Loe raamatut: «Das Menschenbild für die Heilpädagogik»
Urs Haeberlin | Das Menschenbild für die Heilpädagogik |
Beiträge zur Heil- und Sonderpädagogik
Beiträge zur Heil- und Sonderpädagogik
Begründer der Reihe: Prof. em. Dr. Urs Haeberlin, Universität Freiburg (CH) Mitherausgeber: Prof. Dr. Gérard Bless und Prof. Dr. Winfried Kronig, Universität Freiburg (CH)
Urs Haeberlin
Das Menschenbild für die Heilpädagogik
6. Auflage
Haupt Verlag
Bern · Stuttgart · Wien
Urs Haeberlin, Prof. Dr. phil., Jahrgang 1937,
Emeritierter Ordinarius für Heilpädagogik an der Universität Freiburg (Schweiz)
1. Auflage: 1985
2. Auflage: 1990
3. Auflage: 1994
4. Auflage: 1998
5. Auflage: 2003
6. Auflage: 2010
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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ISBN 978-3-258-47602-5
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Vorwort zur 6. Auflage
Es ist mehr als zwanzig Jahre her, seit die erste Auflage dieses Buches erschienen ist. Im heutigen Wissenschaftsbetrieb verkürzt sich die Aktualitätsdauer von manchen Fachbüchern zunehmend. Man wird mich möglicherweise fragen, ob es sinnvoll ist, das vorliegende Buch in unveränderter Form in einer sechsten Auflage erscheinen zu lassen. Ja, das ist es! Denn es handelt sich um ein Buch, das dem Trend zur Kurzlebigkeit und dem Zwang zur Aktualisierung widerstehen darf und muss. Ich habe dieses Buch nie mit der Ambition verbunden, eine Thematik auf dem neuesten Stand der Forschungsliteratur umfassend zu präsentieren und selbstherrlich die gewohnte Rolle des Wissenschaftlers zu spielen. Sondern es war das Ergebnis langer persönlicher Auseinandersetzungen mit Grundfragen des Menschseins. Es sind Sinnfragen, die nicht einfach ihre Aktualität verlieren. Das Buch war und ist nicht mit dem Anspruch verbunden, lehrbuchartig Wissen zu vermitteln. Schon im Vorwort zur ersten Auflage hatte ich betont, dass sich der Inhalt nicht dazu eignet, ihn im Rahmen von Prüfungen abzufragen. Es geht mir um etwas anderes als um das Vermitteln von Lehrbuch- und Prüfungswissen. Ich hoffe, dass einige Leser und Leserinnen von den Grundfragen ähnlich betroffen sein werden, wie ich es immer noch bin. Wer dem ausweicht und das Buch allein nach formalen Wissenschafts- und Lehrbuchkriterien beurteilen will, braucht es nicht zu Ende zu lesen, um zur negativen Kritik zu kommen: ungebührlich kurzes Literaturverzeichnis, Literatur nicht auf neuem Stand, willkürliche Auswahl von Autoren, spekulatives Denken und weitere Verstösse gegen «Standards heutiger Wissenschaftlichkeit». Ich kann diese Art von Meinungsbildung nicht verhindern. Aber ich hoffe gleichwohl auf Leser und Leserinnen, welche meine Negation von Standards als Ergebnis des Ringens um Sinnfindung erkennen und anerkennen. Ich will und kann niemandem vorschreiben, Betroffenheit mit mir zu teilen. Aber ich erbitte mir soviel guten Willen, dass man meine andauernde Betroffenheit von existentiellen Sinnfragen respektiert. Ich bin allen Lesern und Leserinnen dankbar, welche die Lektüre des Buches mit dieser Haltung in Angriff nehmen.
Urs Haeberlin
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Menschenwert
1. Problemstellung
2. Heilpädagogik und Menschenbild
2.1 Die Fragestellungen einer heilpädagogischen Anthropologie
2.2 Gefahren von nicht-bewussten Menschenbildern
2.3 Identität als Ziel der menschlichen Entwicklung
2.4 Sozialbestimmte gegen personbestimmte Identität
3. Konkretisierung der Problematik
3.1 Ein Fallbeispiel
3.2 Verhalten als Ausdruck von Identitätssuche
4. Identität als Reaktion auf soziale Erwartungen
4.1 Eine sozialpsychologische Identitätstheorie als Beispiel
4.2 Deskriptive und normative Funktion der Theorie
4.3 Bewertung der Theorie als Menschenbild
5. Identität zwischen sozialer Abhängigkeit und individueller Autonomie
5.1 Darstellung des Widerspruchs an einer sozialphilosophischen Theorie
5.2 Soziale Abhängigkeiten trotz Identitätsbewusstsein
5.3 Bewertung für das Menschenbild in der Heilpädagogik
6. Identitätsverlust durch die totale Entfremdung
6.1 Der entfremdete Mensch in der kapitalistischen Gesellschaft
6.2 Misslingende Ausbruchversuche
6.3 Der Widerspruch zwischen Realität und Utopie
7. Entwurf des Menschenbildes für die Heilpädagogik
7.1 Verlust der biologischen Identität als Ausgangspunkt
7.2 Beschreibung und Erklärung des Menschen als gesellschaftliches Wesen
7.2.1 Theoreme eines auf gesellschaftliche Identität reduzierten Menschenbildes
7.2.2 Gesellschaftliche Identität in einer demokratischen Gesellschaft
7.3 Postulat der Vermenschlichung zum sittlich-religiösen Wesen
7.3.1 Wertentscheidungen
7.3.2 Sinnfindung
7.3.3 Gesellschaftliche Bedingungen für Vermenschlichung
7.3.4 Normative Grundannahmen des Menschenbildes
7.4 Das ganzheitliche Menschenbild als Grundlage der Heilpädagogik
8. Vermenschlichung als ganzheitliche Entwicklung
8.1 Ein normativer Entwicklungsbegriff
8.1.1 Entwicklung zur sittlichen Haltung
8.1.2 Entwicklung zur religiösen Haltung
8.2 Entwicklung zum «Inneren Halt»
8.2.1 Willensstärke
8.2.2 Gefühlstiefe
9. Ein Menschenbild für den Behinderten?
Abgesang
Literaturverzeichnis
Menschenwert
Der Mensch: nichts und alles.
Von allem Laub, das vorüberging
In Jahrtausendherbsten unendlichen Falles
Ein Blatt, bald verweht, ein geringes Ding.
Sein Herz ein Funke in Myriaden
Die über des Himmels Finsternis gehn,
Von des Ewigen quellender Unrast doch ganz beladen,
An seinem verlorenen Orte tröstlich und schön.
Liebender Wollust und einer Kreissenden Marter,
In Kriegen verschwendet, verworfen und nicht gezählt,
In seinem Inneren jeder von heimlich zarter
Verwundbarkeit und vor Gott erwählt.
Seine Geschichte: Blut, Schandtat, doch für die Blüte
Der Schönheit an Domen und Sinfonien,
Für eines Auges still träumende Menschengüte
Ist ihm in Ewigkeit und von Grund auf verziehn.
Albin Zollinger
1895–1941
1. Problemstellung
Dieses Buch befasst sich mit dem Menschenbild, welches den erzieherischen Umgang des Heilpädagogen mit dem behinderten Kind beeinflussen soll. Ziel ist die gedankliche Hinführung des Lesers zur Entscheidung für die Werte der Würde und der Gleichheit aller Menschen. Das Postulat von heilpädagogischen Grundwerten finden wir schon bei Heinrich Hanselmann. Wenn wir von seiner zeitbezogenen und oft eigenwilligen Begrifflichkeit absehen, dann kann ich behaupten, dass ich mit Hanselmann der Meinung bin, dass Heilpädagogik nicht einfach eine «Aufpäppelung des Schundes» und des «Abfalls der Menschheit» sei, sondern eine «Aufbauarbeit in der Richtung auf die individuelle und kollektive Menschenwürde» (1958, 550). Betrachteten wir den Behinderten als «Abfall der Menschheit», würden wir uns an einem Menschenbild orientieren, das zwischen eigentlichen Menschen und Untermenschen trennt; diese Auffassung würde unsere Einstellung und unser Verhalten gegenüber dem behinderten Kind entscheidend beeinflussen. Wenn wir hingegen dem Behinderten die gleiche Menschenwürde zusprechen wie uns selbst, dann wird sich diese Auffassung ebenfalls im Verhalten gegenüber dem behinderten Kind niederschlagen. In der vorliegenden Heilpädagogik ist die Entscheidung für die zweite Auffassung unwiderruflich gefallen. Diese Entscheidung bedeutet: Eine heilpädagogische Anthropologie darf sich nicht von einer umfassenden Anthropologie unterscheiden. Anders ausgedrückt: Wir haben uns dafür entschieden, dass für das behinderte Kind das gleiche Menschenbild Gültigkeit haben soll wie für uns selbst. Die Suche nach einem Menschenbild wird also im vorliegenden Rahmen nicht in erster Linie Suche nach einem Menschenbild für das behinderte Kind sein, sondern Suche nach einem Menschenbild, das für uns selbst Gültigkeit hat. Aufgrund der gefällten Entscheidung müssen wir ein für uns gültiges Menschenbild finden, welches im gleichen Sinne Gültigkeit für behinderte, bzw. für alle Menschen haben kann. Die Entscheidung für die gleiche Würde aller Menschen ist nicht rationallogisch begründbar. Es handelt sich um eine Wertentscheidung und ist als solche einer rationalen Begründung nicht zugänglich. Es lässt sich aber zeigen, dass derartige anthropologische Entscheidungen das praktische Handeln der Erzieher, die Erkenntnisse der Wissenschaft und Vorstellungen der Wissenschaft von den der Heilpädagogik angemessenen Erkenntnismethoden beeinflussen. Es spielt keine Rolle, ob wir uns als Praktiker oder ob wir uns als Wissenschaftler mit Heilpädagogik befassen; in beiden Fällen bildet ein Menschenbild die Grundlage unseres Tuns und unseres Erkennens.
Wenn wir uns als Praktiker ohne Wissenschaft (ohne «Theorie») mit der Erziehung behinderter Kinder beschäftigen, machen wir uns dennoch – möglicherweise ohne Bewusstsein – ein Bild vom behinderten Kind; solange wir uns dieses Bild bewusst machen, kann es viele Elemente von Vorurteilen aufweisen. Im Alltag wird die heilpädagogische Praxis relativ häufig von festen behinderungsspezifischen Meinungen über das besondere Wesen eines behinderten Kindes geprägt. Beispielsweise hat man festgestellt, dass im Alltagsleben relativ viele Menschen einem Sonderschüler ein besonderes Wesen zuschreiben. Man macht sich ein festes Bild von Kindern, die eine spezielle Klasse besuchen müssen, und wird damit dem menschlichen Bedürfnis nach Vereinfachung und Klassifizierung gerecht. Ob dieses Bild den Sonderschülern gerecht wird, wird dann gar nicht mehr gefragt. Sonderschüler werden im Alltag häufig ihrem Wesen nach als faul, frech und streitsüchtig gesehen; teilweise wird diesen Kindern direkt die Schuld dafür zugeschrieben, dass sie keine positiven Eigenschaften entwickelt haben. Dahinter steckt die nicht bewusste Alltagsmeinung, dass jeder Mensch einen freien Willen habe, mit dem er so oder so umgehen kann. Wer mit diesem Menschenbild Kinder klassifiziert, wird dann eben eine Unterscheidung treffen zwischen Kindern, welche ihren Willen für die Entwicklung positiver Eigenschaften einsetzen, und Kindern, welche gleichsam böswillig negative Eigenschaften entwickeln. Dieses Menschenbild kann relativ leicht zur Schuldigsprechung des Kindes führen: «Wenn ein Kind eben nicht richtig will, dann ist es selbst schuld».
Da es ein menschliches Bedürfnis nach Vereinfachung und Klassifizierung gibt, ist es nicht zu verhindern, dass wir uns Bilder von Menschen und Menschengruppen machen. Aber es ist ein entscheidender Unterschied, ob wir uns der Klassifikation und deren Folgen bewusst sind, oder ob wir mit nicht-bewussten Menschenbildern unser Leben und das Leben anderer gestalten. Im zweiten Falle kommt es zur Gewohnheit, andere Menschen zu verurteilen, ohne es zu wissen.
Dieses Buch möchte erreichen, dass sich heilpädagogisch Tätige der Gefahren solcher Gewohnheiten bewusst werden. Es soll dazu anregen, sich während der heilpädagogischen Arbeit immer wieder die Frage zu stellen, welches allgemeine Menschenbild und welches Bild von diesem oder jenem behinderten Kind das eigene erzieherische Handeln beeinflussen. Das vorliegende Buch hat sein Ziel dann erreicht, wenn es zur Selbstkritik und Selbsterkenntnis von Heilpädagogen und anderen Personen in helfenden Berufen anregt.
Der wissenschaftlich arbeitende Heilpädagoge steht ebenso in der Gefahr, dass er durch die Brille von Theorien zu Meinungen kommt, die zwar wissenschaftlich formuliert tönen, aber ebenfalls ein nicht-bewusstes allgemeines Menschenbild und ein nicht-bewusstes Bild vom behinderten Kind enthalten. Beispielsweise hat es immer wieder Theoretiker gegeben, welche den behinderten Menschen einseitig durch die Brille einer medizinischen Sichtweise sehen. Solche Theoretiker konzentrieren sich auf die Untersuchung von Ursachen der Behinderung in der physischen und psychischen Konstitution des Betroffenen. Durch die Brille solcher Theoretiker ergibt sich relativ schnell eine Gleichsetzung von Menschsein mit Gesundsein. Was von der Gesundheit abweicht, erscheint dann als abweichend vom sinnvollen Menschsein. Damit vollzieht der Theoretiker, trotz scheinbarer wissenschaftlicher Objektivität, eine negative Wertung von bestimmten Formen des Menschseins. Da es dabei auch um den Begriff der Gesundheit im psychischen Bereich geht, ist der Schritt zu einem Menschenbild, das sich an Werten wie Schönheit und Stärke orientiert, schnell gemacht. Wenn ein Theoretiker diesen Schritt macht, dann wird ein negatives Bild des heilerziehungsbedürftigen Menschen die Grundlage seiner Heilpädagogik bilden: Im Rahmen eines so entstandenen Menschenbildes erhält Behindertsein eine vorwiegend negative Bedeutung als Abweichung von einer Normalität des Gesunden, Schönen und Starken. Im Behinderten wird ein defekter Mensch gesehen. Wenn der Defekt nicht behoben werden kann, bleibt eigentlich nur noch die Resignation.
Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie auch auf der Ebene der Wissenschaft Menschenbilder geschaffen werden, die sich negativ auf die Beziehung zum behinderten Kind auswirken. Wissenschaftliche Erkenntnisse über Probleme des Behindertseins kommen in der Regel dadurch zustande, dass die Probleme durch die Brille einer einengenden Theorie geordnet und strukturiert werden. Theorien strukturieren die Probleme meistens so, dass nur ein bestimmter Aspekt des Phänomens Behinderung in seiner Ganzheit wissenschaftlich untersucht wird. Es gehört sogar zum Wesen einer bestimmten Art von wissenschaftlichem Denken, zu zergliedern, mit vereinfachenden Modellen zu forschen und sich in das Studium von Teilaspekten zu vertiefen. Wissenschaft steht immer in der Gefahr, Teilerkenntnisse mit der ganzen Erkenntnis zu verwechseln. Wenn eine aufgrund eines vereinfachenden Modells gefundene Teilerkenntnis als Gesamterkenntnis behandelt wird, führt dies zu einem nicht-reflektierten Menschenbild, durch welches alle Wahrnehmung von Behindertsein gefiltert wird. Somit steht auch der Wissenschaftler in der Gefahr, sich über das Menschenbild, welches seine Erkenntnisse leitet, keine Rechenschaft mehr abzulegen. Wie im Alltagsleben kann es auch im wissenschaftlichen Leben (als Teil des Alltagslebens) zu einem Komplex von Vorurteilen kommen, welche dem behinderten Menschen die allgemeine Menschenwürde absprechen.
Diese Feststellungen über Praxis und Theorie lassen sich in der folgenden These formulieren: Auffassungen über das Wesen des Menschen allgemein und über das Wesen des Behinderten im Speziellen sind in der praktischen und in der wissenschaftlichen Heilpädagogik vorfindbar. Nicht nur jede Alltagsmeinung, sondern auch jede wissenschaftliche Erkenntnis über Probleme des Behindertseins enthält eine anthropologische Komponente, welche unsere Beziehung zum behinderten Kind, bzw. zum Mitmenschen überhaupt grundlegend beeinflusst.
Aus dieser These ergibt sich zwingend die Forderung nach einem logisch ersten Schritt beim Aufbau einer praktischen oder theoretischen Heilpädagogik: Es sollen die Grundzüge jenes Menschenbildes gesucht und diskutierbar gemacht werden auf welchen heilpädagogische Erkenntnis und heilerzieherische Tätigkeit basieren sollen. Wenn wir von der anfangs formulierten Grundentscheidung für die Einheit des Menschenbildes ausgehen, muss die vorliegende Schrift Anregungen zur Lösung der folgenden Probleme geben:
Der praktische und der wissenschaftliche Heilpädagoge muss sich über die Grundhaltung zum eigenen Menschsein klar werden. Er muss für sich selbst eine Vorstellung davon erarbeiten, wie er sich selbst als Mensch und wie er sein Verhältnis zu den anderen Menschen definieren will. Der erste Schritt in einer heilpädagogischen Anthropologie, in der es um die allgemeine Menschenwürde geht, ist gerade nicht der Schritt zu einer speziellen Anthropologie der Behinderten; sondern es geht um Selbsterkenntnis und Selbsterziehung des Heilpädagogen als Mensch. Da ich mich dazu entschieden habe, dass für alle Menschen das gleiche Menschenbild Gültigkeit haben soll, kann es nicht eines für die Behinderten und eines für mich als Heilpädagogen geben.
Obschon das vorliegende Buch eine heilpädagogische Anthropologie sein will, geht es darin nicht um die Erarbeitung einer Anthropologie der Behinderten. Sondern es geht in erster Linie um die Erarbeitung eines Menschenbildes, das für uns Heilpädagogen Gültigkeit haben soll. Wenn wir für uns selbst um ein Menschenbild ringen, das als Grundlage die Entscheidung für die allgemeine Menschenwürde hat, wird es alle Menschen, auch den behinderten Menschen, mit umfassen. Somit wird es in diesem Buch um uns selbst gehen. Wir werden primär der Frage nach uns selbst nachgehen. Erst wenn wir zufriedenstellende Antworten auf die Frage nach unserer eigenen Identität gefunden haben, dürften wir den Schritt zu Fragen nach Identitätsproblemen von Behinderten machen.
Ich werde von der These ausgehen, dass wir unsere menschliche Identität dann entwickeln können, wenn wir das Gefühl haben, unsere Person sei etwas in sich Zusammenhängendes bezüglich des Fühlens, Denkens und Tuns. Dieses Identitätsgefühl ist das Ziel unserer Vermenschlichung. Mit «Vermenschlichung» bezeichne ich den lebenslangen Prozess der Identitätsentwicklung, der nie endgültig an ein Ziel gelangen kann. Der «gute» Heilpädagoge ist derjenige, der sich lebenslang um die eigene Vermenschlichung bemüht und der sich mit demselben Ziel der Erziehung behinderter Kinder und Jugendlicher widmet. Ein Heilpädagoge, der dies nicht tut, wird entweder das Kind durch andauernde äussere Geschäftigkeit verunsichern oder so in Routine erstarren, dass er ohne Ausstrahlung von Freude und innerem Erfülltsein bleibt.
Die Frage nach unserer eigenen Identität wird uns zur folgenden existentiellen Grundfrage führen:
– Bin ich das, was ich heute bin, geworden, weil es das zufällige Schicksal so bewirkt hat?
– Oder bin ich das, was ich heute bin, durch meine eigene Entscheidung und Leistung geworden?
Diese Grundfrage lässt sich auch so formulieren: Bin ich ein Subjekt mit Freiheitsspielraum oder bin ich ein Spielball undurchschaubarer gesellschaftlicher Mächte?
Die Grundfrage begegnet uns in verschärfter Form, wenn wir nach der Identitätsentwicklung von behinderten Kindern fragen:
– Sind wir der Meinung, dass ein behinderter Mensch Subjekt bleiben soll, auch wenn die Behinderung noch so schwer ist?
– Oder sind wir der Meinung, dass ein Mensch umso mehr als abhängiges Objekt behandelt werden soll, je stärker die Behinderung ist?
Im Verlaufe unserer Untersuchungen werden sich diese Fragen immer deutlicher als die Schlüsselfragen herausstellen.
2. Heilpädagogik und Menschenbild
2.1 Die Fragestellungen einer heilpädagogischen Anthropologie
Heilpädagogik ist in erster Linie Pädagogik. Somit werden wir uns mit den gleichen Fragestellungen beschäftigen wie die pädagogische Anthropologie. Diese hat in ihren Fragestellungen die Besonderheit des Erziehungsprozesses zu berücksichtigen. Erziehung umfasst die Hilfestellungen, durch welche sich ein Mensch von einem aktuellen unfertigen Zustand zu einem von Erziehungsverantwortlichen als aufgegeben empfundenen Zustand fortentwickeln soll. Kurz: Erziehung ist Hilfe bei der Entwicklung von einem Ist-Zustand zu einem Soll-Zustand. Oder noch kürzer: Erziehung ist Hilfe zur Vermenschlichung. Bei dieser erzieherischen Hilfestellung wird seitens der Erzieher angenommen, dass der als aufgegeben empfundene Soll-Zustand mehr Lebenssinn hat als der aktuell gegebene Zustand. Damit ergeben sich die folgenden drei Grundfragen einer pädagogischen Anthropologie:
1. Was ist der Mensch besonderes, wenn man ihn mit den übrigen Lebewesen vergleicht? – Es kann um die Frage gehen, ob im Menschen alles Besondere so angelegt ist, dass er sich am besten ohne Eingriff von aussen entwickelt. Diese Frage beantwortete Rousseau mit der Annahme, dass das Kind von Natur aus schon mit allem Besonderen ausgestattet sei. Es kann um die Frage gehen, ob der Mensch von Natur aus ein Lebewesen mit Mängeln sei, das im Unterschied zu allen anderen Lebewesen nur durch Erziehung überleben und zum Menschen werden kann.
2. Was soll der Mensch Besonderes werden? Welches ist das Ziel, zu dem sichjeder einzelne Mensch entwickeln soll? Beispielsweise geht es um die Frage, ob das Ziel der Erziehung eines Kindes der autonome Vernunftmensch zu sein habe, oder ob das Ziel der Erziehung ein Mensch sein soll, der sich fraglos einem Kollektiv unterordnet?
3. Welchen Sinn hat es, das menschliche Leben als etwas sich zwischen Sein und Sollen Entwickelndes zu verstehen? Welchen Sinn hat es, einen Menschen auf einen Soll-Zustand hin zu erziehen und ihn nicht im Ist-Zustand zu belassen? Beispielsweise geht es um die Frage, ob der Sinn der Erziehung darin liegt, dass sich mit ihrer Hilfe kulturelle Werte von Generation zu Generation erhalten können? Oder liegt der Sinn eher im Erreichen einer möglichst ungehemmten Bedürfnisbefriedigung?
Wenn wir diese Grundfragen nicht klären, dann werden wir als Heilpädagogen häufig Therapien anwenden, von welchen wir gar nicht wissen, im Dienste welcher übergeordneten Ziele sie stehen. Wir stellen uns damit in den Dienst irgendeiner Weltanschauung, ohne dies zu merken.
Der Heilpädagoge wird mit einer vierten Frage besonders intensiv konfrontiert:
4. Welche Bedeutung hat Behindertsein für uns Menschen? Wenn ein Mensch behindert ist, dann kann dies für ihn unter Umständen bedeuten, dass seine Vermenschlichung gehemmt oder erschwert ist. Es stellt sich beispielsweise die Frage, ob Behindertsein für Nicht-Behinderte die Bedeutung haben soll, sich über die eigene «Normalität» zu freuen? Oder soll Behindertsein bedeuten, dass sich alle Menschen ihrer Unvollkommenheit bewusst werden?
2.2 Gefahren von nicht-bewussten Menschenbildern
Ich habe bereits im vorherigen Kapitel darauf hingewiesen, dass die Klärung von anthropologischen Grundfragen für die heilpädagogische Praxis unbedingt erforderlich ist. Ich möchte im Folgenden nochmals etwas ausführlicher auf die wichtigste Begründung dieses Postulats eingehen: Wir wären in der heilpädagogischen Praxis handlungsunfähig, wenn unser Tun nicht spontan durch den Filter eines bestimmten Menschenbildes vorsortiert würde. Aufgrund dieser Notwendigkeit stehen wir als reine Praktiker andauernd in der Gefahr, dass wir uns wegen Arbeitsüberlastung und Zeitmangels keine Rechenschaft über das Menschenbild ablegen, welches unser Tun leitet. So können wir jederzeit Opfer von Vorurteilen, von Ideologien, von Modeströmungen werden. Diese Gefahr droht uns, wenn wir aufhören, über die Grundlagen unseres Handelns nachzudenken, weil uns der Kleinkram der Praxis völlig in Beschlag nimmt. Was unser Tun lenkt, ohne dass wir uns dessen bewusst zu sein brauchen, nennen wir Alltagstheorien. Wenn sich der Praktiker darüber bewusst wird und beginnt, über die versteckten Alltagstheorien nachzudenken, wird er Wissenschaftler und Philosoph. Um dies zu werden, braucht man weder eine Universität zu besuchen noch wissenschaftliche Bücher gelesen zu haben. Ich möchte zwei Beispiele von Alltagstheorien skizzieren, welche die Praxis unterschiedlich beeinflussen können.:
Erstes Beispiel einer Alltagstheorie
Es gibt im Alltag eine Sichtweise, welche die Entwicklungshemmung eines Menschen ausschliesslich durch eine «abnormale» oder «geschädigte» physische oder psychische Konstitution des betreffenden Menschen erklärt. Der entwicklungsgehemmte Mensch wird bei dieser Sichtweise als «abnormal», «geschädigt», «krank», «defekt» gesehen. Durch die Brille dieser Alltagstheorie kann nicht-bewusst die schwerwiegende Entscheidung getroffen werden, dass menschliches Leben nur als gesundes Leben sinnvoll ist. Gesundheit im körperlichen Bereich zu definieren mag relativ einfach sein; aber Gesundheit im psychischen Bereich zu definieren, ist ein Vorgang, der mit vielen wertenden Vorstellungen über den «normalen» Menschen verbunden ist. Bei einer solchen nicht-bewussten Bewertung des menschlichen Lebens kann sich folgendes ereignen:
– Der in der Entwicklung gehemmte Mensch wird als Mensch mit einem «Defekt» gegenüber dem «Gesunden» gesehen. Es wird vom Heilpädagogen erwartet, dass er den Defekt behebt, damit der betreffende Mensch nicht mehr dadurch auffällt oder wenigstens die «gesunden» Menschen nicht belästigt.
– Der in der Entwicklung gehemmte Mensch kommt zu einer Auffassung über sich selbst, die besagt: Ich bin ein defekter Mensch und muss mir also Mühe geben zu werden wie die «Normalen» bzw. die «Gesunden».
– Die Resignation beim Heilpädagogen und beim Entwicklungsgehemmten muss sich automatisch einstellen; denn ein Grossteil von Entwicklungshemmungen lässt sich nicht so heilen, dass der «Defekt» verschwindet. Ein Geistigbehinderter bleibt geistigbehindert; aus einem lernbehinderten Kind wird kein erfolgreicher Normalschüler; ein autistisches Kind wird nicht in jedem Fall zu einem «normalen» Kind.
Diese Alltagstheorie kann sich unter bestimmten äusseren Bedingungen so durchsetzen, dass radikale Massnahmen gegenüber Behinderten ergriffen werden. Sie konnte im Rahmen einer totalitären Ideologie zu extremen Auswüchsen wie dem von Adolf Hitler unterzeichneten Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 und zur Vernichtung von «unwertem Leben» in unvorstellbarem Ausmass führen.
Zweites Beispiel einer Alltagstheorie
Es gibt eine im heutigen Alltag ebenfalls verbreitete Sichtweise, welche die Entwicklungshemmung eines Menschen ausschliesslich durch das Verhalten der näheren sozialen Umwelt erklärt. Die Eltern, die Lehrer, die Sozialarbeiter, usw. sind es bei dieser Sichtweise, die einen Menschen zum entwicklungsgehemmten Menschen «machen». Bei einer unüberlegt einseitigen Sicht durch die Brille dieser Alltagstheorie kann sich folgendes ereignen:
– Der in der Entwicklung gehemmte Mensch wird nur als ein Opfer der sozialen Umwelt gesehen. Man ist der Meinung: Wenn diese soziale Umwelt nicht andauernd abweichendes Verhalten herausgefordert und erwartet hätte, wäre er nicht entwicklungsgehemmt geworden.
– Die Resignation wird sich ebenfalls einstellen. Denn es wird dabei übersehen, dass viele Entwicklungshemmungen ohne die Annahme von konstitutionellen Ursachen nicht angemessen verstanden werden können. Beispielsweise ist ein Geistigbehinderter in der Regel medizinisch nachweisbar geschädigt; und diese Schädigung wirkt sich auf die Entwicklungsmöglichkeiten des betroffenen Menschen aus.
Durch die Brille dieser Alltagstheorie kann nicht-bewusst eine von zwei gegensätzlichen Entscheidungen über menschliches Leben getroffen werden:
– Entweder trifft man die Entscheidung, dass das durchschnittlich normale menschliche Leben das sinnvolle Leben ist.
– Oder man trifft die Entscheidung, dass das durchschnittlich normale menschliche Leben als Erzeuger von entwicklungsgehemmten Menschen auf seinen Sinn hin zu überprüfen und zu behandeln ist. Diese Entscheidung kann unter Umständen zu weiteren Entscheidungen bis hin zum gewaltsamen revolutionären Umsturz unserer gesellschaftlichen Verhältnisse führen.
Man könnte weitere Beispiele suchen, welche zeigen, dass es im Alltag sehr folgenreiche Auffassungen über das Wesen des Menschen im Allgemeinen und über das Wesen des entwicklungsgehemmten Menschen im speziellen gibt. Wenn man einerseits nicht ohne bewusste oder nicht-bewusste Anwendung von anthropologischen Alltagstheorien erziehen kann, und wenn man andererseits mit jeder Alltagstheorie wertende Auffassungen über das Wesen des Menschen vertritt, dann muss das Fundament der Heilpädagogik durch die Suche nach einem Menschenbild gelegt werden.
Wenn man eine Alltagsmeinung über das Wesen des Menschen und über die Bedeutung von Behinderungen unbesehen und unüberlegt vertritt, läuft man Gefahr, ein Menschenbild anzuwenden, welches man möglicherweise gar nicht vertreten möchte. Erst wenn wir bewusst eine Entscheidung treffen, welches Menschenbild gelten soll, können wir bewusst pädagogische Verantwortung übernehmen und auch einzelne heilpädagogische Behandlungsmethoden mit gutem Gewissen anwenden. Ich halte es für unangemessen und verantwortungslos, Behandlungsmethoden zu vertreten und anzuwenden, ohne das Menschenbild zu kennen, welchem die Behandlungsmethode dient. Die Verpflichtung des Heilpädagogen auf ein Menschenbild soll sich nicht durch die unreflektierte Übernahme einer Behandlungsmethode ergeben. Der Vorgang soll umgekehrt sein: Das Menschenbild soll durch bewusstes Nachdenken erarbeitet werden. Die gewählten heilpädagogischen Einzeltheorien und Behandlungsmethoden sollen damit übereinstimmen.
2.3 Identität als Ziel der menschlichen Entwicklung
Wenn wir als Heilpädagogen die Suche nach den anthropologischen Grundlagen unseres Tuns ernst nehmen, dann lässt uns die Frage während unseres ganzen Lebens nicht mehr los, welches das Ziel der Entwicklung jedes menschlichen Individuums sei. Man kann die Frage so stellen: In welcher Richtung soll sich jeder Mensch entwickeln, damit man sagen kann, er habe sich vermenschlicht und ein erfülltes Menschsein realisiert? Unter heilpädagogischer Perspektive spitzt sich das Problem zudem auf die Frage zu, wie sich die allgemeine Vorstellung von Vermenschlichung auf die Haltung gegenüber dem Schwerbehinderten auswirkt. Die Frage nach den anthropologischen Fundamenten enthält als Kernfrage immer die Ziel- und Sinnfrage bezogen auch auf Extremvarianten menschlichen Seins. Notwendigerweise sind anthropologische Fragestellungen für den Pädagogen normative Fragen. Denn wir wollen nicht nur beschreiben, was heute alles durch Erziehung erreicht wird; sondern wir wollen festlegen, welches verbindliche Ziele der Erziehung sind. Als Abkürzung für den Prozess der Entwicklung auf die festzulegenden Ziele hin habe ich das Wort «Vermenschlichung» eingeführt.