Loe raamatut: «Franz Schnyder»
Franz Schnyder Regisseur der Nation
Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Umschlagbild:
Franz Schnyder bei den Dreharbeiten zu «Geld und Geist», 1964.
Lektorat:
Rachel Camina, Hier und Jetzt
Gestaltung und Satz:
Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich
Bildbearbeitung:
Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-503-9
ISBN E-Book 978-3-03919-963-1
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz
Inhalt
Vorspann
Familie Schnyder 1910–1929
Die Theaterjahre 1929–1940
Die ersten drei Spielfilme 1941–1943
Alternative Wege 1944–1953
Mit Gotthelf auf den Zenit 1954–1964
Der Kulturclash – «Papas Kino» wird verdrängt 1965–1983
Das letzte Jahrzehnt 1983–1993
Nachspann
Anhang
Vorspann
Die Sonne scheint schwach durch den leicht bewölkten Himmel über der Emmentaler Kleinstadt Burgdorf am Vormittag des 12. Mai 1992. Ein ganz normaler Dienstag. Das Zähringerschloss thront über der malerischen Altstadt und den darunter liegenden Quartieren. Gegen 8.30 Uhr geht ein alter Mann mit schnellen, kurzen Schritten die Jungfraustrasse entlang.1 Seine Haut ist blass, sein Haar schütter, die Haltung leicht gebeugt über einen Spazierstock. In der Jackentasche umklammert er eine Walther-Pistole, Kaliber 22. Er ist wütend. Und er braucht Geld. Von seiner Villa ist es nicht weit zur Kunstgalerie W. Gerade mal 200 Meter. Aber die 82 Jahre machen sich mit jedem Schritt bemerkbar. Er reisst sich zusammen.
Frau W. hat schon lange das Gefühl, dass Franz Schnyder nicht mehr ganz bei sich ist. Über ihre Galerie haben sie und ihr Mann regelmässig Bilder für den Filmemacher erworben, darunter sehr wertvolle. Alle diese Geschäfte haben sie genau dokumentiert, Expertisen abgelegt, Quittungen aufbewahrt. «Da habe ich auch heute noch ein gutes Gefühl, ein sauberes Gewissen. Nach fast vierzig Jahren», sagt Frau W. Anfang der 1990er-Jahre war Schnyder öfter vorbeigekommen. Dabei hatte er immer wieder mit Strafanzeige gedroht und den Kunsthändlern vorgeworfen, mit seinem Beistand, dem Juristen Franz Zölch,2 unter einer Decke zu stecken und ihn zu betrügen. Doch nicht nur das Ehepaar W. geriet in Schnyders Visier: Auch der Burgdorfer Stadtpräsident und ein Druckereibesitzer hatten bereits Drohbriefe erhalten.
An jenem Morgen steht die freundliche, klein gewachsene Frau mittleren Alters mit den hellen, wachen Augen hinter dem Ladentisch. «Und dann sehe ich ihn. Ich rufe noch nach hinten ins Büro: ‹Achtung, der Schnyder kommt!› – und schon steht er vor mir in hellem Anzug, weissem Hemd und schwarzer Krawatte. Seine senkrechte Ader auf der Stirne, nicht blau ist sie, sondern dunkel, fast schwarz. Unheimlich sieht er aus, wie er mich so fixiert. Blitzgeschwind zückt er eine Pistole. Er richtet sie auf mich! Ich starre auf die Waffe, unbeweglich, trotzdem irgendwie gefasst, und höre zum wiederholten Male seine Vorwürfe. Ich versuche, ruhig zu bleiben. ‹Das hat doch keinen Sinn›, will ich ihn beschwichtigen. ‹Wir können doch reden miteinander. Legen Sie bitte die Pistole auf den Tisch.› Das tut er dann auch, platziert Stock und Pistole zwischen uns. Langsam, ganz langsam, während ich beruhigend auf ihn einrede, versuche ich, die Pistole wegzuschieben. Bevor ich richtig reagieren kann, fasst er aber seinen Stock und schlägt mir damit auf die Hand. ‹Wenn Sie die Pistole noch einmal anfassen›, schreit er mich an, ‹werde ich abdrücken!› Er fordert mich auf, die Ladentüre abzuschliessen und die Storen herunterzulassen. So stehen wir einander gegenüber. Hinten im Büro hat mein damaliger Mann inzwischen die Stadtpolizei angerufen. Rasch, zum Glück, erscheint die Streife, betritt von hinten das Geschäft und verhaftet Franz Schnyder.» Kaum ist er abgeführt, öffnet Frau W. die Ladentüre, zieht die Storen wieder hoch und macht sich erneut an die Arbeit. Sie tut so, als ob nichts geschehen wäre. Erst eine Stunde später kommt der Schock. Sie beginnt zu zittern und bricht zusammen.
Um 8.40 Uhr war der Anruf des Galeristen bei der Stadtpolizei eingegangen. Zwei Polizisten rückten sofort aus. Um 9.06 Uhr erschienen sie mit Franz Schnyder auf der Wache, die Waffe hatten sie ihm bereits im Geschäft abgenommen. Sie war gesichert und nicht durchgeladen. Es befand sich keine Kugel im Lauf, aber vier Patronen im Magazin. Nach einem standardmässigen Vorgehen wurden zunächst Beistand Zölch und dann der Untersuchungsrichter, der Chef der sozialen Dienste sowie der Amtsarzt informiert. Letzterer veranlasste eine Überweisung in die Psychiatrische Klinik Münsingen. Als Schnyder davon erfuhr, rastete er aus und wollte sich mit einem Messer die Schlagader am Handgelenk aufschneiden. Das Messer konnte ihm aber entrissen werden. Um 10.15 Uhr begleiteten ihn zwei Beamte nach Münsingen, wo er in die Psychiatrie eingewiesen wurde.
Während des Klinikaufenthalts tippte der Patient auf einer Schreibmaschine seine Version der Verhaftung zu Papier: «Am 12. Mai 1992 wurde ich mit Brachialgewalt in die Spinnmühle, Münsingen, eingeliefert. Ich war mutterseelenallein in der Fälscherwerkstatt des Ehepaars W. Die Eheleute hatten sich längst vorher mit ihrem Auto davongemacht. ‹Geschichten›, die um die vorausgehende Untat – von mir begangen – ranken, sind pure Erfindungen. Um gezielt die gemeine Festnahme zu rechtfertigen. Wahr allein ist, dass 6 Parasiten der Stadtpolizei, Burgdorf auf mich los stürzten – jubelnd, und hellbegeistert – und nach Schweizer ungewaschenem Hintern stinkend –, mich misshandelten, duzten, wie einen ‹Kopin› aus Krauchthal – und dann den eher mittelmässigen Allgemeindoktor [Dr. Bandi] telefonisch informierten: ‹Sie hätten einen Frauenmörder dingfest gemacht› – nicht verwunderlich, dass der naive Benvenuto Bandi – ohne auch nur mich zu sehen – sofort einen der Kriminellen der Spinnmühle, ein Dr. Kohli, um ‹Unterkunft› für mich bettelte. […] Ich gestehe es (als letzter Gedanke?): ich bin seit 1291 der berühmteste Eidgenosse, mit einem ungeheuren Lebenswerk – (dafür mit vielen, vielen Freunden, die alle es vorzogen, zu schweigen […]: Charakterlos, feige, irreligiös – zum Untergang verurteilt …).»3
Nach rund neun Monaten in der Psychiatrie verstarb Franz Schnyder am 8. Februar 1993 im nahe gelegenen Bezirksspital im Alter von 82 Jahren. Nur drei Monate zuvor erlag sein Zwillingsbruder Felix Schnyder einem Krebsleiden. Der Überfall war der Beginn des tragischen Endes dieses Ausnahmekünstlers. Schnyders Werk prägte den Schweizer Film von den 1940er- bis in die 1960er-Jahre und zog ein heute kaum vorstellbares Millionenpublikum in die Lichtspielhäuser. Er gilt weithin als erfolgreichster Schweizer Filmemacher, war ein Mann mit Vision, Überzeugungskraft und Talent – ob als Theaterschauspieler, Regisseur für Bühne und Film, Filmproduzent, Drehbuchautor oder Konzertorganisator. Er beherrschte sein Metier, war ein exzellenter Schauspielerführer, entdeckte Talente wie Hannes Schmidhauser («Uli der Knecht», 1954) und Elisabeth Berger («Geld und Geist», 1964) und versuchte, so lang es ihm möglich war, das grosse Publikum zu erreichen und sich für seine Idee von einem «Nationalen Kino» einzusetzen. Doch nach dem letzten, erfolglosen Kinofilm und der ebenfalls daraus entstandenen, jedoch populären TV-Serie «Die 6 Kummer-Buben» (1968) gelang es ihm nicht mehr, finanzielle Mittel für weitere Projekte zu erhalten. Die 1963 eingeführte staatliche Filmförderung bevorzugte den Neuen Schweizer Film, deren jüngere Vertreter mit ihren Autorenfilmen kommerzielle Produktionen verdrängen wollten.4 Mit Schnyders Werk konnte der Nachwuchs wenig anfangen und stempelte es lange als antiquiert und reaktionär ab. Da diese Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte, wählte Schnyder den Rückzug ins Private, von wo aus er zwar noch Drehbücher verfasste, aber vor allem wütende Briefe an Bundesräte und Filmfunktionäre verschickte. Seine zuvor in kreativen Schaffensprozessen entladene positive, kraftvolle Energie wandelte sich in eine bittere, destruktive, die langsam aber stetig dazu führte, dass der einstige Filmkünstler und tüchtige Kaufmann seinen Platz in der – seiner Meinung nach dem Untergang geweihten – modernen Gesellschaft nicht mehr finden konnte. Altersstarrsinn, Zorn und Einsamkeit überschatteten die letzten Lebensjahre.
Nach seinem Tod begann eine neue Rezeption von Schnyders Produktionen. In der Presse blieben die Konflikte mit Filmpolitik und Filmszene zwar nicht unerwähnt, doch schien man sich in einem Punkt einig: Ein Grosser war gegangen. Jemand, der mit Leib und Seele Filme über die Schweiz und für die Schweiz gemacht hatte. Franz Schnyder ist und bleibt auch heute noch präsent. Zu bedeutend ist der Grossteil seines Werks, das eine persönliche künstlerische Handschrift trägt und sich in das kulturelle Gedächtnis der Schweiz eingraviert hat. Das Schweizer Fernsehen zeigt es weiterhin regelmässig, und man gedenkt Schnyders runden Geburtstagen. Zum 40. Jubiläum von «Uli der Knecht» erschien 1995 ein Bildband,5 Schnyders 100. Geburtstag wurde 2010 in Burgdorf mit einem Festival gefeiert, und 2014 widmete das Gotthelf Zentrum in Lützelflüh dem ersten «Uli»-Film eine Sonderausstellung.
Fast zeitgleich kamen wir, Autorin und Autor, auf die Idee, eine Biografie über Franz Schnyder zu schreiben. Sie sollte eine Kombination von persönlicher Lebens- und Schweizer Filmgeschichte sein. Dass bisher noch keine auf unabhängigen Recherchen beruhende Darstellung existiert, ist verblüffend, besticht doch seine Vita über eine relativ lange Zeitspanne hinweg durch vielseitige künstlerische, unternehmerische sowie private Höhen und Tiefen. Trotz dünner Quellenlage versuchten wir, in diesem Buch den Fokus auf die persönliche Entwicklung zu richten, vom einst so lebenslustigen, jungen, talentierten Mann – wie etwa in seinen Ausbildungsjahren in Deutschland oder später als Leiter der Migros-Klubhaus-Konzerte – zum grollenden, sich nach Aufmerksamkeit sehnenden, kranken Greis. Bald wurde uns bewusst, dass lediglich eine Annäherung an den Menschen und Filmemacher Schnyder gelingen kann. Das Ziel, eine vollständige Abbildung seines Wesens und die Gesamtheit aller auffindbaren Fakten wiederzugeben, hätte den Blick auf das Wesentliche versperrt. Die entscheidenden Fragen lauteten: Woher kam Franz Schnyder? Welches waren die wichtigsten Stationen in seinem Leben? Was und wer hat ihn geprägt? Auf der Suche nach den Antworten bildeten sein Werk und dessen Wirkung und, soweit wir es einschätzen konnten, einige wenige ihm nahestehende Personen zentrale Motive.
Neben der Aufarbeitung aller in diversen Archiven in Deutschland, Polen, der Schweiz sowie im digitalen Umfeld auffindbaren Dokumente führten wir auch Interviews mit Zeitzeugen und versuchten so, ein möglichst genaues Bild eines in vielerlei Hinsicht extremen und widersprüchlichen Lebens entstehen zu lassen – unter besonderer Berücksichtigung von Schnyders Filmen, die seinen persönlichen Erfolg, aber letztlich auch seinen Niedergang verursachten. Sich diese anzusehen, wird sicherlich auch in Zukunft ein anregendes Vergnügen bleiben, nicht nur für Fans, sondern auch für den filmischen Nachwuchs.
Familie Schnyder
1910–1929
«Oh Vaterli, Vaterli!», hörte man öfters im Hause Schnyder eine weibliche Stimme rufen.6 So nannte Fanny Louise Schnyder ihren Ehemann Maximilian, genannt Max, Ingenieur und Lehrer am Burgdorfer Technikum. Der bärtige, stattliche und liebenswürdige Ingenieur aus Kriens im Kanton Luzern und die so hübsche wie intelligente Primarlehrerin Louise aus Aarau heirateten im Jahr 1905. Bald darauf kamen ihre drei Söhne in Burgdorf zur Welt: am 16. Juni 1906 Konradin Wolfgang und am 5. März 1910 die Zwillinge Felix und Franz.
Die Familie wohnte im bürgerlichen Wohnquartier Gsteig, auf einem der drei Burgdorfer Hügel, zunächst an der Pestalozzistrasse 21, wo Felix und Franz geboren wurden, und zog bald darauf in eine repräsentative Villa mit grossem Garten an der Jungfraustrasse 28.7 Ein Fotoalbum zeigt Aufnahmen des Wohnzimmers im Erdgeschoss, behaglich eingerichtet, mit hohen Vitrinenschränken, kleinen gerahmten Bildern, Polstermöbeln, Teppichen und zahlreichen, kleinen und grossen Topfpflanzen. Zum Aussenbereich gehörte eine Terrasse mit Sitzgruppe und Sonnenschirm sowie ein Garten mit einem rechteckigen Wasserbecken mit Seerosen, einem Gemüsebeet sowie einer Rasenfläche – sicherlich zur Freude der Kinder und Haustiere. In diesem Haus wohnte Franz Schnyder phasenweise auch wieder nach dem Tod seiner Eltern im Jahr 1965 bis zu seinem Münsinger Klinikaufenthalt, meistens allein. Über der Haustüre befindet sich noch heute ein Wappenportal, in das er die Initialen «FRS» hat eingravieren lassen, wobei das «R» für keinen weiteren Vornamen steht; er hatte es eher des harmonischeren Dreiklangs wegen hinzugefügt.
Eine Schulkameradin der Schnyder-Brüder, Elsa Rickenbacher, erinnerte sich in ihrem Text für das Burgdorfer Tagblatt zum 80. Geburtstag von Felix und Franz Schnyder: «Man war damals begeistert von der Familie Schnyder, weil sie für uns das Aussergewöhnliche verkörperte. Der Vater, Dipl. Ing. ETH und ‹grand Seigneur›, der stets eine weisse Nelke im Knopfloch trug; die Mutter, grosszügig, gediegen, für mich die erste emanzipierte Frau, die ich kannte; die drei Söhne, die sich individuell stark voneinander unterschieden und sich grundlegend doch so ähnlich waren.»
Louise – Gattin und Mutter
Kindheit, Jugend und Erziehung der Buben wurde vor allem durch die Mutter geprägt. Zu ihr hatte Franz stets ein enges Verhältnis. Briefe, welche er während seiner Engagements an verschiedenen deutschen Theaterhäusern an sie schickte, beendete er häufig mit «Ich liebe Dich sehr und grüsse Dich herzlichst mit guten Gedanken immer Dein Franz». Louise, geboren am 28. September 1882, war eine gebildete Frau, die sich für Kunst interessierte, Fremdsprachen beherrschte und sehr belesen war. Zu ihren Lieblingsautoren gehörte der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung. Aufgewachsen mit drei Schwestern und drei Brüdern in Aarau, als Tochter eines Grossbauern, zog es sie nach der Ausbildung zur Lehrerin in die Westschweiz. An der Universität Lausanne studierte sie 1902/03 Französisch, was neben Sprache und Lesen auch Übersetzen, Philosophie, Kunstgeschichte und Literatur beinhaltete. Anschliessend entfernte sich Louise noch weiter von ihrer Heimat: In Belfast, das im damals noch ungeteilten Irland lag, besuchte sie ein Jahr lang das Internat The Lodge, eine Art Höhere Töchterschule. Hier lernte sie neben der englischen Sprache kochen sowie Handarbeit und nahm an Kursen in Geografie, Geschichte und Botanik teil.
Louise Schnyder, Anfang der 1940er-Jahre. Die studierte Lehrerin hatte stets ein enges Verhältnis zu ihrem Sohn Franz. Die Rolle als Hausfrau und Mutter entsprach jedoch nicht ihrer Vorstellung von Selbstverwirklichung.
Das Reisen im In- und Ausland gehörte auch in späteren Jahren zu Louises Lieblingsbeschäftigungen, wobei sie besonders gerne Kunstmuseen besuchte. Ihre Beziehung zu Franz war vertraut und herzlich. Er unternahm mit seiner Mutter nach Beginn der ersten beruflichen Erfolge oft Ausflüge oder Kurzreisen, zum Beispiel nach Venedig, und verwöhnte sie mit Aufenthalten in den schönsten Hotels. Gerne hätte Louise in ihrem Beruf weitergearbeitet, doch wurde Lehrerinnen damals bei der Heirat nahegelegt, ihre Profession aufzugeben. Louise hatte, so wie die meisten Schweizer Mütter aus bürgerlichen Familien, die Erzieherinnen- und Betreuerinnenrolle zu erfüllen. Eine eigenständige Stellung ausserhalb der Familie war ihr gemäss damaligen Geschlechterrollen nahezu verwehrt. Der zentralen mütterlichen Position in der Kindererziehung und -versorgung stand die des Vaters als Ernährer und familiärer Vertreter für die Aussenwelt gegenüber. Das Mutter-Kind-Verhältnis entwickelte sich deshalb als so bedeutend, dass es den Vater nahezu ausschloss.8 Diese Rollenverteilung galt so auch im Hause Schnyder.
Aus der fehlenden Erwerbstätigkeit entstand eine lang anhaltende Frustration, die Louise Schnyders Wesen stark beeinflusste und zu Spannungen innerhalb der Familie führte. Kindermädchen blieben nicht lange; meist zerstritten sie sich so sehr mit der Hausherrin, dass sie bereits nach wenigen Tagen das Weite suchten. Hausarbeit und Kochen verrichtete Louise nur ungern, und auch die Untervermietung von Zimmern an Studenten des Technikums geschah gegen ihren Willen. Das Nachtessen bestand für den Vater häufig nur aus Milch, Schokolade und einem Stück Brot. Wenn mal ein Knopf lose war, blieb ihm oft nichts anderes übrig, als in ein Burgdorfer Café oder Restaurant zu gehen, wo ihm eine Serviertochter diesen wieder annähte. Louise träumte insgeheim von einem anderen Leben – an der Seite eines reichen Mannes, der ihr ein Leben in Luxus ermöglichen könnte. Was Max ihrer Meinung nach fehlte, versuchte sie schliesslich, mithilfe ihrer Söhne zu kompensieren. In deren Erziehung förderte sie die Entwicklung von Ehrgeiz und Disziplin, damit sie später im Beruf reüssierten.
Louise war eine starke, in mancher Hinsicht auch moderne Frau. So besass sie bereits 1925 eine Fahrbewilligung für einen «Motorwagen Zünd». Sie überragte ihren Gatten mit ihrer Körpergrösse um ganze sechs Zentimeter und äusserte mit ihrer selbstbewussten, dominanten Persönlichkeit gerne und deutlich ihre Meinung. Ein Brief an ihre zwölf Jahre jüngere Schwester Ida Steiner (1894–1923) verdeutlicht ihre Lebenseinstellung. Rund ein halbes Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs schrieb sie am 14. Dezember 1914: «Liebes Idali, das Leben ist eine Schule in welcher es heisst: Du musst; auch wenn Du nicht willst. Und wenn es einem in dieser Schule hart geht, so soll man denken, offenbar ist es dem Lehrer Mühe wert mich hart anzufassen. […] Es ist keine Kleinigkeit, in dieser Welt die Dinge zu begreifen. Es kommt hie und da vor, dass man vor 2, 3 Wegen steht. […] Diese Scheidewege aber sind nicht so häufig, gewöhnlich steht dem Menschen nur eine Strasse zur Verfügung auf der er gehen muss.» Ihr Mann litt im Verlauf der Ehe stark unter den inneren Konflikten seiner Frau. In einem Brief aus dem Jahr 1964 an Franz schrieb der 87-Jährige: «Die übermässige Konzentration auf ihre eigene Person, die sie nicht erkennen will, ist das grosse Übel. Vor ca. 30 Jahren habe ich ihr schon gesagt, dass dieses übermässige ‹Ich-Gefühl› wie eine Schlange auf sie wirkt, die sich selbst auffrisst. Sie ist sehr unglücklich, weil sie zu sehr grübelt.» Die Ursache für ihr Leiden sehe sie nicht bei sich selbst, sie mache ihr Umfeld dafür verantwortlich. Als Mutter jedoch sei «sie Euch allen gut», so Max Schnyder im Brief an seinen Sohn.9
Max – Der Ernährer
Indes als «ganz lieb» bezeichnet Barbara Lamparter, Tochter von Felix Schnyder, ihren Grossvater Max Schnyder. Zu Hause hatte er nicht viel zu sagen. Er suchte sich daher Tätigkeitsfelder, wo seine Meinung zählte, wie in der Burgdorfer Kommunalpolitik. Auch wenn der Vater einen völlig anderen Beruf ausübte als sein Sohn Franz, einte beide doch ein gewisses schöpferisches Talent sowie die Fähigkeit, Produktionsprozesse detailliert und effektiv zu planen.
Der intelligente und lebhafte Architektensohn Maximilian Schnyder wurde am 13. Oktober 1877 inmitten der Industrialisierung in der Gemeinde Kriens geboren. Er studierte Bauingenieurwesen an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Ab 1900 verbrachte er erste berufliche Jahre in Frankreich sowie in Lemberg, Polen, als Leiter eines technischen Büros einer grossen Bauunternehmung. 1906, mit 29 Jahren, waren für ihn die Lehr- und Wanderjahre vorbei. Es zog ihn zurück in die Schweiz in ein solides, bürgerliches Leben, auch, weil er im Jahr zuvor geheiratet hatte und im Juni sein Sohn Konrad zur Welt gekommen war. So trat er eine Stelle als hauptamtlicher Lehrer am Kantonalen Technikum in seiner Wahlheimat Burgdorf an, wo er 40 Jahre lang Baustatik, Eisenbeton-, Stahl- und Brückenbau unterrichtete. Bei seinen Studenten war Max Schnyder sehr beliebt. «Diese erkannten rasch, dass sie nicht bloss graue Theorie zu lernen hatten, sondern ihnen die Gelegenheit geboten war, sich ein solides Fundament für die Praxis zu erwerben. Bei seinem Rücktritt im Frühjahr 1946 vom Lehramt wurde deshalb nicht nur von der Schulleitung aus sein Wirken sehr lobend gewürdigt, sondern eine grosse Zahl ehemaliger Schüler fand sich zu einer besonderen Feier ein, um ihrem einstigen Lehrer, Berater und Freund ihre Verehrung, Dankbarkeit und Anhänglichkeit zu bekunden»,10 so der ehemalige Burgdorfer Stadtschreiber Fritz Fahrni 1965.
Neben der Lehrtätigkeit führte Schnyder senior sein eigenes erfolgreiches Ingenieurbüro. Aufträge kamen aus dem In- und Ausland. Er entwarf und konstruierte insbesondere Brücken und Silos, etwa den der Handelsmühle Dür in der Burgdorfer Buchmatt, ein «schönes, imposantes Wahrzeichen wirtschaftlicher Initiative». Dank seiner «gewaltigen Schaffenskraft» gelang es ihm, sich neben Lehramt und Ingenieurarbeiten in seiner Freizeit auch noch politisch zu engagieren. Von 1922 bis 1955 wirkte er als Vertreter der Freisinnig Demokratischen Partei (FDP) in rund einem Dutzend städtischer Behörden, unter anderem als Stadtratsmitglied, Mitglied des Gemeinderates sowie Präsident der Baukommission.
Max Schnyder war aufgeschlossen, fortschrittlich und uneigennützig, besass einen scharfen Verstand und eine menschlich warme, humorvolle Art.11 Es drängt sich der Gedanke auf, dass Vater Schnyder, nicht zuletzt wegen der häufig unzufriedenen Gattin, nicht ungern viel Zeit ausserhalb seines Zuhauses verbracht haben mochte. Trotz alledem mag folgender Satz der Wahrheit entsprochen haben: «Er genoss in seinem schönen Heim auf dem Gsteig, an der Seite seiner Lebensgefährtin, immer wieder erbauliche Stunden der Erholung.»
Maximilian Schnyder, Ende der 1940er-Jahre. Der Ingenieur war am Kantonalen Technikum in Burgdorf tätig und bei Kollegen wie Studenten sehr beliebt. Franz’ Filme erfüllten ihn mit Stolz.
Die Beziehung zu den Söhnen war kameradschaftlich. Dabei verfolgte Max Schnyder beglückt deren erfolgreiche berufliche Laufbahn, die nicht nur bei Franz aussergewöhnlich verlief: Konrad wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann und Inhaber der Firma CWS, welche die berühmten Handtuchspender international handelte. Felix arbeitete nach seinem Jurastudium als hochrangiger Diplomat, unter anderem als Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge in Genf. Die Söhne blieben bis in Max Schnyders hohes Alter seine grösste Freude und ein beliebtes Gesprächsthema. In einem Brief aus dem Jahr 1958 verdeutlicht er seinen Stolz und dass er seine Rolle als Vater, aber auch die der Mutter, durchaus kritisch reflektierte: «Ein Testament mache ich nicht, da ich wohl weiss, dass meine Söhne sehr anständige Bürger geworden sind. Obschon Ihr mir nie viele Mühe gemacht habt und [mir] Euer beruflicher Erfolg ausserordentliche Freude bereitet, so nehme ich doch an, dass mir in Eurer Erziehung viele Fehler passiert sind, die Ihr mir vergeben müsst, da Euch ja nichts anderes übrig bleibt. Es ist mir gleich gegangen, wie allen Vätern.» Nachdem er erläutert hatte, wie und wo er begraben werden wollte, schrieb er abschliessend: «Das sind meine Wünsche, die ich Euch ausspreche, nebst dem Dank für die Freude, die Ihr mir gemacht, in einem Masse, wie es sie nicht jeder Vater erleben darf.»12
Noch bis in die letzten Wochen seines Lebens war Max Schnyder beruflich aktiv. Am 7. April 1965 starb er schliesslich mit 87 Jahren ohne längere Krankheit einen sanften Tod. Seine Gattin folgte ihm nur wenige Monate später, am 18. September, in Zürich. Beide wurden auf dem Burgdorfer Friedhof beigesetzt. Später fanden hier auch Felix und Franz ihre letzte Ruhe.
Der junge Franz
Franz Schnyders Kindheit und Jugend waren, wie damals vielerorts üblich, von erzieherischer Strenge und Verzicht geprägt. Als er vier Jahre alt war, brach in Europa der Erste Weltkrieg aus. Im Grossen und Ganzen wuchs Franz zwar ohne finanzielle Not auf, doch bestanden zu Kriegszeiten auch in der Schweiz Versorgungsengpässe, welche die Familie Schnyder mitbetrafen. In Franz Schnyders Nachlass befinden sich noch einige Lebensmittelmarken aus dieser Zeit, die zum Kauf bestimmter rationierter Waren berechtigten. Aufgestanden wurde jeden Tag um fünf Uhr morgens, sogar an den Wochenenden. Alle drei Buben besuchten zunächst die Burgdorfer Primarschule und anschliessend das dortige Gymnasium, an dem Franz häufig Theater spielte.13 In der Freizeit las er viel, spielte Klavier und war Mitglied der Hörspielgruppe Bern. Mit Tennis, Skifahren und Schwimmen kam auch der Sport nicht zu kurz. Felix und Franz waren ausserdem bei den Pfadfindern.
Gegen aussen schien eine gewisse Fassade gewahrt, nämlich die der klassischen gebildeten Mittelstandsfamilie. Zu dieser zählte im Falle der Familie Schnyder ein stattliches Haus, ein angesehener Vater, eine treusorgende Ehefrau und Mutter sowie die drei gesunden, tüchtigen Söhne. Doch bei näherer Betrachtung entdeckt man Risse – keine grossen, aber vielleicht entscheidende, die gewiss auf Franz’ Persönlichkeitsentwicklung Einfluss hatten. Sein Innenleben heutzutage zu erfassen oder bloss zu skizzieren, mehr als ein Jahrhundert nach seiner Geburt und 26 Jahre nach seinem Tod, ist ein schwieriges Unterfangen, weil die wichtigsten Verwandten und etliche Weggefährten bereits verstorben sind. Ausserdem besass er nur wenige gute Freunde und längere, dauerhafte Beziehungen. Der Umstand, dass er über sein Privatleben öffentlich kaum und nur ungern sprach, schwächt die Quellenlage, sagt aber wiederum etwas über seine verschlossene Persönlichkeit aus. Anhand von Aussagen von Zeitzeugen, autobiografischen Dokumenten und Briefen lässt sich allerdings ein relativ umfassendes Bild seines Charakters erkennen.
In seiner im Jahr 1990 im Alter von 80 Jahren verfassten, unveröffentlichten – und vermutlich auch nicht für die breite Öffentlichkeit bestimmten – Autobiografie mit dem Titel «Gläubet Ihr nicht, so bleibt Ihr nicht» gewährt Franz Schnyder immerhin mal kürzere, mal längere Einblicke in verschiedene Lebensphasen und Gemütslagen. Sie ist eine Mischung aus biografischen Anekdoten, Bibelzitaten, Briefen und kommentierten Pressetexten und liest sich wie eine schonungslose Abrechnung mit der Schweizer Filmpolitik, dem Schweizer Filmschaffen sowie der Presse. Beim Lesen dieses Textes ist aber Vorsicht geboten. Zwar mag es sich hier auf den ersten Blick um eine wertvolle Originalschrift handeln, die wichtige Informationen sowie intime und private Einsichten enthält. Die Art und Weise, wie das Schriftstück – formal und inhaltlich – verfasst wurde, lässt aber den Eindruck entstehen, dass der Geisteszustand des Autors damals bereits instabil war. Stellenweise ähnelt das Dokument einem Gedicht. Die Seiten sind dort nur zur Hälfte gefüllt, scheinbar willkürlich sind manche Sätze in grösserer Schrift getippt als andere.
Ende 1920er-Jahre: Felix und Franz Schnyder im Freibad Burgdorf. Das Schwimmen gehörte zu ihren Leidenschaften, die Zwillingsbrüder spielten aber auch Tennis und fuhren Ski.
Da sind etliche sehr kurze, versatzstückartige Textstellen und oftmals drei Punkte zwischen einzelnen Wörtern gesetzt. Inhaltlich hält sich Schnyder in seinen Erzählungen nur selten an die Chronologie der Ereignisse; gerne springt er vom Dritten Reich zur Französischen Revolution oder von den 1980er-Jahren zurück zur Entstehungszeit von «Gilberte de Courgenay» ins Jahr 1940. Die wiedergegebenen Ereignisse und Szenen sind von extrem unterschiedlicher Länge und ergeben für die Leserin, den Leser zeitweilig auch keinerlei Sinn, da sie Anspielungen enthalten, die nur bestimmte Personen verstehen können, beispielsweise Journalisten oder Politiker. Manche Texte wirken wie im Rausch geschriebene innere Monologe, die durchaus unterhaltsam zu lesen sind und im Folgenden auch an geeigneten Stellen zitiert werden.
Die Brüder Felix und Konrad
Das Verhältnis der Zwillinge Felix und Franz war bis ins hohe Alter positiv und fürsorglich. Kurz vor beider Tod soll es zwar einen heftigen Streit gegeben haben,14 doch im Grossen und Ganzen hegten sie ein starkes gegenseitiges Interesse am Berufs- und Privatleben des anderen. Für regelmässige Treffen scheute Franz keine Transatlantikreisen, so etwa mehrmals in die USA, wo Felix lange im diplomatischen Dienst tätig war. Letzterer tat sein Möglichstes, um an den Filmpremieren des Bruders teilzunehmen.
In der autobiografischen Schrift existiert eine bemerkenswerte Passage mit der Überschrift «Felix»:
«So ein heimeliges Schlafzimmer … Blumen, Blumen, Blumen. Und es krähte, spektakelte … Oh, das süsse Kindlein … Da war grosses Staunen! Der Herr Doktor Mosimann und meine gute Mutter, die beiden täschelten, küssten das Knäblein … Und der hilfreiche Arzt bettete es in eine reizende Wiege … richtig gerührt. ‹Felix› so soll’s getauft werden! Jubelte glücklich meine Mutter … ‹Felix› Da guckte der Herr Mosimann auf seine Uhr. ‹Hab’s eilig … ein anderes Mutti …› ‹Heee!› schimpfte ich. ‹Will doch auch ans Licht …› Da fuhren Mutti und Doktor zusammen, nicht eben erfreut … ja, eher enttäuscht … Doch das ging mich gar nichts an … Und so kam ich auf die Welt … ‹15 Minuten und 38 Sekunden nach dem lieben Felix!› So hat’s der Mosimann gestoppt. ‹Und diese runden 15 Minuten begleiteten mich mein Leben lang.›»15