse der Voralpen und der Alpen über dem weissen Dunst des Wassers aufsteigen. Je weiter entfernt diese hohen Berge sind, desto schwerer lassen sich ihre Konturen auszumachen. Von blossem Auge scheint es gar, als würden die weissen Spitzen der Alpen im Hintergrund, als ein Band aus Wolkentürmen in den Himmel übergehen.

Nicht weit des Ufers entfernt, in der Nähe des Zürichhorns, treiben zwei weisse Möwen auf dem klaren Wasser nebeneinander her. Eine leichte, frische Bise lässt die ersten farbigen Laubblätter auf den See hinaus wehen und dabei ihr leichtes, tanzendes Spiel mit den vielen kleinen Wellen vollbringen. Entlang dem See zieren nun diese ersten gelben, orangen und roten Blätter der Bäume das Ufer als wogendes, farbiges Band. Der kühle Wind lässt das weisse Gefieder der beiden Vögel auf dem Wasser leicht anheben.

Nach einem kurzen Aufflattern der Flügel und Aufplustern ihres Federkleides, treiben die beiden Möwen dicht nebeneinander zwischen dem farbigen Falllaub im klaren Wasser weiter.

Eine wunderbare Ruhe und schlichte Schönheit liegt über diesem jungen Oktobermorgen. Es ist ein Bild des Friedens und der grenzenlosen Freiheit, der ihn auszeichnet. Das Leben scheint in sich gekehrt zu sein, ohne Ausnahme.

Es ist, als läge die Welt mit sich im reinen. Als läge sie in einem Moment des zeitlosen Friedens. Mittendrin in diesem wunderbaren Augenblick der göttlichen Offenbarung, diese beiden weissen Vögel auf dem leicht kräuselnden und in der Sonne glitzernden Seewassers.

Wie auf ein stilles Zeichen hin, heben sie sich gemeinsam, mit ein paar kurzen, kräftigen Flügelschlägen, senkrecht aus dem Wasser empor. Für einen kurzen Augenblick verharren sie mit weit ausgespreizten, weissen Schwingen im kühlen Morgenwind. Die Wassertropfen fallen wie glitzernde Perlen von ihrem Gefieder zurück in den See.

Zusammen mit der kühlen Bise tragen die beiden Möwen die Leichtigkeit des Seins auf ihren Schwingen in grossen Kreisen dem stahlblauen Himmel entgegen. Immer weiter hinauf lassen sie sich von dem stärker werdenden Winde sich tragen. In einem weiten Bogen drehen sie sich über das untere Ende des Sees in Richtung Westen, gegen die Stadt.

Winzig klein erscheinen die Dächer der Häuser, die Höfe und die Gassen aus dieser Höhe. Die Limmat, die sich durch die vielen Bauten hindurch schlängelt, zieht sich als blauer Faden immer Richtung Westen.

Weit, weit unten am Ufer des Flusses, da steht eine kleine Gruppe vereint. Helle Kleidern tragend und mit Blumen in den betenden Händen stehen sie am Ufer des Flusses.

 

Asche zu Asche, Staub zu Staub. Für die beiden weissen Vögel wohl kaum zu erkennen, da sie weit, weit oben am Himmel nebeneinander herfliegen. Zusammen vereint, in Einklang und Harmonie…



Teil 1

I. Auf dem Lindenhof

Mit meiner Spiegelreflexkamera in den Händen stehe ich mitten im Herzen von Zürich, auf dem Grossmünsterplatz. Es ist ein wundervoller Frühlingsmorgen. Die Luft ist klar und rein. Sie duftet wieder. Sie duftet nach Leben, sie duftet nach Liebe und Kunst.

Nicht so wie in den letzten verstaubten Wintermonaten. Mich dünkt, als würde die Luft in dieser kalten Winterzeit nach nichts riechen. Sie scheint geruchlich ausgetrocknet und leblos zu sein. Ausser, wenn vielleicht der Nachbar in der Strassenbahn neben mir einen fahren lässt, oder sich die Türe zu einer Bäckerei oder einer Parfümerie vor mir öffnet, dann riecht sie. Aber nicht so dieser poetische Morgen des Frühlings, der sinnlich voller jugendlicher Frische und Fülle duftet.

‚Frühling lässt sein blaues Band; Wieder flattern durch die Lüfte; Süsse, wohlbekannte Düfte; Streifen ahnungsvoll das Land...‘[1], geht es mir durch den Kopf.

Es ist wahrlich ein prächtiger Frühlingsmorgen. Einer voller Geschmack, einer der letzten dieses Jahrtausends. Die Leute um mich sind wie verwandelt.

Sie tragen wieder leichte Kleidung für die wärmeren Tage. Ich sehe Leute mit luftigen Hosen kombiniert mit bunten Shirts, farbigen Hüten und modischen Sonnenbrillen. Sie strecken ihre bleichen Gesichter der Sonne entgegen und lassen sich ihre zarte Haut von den wärmenden Sonnenstrahlen abküssen. Das Leben, es scheint schön zu sein.

Vor mir erheben sich majestätisch die beiden Zwillingstürme des Grossmünsters weit in den stahlblauen Himmel hinauf.

Zu meiner Rechten beobachte ich eine Hand voll Asiaten, die ich als Japaner oder Taiwanesen einstufe. Mit ihren kleinen Automatikkameras um die Handgelenke gebunden, stehen die kleingewachsenen Leute in ihrer Reisegruppe auf dem Zwingliplatz. Sie lassen sich etwas von jemandem aus ihrer Gruppe erklären. Wahrscheinlich ist es der Reiseleiter oder vielleicht auch einer ihrer Leute, der es besser wissen muss, als seine Begleiter.


Mit meiner manuellen Fotokamera versuche ich, auf der kniehohen Ummauerung des Platzes stehend, einen guten Winkel für mein Bild zu finden. Die Sonne steht gut.

Aus reiner Leidenschaft am Fotografieren besuche ich derzeit einen Fachkurs für Fotografie in meiner Wohngemeinde. An diesem Kurs hatte ich mich für das Thema ‚Zürich, mit seinen Sehenswürdigkeiten’ entschieden. Dafür bin ich extra aus dem Zürcher Oberland hergefahren. Dieser Frühlingsmorgen kommt mir nun für ein paar gute Bilder aus der Stadt genau richtig gelegen.

Es wirkt alles so rein und frisch um mich. Es ist mir, als wären die Menschen aus einem tiefen Schlaf erwacht und sie tasten sich nun mit ihren verschlafenen Augen in einer ihr fremden Welt um sich.

So lasse ich mich gemütlich mit diesen Neuentdeckern, durch die Strassen und Gassen von Zürich treiben. Meine nächsten Ziele sind weitere Sehenswürdigkeiten wie grosse, ehrwürdige Kirchen, bekannte Plätze, schöne und alte Häuser mit geheimnisvollen Hinterhöfen, sowie mit Blumen geschmückte Brünnen und kunstvoll angefertigte Statuen dieser wundervollen Stadt.

Auf dem Lindenhof angekommen, mache ich meine letzten Bilder mit meiner Fotokamera. Auf diesem grossen, rechteckigen Kiesplatz wurden einst viele Linden bepflanzt. Der Hof liegt auf einer Anhöhe am Flussufer der Limmat. Von dieser Anhöhe aus sieht man über den Fluss und auf die umliegende Altstadt. Unter den Bäumen stehen zahlreiche Parkbänke.

Menschen hat es fast keine auf dem Lindenhof. Ausser ganz hinten auf der vom Fluss abgewandten Seite, da stellen zwei Schachspieler die Figuren auf einem grossen Schachfeld auf. Da ich vom vielen gehen ermüdet bin und ich alle meine Fotografien die ich brauche gemacht habe, beschliesse ich, mich auf eine freie Parkbank neben dem Schachfeld zu setzen.

Gespannt verfolge ich die Eröffnung der Schachpartie. Der eine, ein kleiner, älterer Herr mit rotweisser Schirmmütze, streicht sich mit der Hand nachdenklich über seinen dichten, krausen Vollbart, der grau in der Sonne schimmert. Sein Äusseres erinnert mich, mit seinen abgewetzten Jeans und dem halb offenen, karierten Hemd, an einen in die Jahre gekommenen Truckerfahrer.

Der andere Spieler ist schätzungsweise um die Dreissig. Dieser Mann hat eine dunkle Baskenmütze auf seinem schmalen Kopf, die sich stilsicher zum hageren Körperbau mit den hängenden Schultern, leicht zur Seite neigt. Passend zu seiner Kopfbedeckung trägt der jüngere Mann ein schwarzes Gilet über das cremefarbene Hemd. Dazu luftig blaue Strandhosen als Beinbekleidung. Seine dunklen, listigen Augen bewegen sich nervös über das Spielfeld. Ich nehme mir nochmals die Zeit und schiesse, nach einem höflichen Fragen der beiden Schachspieler, einige weitere Fotos.

Interessiert am Verlauf der Partie Schach, sitze ich nachdenklich auf der Parkbank neben dem Spielfeld.

Ich bemerke kaum wie sich aus der Fortunagasse herkommend, jemand unter den Bäumen hindurch über den Lindenhof bewegt. Erst als ich die knirschenden Geräusche des Kieses unter den Füssen der Person vernehme, wende ich meinen Kopf kurz zur Seite.

Ein grosser, hagerer Mann in einem dunklen Anzug setzt sich neben mich auf die Parkbank. Sein glattes, eisengraues Haar trägt er militärisch kurz geschnitten. Seine dunklen, braunen Augen mustern mich einen kurzen Moment von der Seite.

Der kleine, ältere Herr mit Bart hebt kurz seine rot-weisse Schirmmütze an und lächelt grüssend zur neu angekommenen Person hinüber: „Einen schönen guten Tag, geehrter Herr Pfarrer Bruno. Wie geht es ihnen? Kommt ihr mit ihren Vorbereitungen für den bevorstehenden Ostergottesdienst auch gut voran?“

„Ja, vielen Dank!“ entgegnet er freudig, „Die Hauptprobe haben wir bereits gut über die Bühne gebracht.“

‚Aha, ein Pfarrer!’ geht es mir kurz durch den Kopf.

Ungewollt höre ich den beiden Bekannten bei ihrer Unterhaltung zu.

Der angekommene Geistliche macht durch seine ruhige und besonnene Art auf mich einen sehr interessanten Eindruck. Wie es scheint, ist er des Öfteren hier auf dem Lindenhof und kennt die beiden Schachspieler bestens.

Das Gespräch zwischen den beiden ist jetzt sporadischer geworden.

Der jüngere, schlaksige Spieler macht in der Zwischenzeit einen geschickten Vorstoss mit der schwarzen Dame und einem gut postierten Läufer auf seiner rechten Spielseite. Fachmännisch verzieht er dabei keine Mine.

„Sind sie von Beruf Fotograf?“ werde ich aus meinen Gedanken gerissen.

Der Pfarrer sieht mir bei seiner Frage direkt in die Augen. Dann wendet er seinen Blick auf die geöffnete schwarze Fototasche, die ich mir vor wenigen Minuten neben die Füsse hinstellte, als ich mich nach dem Fotografieren der Spieler wieder hingesetzt hatte.

„Aha, sie denken wegen der Fototasche. Das ist erst eine grosse Leidenschaft von mir. Ich habe heute einige Fotografien von Sehenswürdigkeiten aus Zürich geschossen. Nun hoffe ich, dass mir dabei ein paar gute Bilder gelungen sind.“

„Dann haben sie sicher auch Aufnahmen von den Münstern gemacht. Die reformierten Kirchen hier in Zürich finde ich sehr faszinierend. Sie sind auch ein Grund, wieso ich Pfarrer geworden bin. Mein Name ist übrigens Bruno Mächler.“ Gestreckt hält er mir seine rechte Hand zum Gruss hin.

Mit einem Lächeln im Gesicht reiche ich dem Pfarrer die Hand und stelle mich ihm kurz vor. Sein kräftiger Händedruck und seine offene Haltung beeindrucken mich dabei erneut.

Wir unterhalten uns über die vielen Sehenswürdigkeiten, die ich heute in der Stadt abgelichtet hatte und anschliessend über meine Wohngemeinde im Zürcher Oberland.

Da mittlerweile die Sonne schon hoch am Himmel steht, ist es auf unserer Parkbank unter dem jungen, spärlichen Grün der knospenden Äste der Linden drückend warm geworden.

„Ja, in der kleinen Stadt Uster hatte ich früher auch mal das Amt als Pfarrer praktiziert. Damals, bevor ich viele Jahre später in die Stadt Zürich gekommen bin.“ Seine grauen Haare glänzen jetzt in einer majestätisch silbernen Pracht in der Sonne. „Ein sehr schönes Städtchen, mit einem noch schöneren Schloss.“

„Da gebe ich ihnen Recht Herr Pfarrer. Jeden Morgen, wenn ich den Fensterladen im dritten Stock von meinem Zimmer aus öffne, wird mir eine fantastische Aussicht auf das Schloss und die benachbarte Kirche geboten.“

Im Verlaufe des weiteren Gesprächs zwischen uns schlägt Bruno Mächler das linke Bein über das Rechte und wendet seinen Oberkörper immer stärker mir zu.

Unter dem dunklen Kittel trägt er ein blütenweisses, bis zum Halse hin zugeknöpftes Hemd. Da er nun seinen Oberkörper gänzlich zu mir dreht, kommt eine über dem Hemd getragene Halskette zum Vorschein.

Über seiner leicht vorgebeugten Brust wird nun ein schlichtes, hölzernes Kreuz sichtbar.

Während wir weiter diskutieren schiebt sich ein zweiter Anhänger in Form einer flachen, runden Brosche an der Halskette unter seinem Anzug hervor und zeigte sich mir neben dem hölzernen Kreuz.

Ein goldenes Symbol auf der dunklen Brosche glänzt in der Sonne und reflektiert die Strahlen mir direkt in die Augen. Mein Blick bleibt durch diese Irritation an diesem runden Anhänger haften. Es sah aus wie ein kleines j das in ein grosses, geschwungenes W eingegliedert wurde.

„Ich dachte bis anhin immer, dass ein reformierter Pfarrer ausser einem schlichten Kreuz keine weiteren Anhänger um den Hals trägt. Was bedeutet dieses goldene Symbol, das sie da an der Halskette tragen?“ frage ich ihn verwundert.

Sein Gesichtsausdruck ändert sich bei meiner Frage auf einen Schlag. Seine gepflegten Augenbrauen ziehen sich zusammen und über seiner Stirn bilden sich düstere Runzeln.

Mit einer leicht aufgerauten Stimme sagt er zu mir: „Das ist ein Anhänger, der für mich sehr viel von Bedeutung hat. Für mich persönlich ist es fast gleichbedeutend wie das Kreuz von Jesus Christus, aber auf eine andere Art und Weise. Es wird mich mein Leben lang an zwei ganz besondere Personen erinnern, die mir früher sehr nahe standen und mir an mein Herz gewachsen sind.“

Jetzt weiss ich, dass sich da ein ganz interessantes Gespräch zwischen uns anbahnen könnte. Seine veränderte Haltung mir gegenüber und der traurige Ausdruck in seinen Augen lassen mich darauf schliessen, dass es sich bei diesen Personen für den Herrn Pfarrer um eine sehr delikate Angelegenheit handelt.

Der bärtige Schachspieler, der dem Anschein nach unser Gespräch ein bisschen mit verfolgt hatte, sieht mich mit einem mahnenden Blick an und sagt: „Da haben sie einen besonders wunden Punkt beim Herrn Pfarrer Bruno gefunden. Ich schlage ihnen vor, dass sie da nicht tiefer auf diese Geschichte eingehen.“

Bruno Mächler winkt ihm mit der Hand kurz ab. „Herr Huber hat schon Recht. Sie haben einen wunden Punkt bei mir getroffen, der mich für lange Zeit in eine tiefe Depression gebracht hat. Einzig die Hilfe meiner wunderbaren Frau Verena und mein starker Glaube an Gott, der mich unerschütterlich an eine Gerechtigkeit auf dieser Welt glauben lässt, haben mir wieder einen Sinn im Leben zurück gegeben.“

Gespannt darauf, ob er mir jetzt die Geschichte erzählt, frage ich ihn: „Sehe ich das richtig? Das sind doch zwei Buchstaben, die ein kleines j in einem grossen W vereint darstellen.“

„Ja. Es sind die Initialen von einer dieser Person oder besser gesagt, sie stehen für seinen Spitznamen, den ich dem Jungen früher gelegentlich gegeben habe. Die Initialen auf dieser Brosche stehen für ‚junger Wilder’. Der bürgerliche Name des jungen Mannes war René Wilder. Er dürfte ungefähr in ihrem Alter gewesen sein.“

„Etwa dreiundzwanzig?!“

„Ja, er ist nicht mehr als einen Monat nach seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag auf äusserst tragische Weise zusammen mit seiner jüngeren Schwester um das Leben gekommen. Am meisten schmerzt mich, dass ich das tragische Ereignis verhindern hätte können, wenn ich nur zur rechten Zeit am richtigen Ort gewesen wäre.“

 

Seine Augen sind leicht feucht. Sie glänzen in der Sonne. Sie starren irgendwo in das Leere, als suchen sie da eine Antwort auf das, was einst vorgefallen war.

„Wissen sie“, spricht er zu mir weiter, „das Paradoxe an der ganzen Geschichte ist für mich, dass ich mich, nach den unzähligen Auseinandersetzungen und Gesprächen mit Gott begleitet mit einem ständigen innerlichen Wiederwillen, im Nachhinein immer stärker dem Glaube hingebe, dass das Geschehene doch das einzig Richtige für die beiden zu diesem Zeitpunkt sein musste und ich mittlerweile gelernt habe, ihren gemeinsamen Willen respektvoll hinzunehmen.“

Er wirkt auf mich einiges Älter als vorhin, wo er sich zu mir auf die Bank gesetzt hatte.

„Kommen sie“, spricht der Pfarrer zu mir, „ich möchte ihnen etwas zeigen, es ist nicht weit von hier.“

Wir stehen gemeinsam von der Sitzbank auf. Ich lege mir die Fototasche am Trageriemen quer über die linke Schulter und folge ihm nach.

Während wir auf dem grobkörnigen Kies nebeneinander über den Platz gehen, erzählt er weiter: „Wissen sie, das Leben kann für einen Menschen sehr hart und realitätsfremd sein, so auch für René Wilder. Ich bin davon überzeugt, dass er für sein junges Alter ein sehr starker und verantwortungsbewusster Mensch war. Ich kannte ihn und seine Familie schon von klein auf. Er und seine Schwester Sarah hatten bei einem selbstverschuldeten, schweren Verkehrsunfall schon früh ihre Eltern verloren und wurden dadurch zu Vollweisen. Anschliessend nahmen meine Frau Verena und ich die beiden Kinder für eine Zeit bei uns auf. Während ihrem Aufenthalt im Kinderheim sind sie danach zu mir in den Religionsunterricht gekommen. René hatte es mir früher nicht immer einfach gemacht. Er und sein bester Freund Ritschi, waren im Internat zwei richtige kleine, aber doch liebenswerte Rebellen gewesen.“

Ein leichtes Lächeln huscht ihm über die Lippen.

„So habe ich René dann auch schnell einmal den Übernamen ‚junger Wilder’ gegeben“, so der Pfarrer. „Seine blonden Haare, seine zunehmende Fröhlichkeit und seine Vitalität kamen bei vielen Leuten sehr gut an. Mit seiner anmutigen Eleganz hatte er auch bei manchen jungen Mädchen die Herzen gebrochen. Zudem wusste er immer, wie er seinen Scharm einzusetzen brauchte, um an sein Ziel zu kommen.“

Das gebrochene Kies unter unseren Füssen knirscht leise beim weiter gehen.

Wir spazieren gemächlich am runden Brunnen mit der Statue der heldenhaften Zürcherin vorbei zur Aussichtsstelle.

Neben der Pumpstation, die als kleiner Turm mit Schrägdach vor der Ummauerung steht und den Brunnen sowie die Altstadt früher mit Wasser aus der Limmat versorgte, bleiben wir stehen.

Vor uns macht sich der Blick über die Dächer der Häuser zwischen dem Lindenhof und der Schipfe am linken Ufer des Flusses auf. Es wird uns ein wunderbarer Ausblick auf die andere Seite des Flusses mit der gegenüberliegenden Altstadt geboten.

Die grün gestrichenen Sitzbänke, die vor der abgrenzenden Mauer liegen, sind nun vereinzelt von Besuchern besetzt.

Vor der hüfthohen Mauer stehend, streckt der Pfarrer den rechten Arm aus und deutet auf das gegenüberliegende Limmatufer.

„Sehen sie“, spricht er weiter, „das hier war später seine Heimat gewesen, wo er gelebt hatte. Ja, genau da, auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses, in diesem älteren Haus mit Ziegelsteindach, da hatte er im obersten Stockwerk mit seiner Katze Siddhartha bis zu seinem Tod hin, in einer kleinen Wohnung gehaust.“

Wir stehen da, dicht an der Ummauerung und sehen an die Häuserfront des uns entgegengesetzten Flussufers. Auf dem Limmatquai bewegen sich das Volk, die vielen Fahrzeuge und die blau-weissen Zürcher Strassenbahnen hin und her.

Das Haus, auf das der Pfarrer gezeigt hatte, ist dem Aussehen nach um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts renoviert worden.

Die Bewohner des Hauses hatten auf die Fenstersimse, bezeichnenderweise als Vorboten des Frühlings, schon die ersten Blumenkästen gestellt.

Im obersten Stock stehen die Fenster der vom Pfarrer gezeigten Wohnung weit offen. So als wolle da jemand die stickige, abgestandene Luft, die sich über die langen Wintermonate gebildet hat, aus seiner Wohnung treiben.

‚Man gewinnt nur einmal im Leben. Bei der Geburt.

Danach verliert man.

Von Tag zu Tag…’

[1] ‚Er ist’s’ von Eduard Mörike (1804 – 1875)