Loe raamatut: «Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen»
BERGMÜTTER, QUELLFRAUEN, SPINNERINNEN
Sagen und Geschichten aus dem Wallis
Ursula Walser-Biffiger
Von wilden und weisen Frauen – eine Einführung
Ahnfrauen der Berge und Täler, Urmütter aus den Tiefen der Zeit
Die drei Schicksalsfrauen an der Rhonequelle (Gletsch)
Vouivra, die Fluss- und Drachenschlange (verschiedene Orte)
Die strickende Holzmiättärra (Lötschental)
Die Gämsmutter beim Langgletscher (Lötschental)
Die weisse Gämse (Walsersage)
Die Bergmutter und ihr Hornkind (Zermatt)
Die Hohbachspinnerin (Goms)
Die singende Tanne (Goms)
Das Tal der Gräfin Anna (Binntal)
Die Quellfrau Blanka (Leukerbad, Leuk)
Die Kornähren-Madonna (Leuk)
Die weisse Krönleinschlange (Vispertal)
Die Kronschlange z Giblin (Lötschental)
Die Vertreibung der Holzmiättärra (Lötschental)
Geheimnisvolle Wildfrauen, verschwundene Schätze
Marie und die Feen (Val d’Hérens)
Der Schalenstein der Wildfrauen (Val d’Anniviers)
Wirkmächtige Feen (Val d’Anniviers)
Türliwirli – die Zwergenfrau und ihre Bedingungen (Turtmanntal)
Die Schatzhüterin und ihre Tiere (Goms)
Die Gräfin zen Tischen (Belalp)
Die Hure Kathrin und ihre Blüemlisalp (Turtmanntal, Lötschental)
Der Gesang der Suone (Riederalp)
Starke Frauen, schwere Lasten, wilde Tänze
Die Käseträgerinnen vom Binntal und andere starke Weiber (verschiedene Orte)
Vom alten Brauch des Kinderholens (Lötschental)
Das Geheimnis der Kindbetterfluh (Ausserberg)
Die Hebamme und ihr Lohn (Lötschental)
Die Gnadenmutter zu den Hohen Flühen (Mörel)
Die Burdigret vom Bruchigraben (Naters)
Die listige Sennerin (Binntal)
Die Armensünderglocke von Mühlebach (Ernen)
Temperkinder (verschiedene Orte)
Die verteufelte Spinnerin (Lötschental)
Die drei Spinnerinnen (Ernen)
Die büssende Frau auf dem Gletscher (Val de Bagnes)
Der Tanz im Sengboden (Saastal)
Die Jauchzerinnen am Feerberg (Simplon)
Kreszentia und der Geistertanz (Simplon)
Die Kräutertänzerinnen auf der Alp (Goms)
Fliegende Weiber, brennende Hexen, verbotene Orte
Die Hexe im Vispertal (Vispertal)
Die Mattmarkhexe (Saastal)
Als Hexe verbrannt (Ernen, Binntal)
Die Hexe vom Natischerberg (Naters, Blatten)
Der Hexenstein (Simplon)
Wirkmächtige Alte, weise Ahninnen, verborgene Welten
Die alte Schmidtja, Seelenhüterin am Aletschgletscher (Belalp)
Im Kessel der Holzmüotterlini (Oberems)
Die Alpmuetter (Walsersage)
Serafina und ihr Rosenkranz (verschiedene Orte)
Die alten Spinnerinnen und die Steinsuppe (verschiedene Orte)
Die Tödin und die Geisshirtin (verschiedene Orte)
Philomena und ihr Lichtsegen (verschiedene Orte)
Das verlorene Lied – ein Nachklang
Anhang
Von wilden und weisen Frauen eine Einführung
«Die Sage vermag die Klugheit des Herzens zu wecken,
bringt im Menschen das Innere zum Schwingen, erlaubt ihm, anzuknüpfen bei urzeitlichen Ahnungen, die tief unter jedem Wissen vergraben sind.»1
Wieder sitze ich auf meinem Tschuggu, einem runden, vom Gletscher geschliffenen Felsblock. Er war der Lieblingsplatz in meiner Kindheit und zugleich ein gefährlicher Ort: Schlangen krochen oft durchs nahe Geröll, und ein Abhang lockte in die Tiefe. Doch nichts hielt uns Kinder davon ab, auf diesem Felsen herumzukraxeln, Ängste zu überwinden und die eigenen, wachsenden Kräfte zu spüren. Hier konnte ich träumen und Pläne schmieden, mich auf den warmen Stein legen und den Wolkendrachen bei ihrem Spiel zuschauen. Oder eintauchen in das Reich der Flechten, Moose, Blumen und Käfer, die den Felsen bewohnten, und sehen, wie sich in dieser kleinen Welt die grosse widerspiegelt.
Die Liebe zu den mächtigen Steinen hat mich nicht wieder losgelassen. Ich habe besondere Felsformationen an vielen Stätten der Welt besucht, ihrer Melodie gelauscht, ihre Geschichte erforscht und Geschichten gesammelt, die sich um sie ranken. Sagen und Mythen erzählen von ihnen und von den Menschen, denen sie mehr bedeuteten als totes Gestein. Es enthüllte sich mir eine Mensch-Natur-Beziehung, in der alles als belebt und verbunden erfahren wird – durchdrungen von einer mächtigen Urkraft, einem schöpferischen Prinzip, das sich den Menschen in frühen Zeiten oft in weiblicher Gestalt zeigte.
Spuren dieses ursprünglichen Weltverständnisses, in der die Natur als beseelt erkannt und in ihren weiblichen Qualitäten respektiert und verehrt wird, wollte ich nachgehen. Ich entdeckte sie weltweit in Mythen, in archäologischen Funden und Forschungen, im Brauchtum und im sogenannten Aberglauben, in der Volksfrömmigkeit und in der Kunst, in Namensbezeichnungen und auf Kultplätzen – und nicht zuletzt in den Sagen des Alpenraums und den geheimnisvollen Gestalten, die diese Geschichten bevölkern: listige Alte, mächtige Feen, weise Spinnerinnen, wilde Tänzerinnen, Kräuterfrauen, Schatzhüterinnen, Seelenbegleiterinnen, Heilige, Huren, Hexen und Holzmuetterli, die in ihrer Tschifra (Rückentragkorb) grosse Steinblöcke versetzen und dazu noch stricken.
Allen diesen Wildfrauen ist eine tiefe Verbundenheit und ein wirkmächtiger Umgang mit den Kräften des Naturreichs gemein, das sich in den Sagen bis in die unsichtbare Anderswelt hinein ausdehnt. In diesen Gefilden befindet sich auch der Aufenthaltsort der verstorbenen Ahnen, die von hier aus die Menschen unterweisen, unterstützen, ihren Segen übers Land senden und zur gegebenen Zeit wieder zurückkehren in den Kreis der Irdischen.
In der gelebten Tradition des Wallis haben die Verstorbenen noch immer einen grossen Stellenwert – auch wenn sie bisweilen als sogenannte Arme Seelen daherkommen, die im Gletscher für ihre Sünden büssen müssen. Hier hat sich offensichtlich über das alte Wissen um die Verbundenheit verschiedener Weltensphären eine christliche Korrektur gestülpt, und der Gletscher musste die Funktion des Fegefeuers übernehmen. Die erste Sammlung von Walliser Sagen – von zwei Pfarrherren um 1872 erfasst – zementierte dann gleichsam schriftlich, dass aus dem ursprünglichen andersweltlichen Aufenthaltsort der Toten im Gletscher ein qualvolles Leiden im kalten Sündenreinigungsfeuer wurde.
Sollen die alten Erzählungen nicht einfach zu Gruselgeschichten verkommen, die man touristisch aufbereitet und inszeniert, oder in einem Kontext erstarren, den niemand mehr versteht, tun wir gut daran, sie aufmerksam zu lesen und neu zu gestalten. Das Sich-Sagen-Erzählen war immer schon ein lebendiger Prozess, zu vergleichen mit einem alten, wertvollen Tuch, das von Menschen verschiedener Generationen gesponnen, gefärbt, gewebt, geflickt, aufgetrennt und neu vernäht wird. In der oralen Tradition werden die Sagen immer wieder frisch kundgetan – einer neuen Zeit, Umwelt und Zuhörerschaft angepasst. Sie beweisen sich damit als wandelbares, mündlich weitergetragenes Kulturgut.
So gilt es, viele dieser Geschichten von christlichen, patriarchalen, rationalen und moralischen «Zurechtbiegungen» zu befreien. Tatsächlich lassen sich Überformungen, Dämonisierungen oder Verniedlichungen wie Schichten einer Zwiebel lösen. Freigelegt und entdeckt wird ein Kern, der Kraft und Sinn vermittelt – bis in unsere Gegenwart hinein. Seltsam farblos wirkende Sagen können auf diese Weise wieder lebendig werden, und mit ihnen ändert sich auch der Blick auf die Natur, die spätestens mit der rational-technischen Weltsicht der Aufklärung zum leblosen Objekt erklärt wurde, das es zu vermessen, zu analysieren und auszubeuten galt.
Doch heute entdecken viele die Schönheit und Kraft des Naturreichs neu: Wir können sie als uralte Form von Bewusstsein erleben und in ihr und in uns selbst etwas Ewiges erahnen, das sich kaum benennen lässt. Solchen Erfahrungen versuchen auch viele Sagen Ausdruck zu geben. Sie erzählen vom grossen Geheimnis des Werdens und Vergehens. Und davon, dass wir draussen in der wilden Natur mit ihren starken Wandlungs- und Schöpfungskräften in Berührung kommen. Dies stärkt unsere Fähigkeit, das Leben aus einer nicht alltäglichen Perspektive zu betrachten und unseren eigenen Weg immer wieder neu zu gestalten.
So sass ich denn in den letzten Jahren oft auf meinem Tschuggu und habe die alten Sagen gegen den Strich gelesen. Widersprüche zeigten sich, Risse taten sich auf, und manchmal hat sich in die Leerstellen hinein die Geschichte neu ergossen. Dann gibt es starke Orte, die mir eine Sage frisch enthüllt haben oder gar eine neue entstehen liessen. Bisweilen vereinten sich auch Bruchstücke von Walliser Sagen mit Weisheitsgeschichten aus aller Welt.
Ein Stück verdrängte Frauengeschichte ist bei dieser Arbeit sichtbar geworden. Eigenartig entleerte oder erschreckend böse Frauengestalten haben sich zu kraftvollen Figuren gewandelt. Und das Schönste: Ihre Geschichten brachten im Nu neue Geschichten hervor. So haben sich mir neue Denkweisen eröffnet und meine Vorstellungen davon erweitert, woher wir kommen, wer wir sind und wohin wir gehen.
Die Geschichte hinter den Geschichten entdecken, der magisch-mythischen Betrachtungsweise trauen, einengende Denkstrukturen lösen, dem Fluss der Lebensenergie durch die Generationen folgen. Altes Wissen aus einer Tiefe holen, die nicht den Zeitströmungen unterworfen ist, und sie mit den Erfahrungen des Heute wieder aufnehmen – dies scheint mir ein stärkender Weg zu sein. Er bringt viel Wurzelkraft für die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, und für die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft. Marie Métrailler, die weise Weberin und Bergbäuerin aus dem Val d’Hérens, hat dies so formuliert:
«Es ist eine Wiederentdeckung wahren Reichtums, grundlegender Werte, und jedes Mal, wenn man ihrer habhaft wird, kann man das Leben neu erschaffen.»2
Aletschgletscher, Riederalp
Ahnfrauen der Berge und Täler, Urmütter aus den Tiefen der Zeit
Wild und ungezähmt erscheinen die Sagenfrauen bisweilen, rau, aufrührerisch und unverschämt. Und dann gibt es auch feine und zarte, listige und lustige Gestalten. Leidenschaftlich durchtanzen sie die Nächte, arbeiten als Spinnerinnen und Sennerinnen, versetzen Felsen, brauen das Wetter zusammen, sausen mit dem Sturm durch die Lüfte und rollen Lawinen zu Tale. Küsse und andere magische Künste wenden sie an, treten als Heilige auf und als Huren, als Feen, Prinzessinnen oder Hexen. Und unerbittlich sind sie, wenn gegen ihre Ordnung verstossen wird.
Dass hinter ihnen mehr steckt als Fantasiefiguren, zeigen Erfahrungen heutiger Menschen, die sie wieder in ihr Leben gelassen haben. Und die bedeutende Stellung, die ihnen zukommt, belegt eine Fülle von neuen Entdeckungen und Einsichten aus den Bereichen Frühgeschichte, Archäologie, Mythologie, Kulturanthropologie, Etymologie, Religionswissenschaft, Matriarchats- und Sagenforschung.3 Es erschliesst sich uns über Kontinente und Zeiten hinweg ein Weltbild und eine Zivilisation, die auf der Würdigung des Kreislaufs von Werden, Vergehen und Wiederkehren beruht – repräsentiert in einer weiblichen Gestalt, die ihren Widerhall auch in den Walliser Sagen findet.
Wir alle wurden aus einer Mutter geboren. Als Sinnbild dieser Lebenswirklichkeit stand für sehr lange Zeit in der Menschheitsgeschichte eine Grosse Ahnfrau am Anfang der Schöpfung. Sie war Gebärerin, Ernährerin, Bewahrerin alles Lebendigen: eine Urmutter oder Urgöttin. Nicht in einem entfernten Jenseits war sie zu finden, sie war die Erde selbst – worauf der Ausdruck «Mutter Erde» noch heute verweist. Sie war das Land und das Wasser, die Luft und das Feuer, die Jahreszeiten und das Sternenzelt. Auch die Mondgöttin war sie, die Wandelbare, und sie schuf alle Kreisläufe von Schöpfung, Wachstum, Verfall, Zerstörung und Neuwerdung.
Von ihr erzählen älteste Mythen aus der ganzen Welt, auch Höhlenmalereien und Ritzzeichnungen, deren Entstehung auf Zehntausende von Jahren zurückdatiert werden. Von ihr zeugt ebenso die weltweit aufgefundene, überwältigende Anzahl von nackten Frauenfigurinen aus der Alt- und Jungsteinzeit. Die uns bekannteren sind die Ahnfrau von der Schwäbischen Alp (40 000 v. Chr.), die Ahnfrau von Willendorf und die Ahnfrau von Laussel (beide datiert auf vor 20 000 v. Chr.). Auch spätere Relikte aus dem Alten Europa, Keramik, Architektur, Begräbnissitten, zeigen in einer Art symbolsprachlichen Gemeinsamkeit auf, dass die Menschheit während der längsten Zeit ihres Bestehens in starker Verbundenheit stand zur Grossen Ahnfrau – Quelle und Beschützerin allen Lebens.
Der Platz und die Bedeutung dieser Urmutter wurden im Laufe der Zeit zuerst von verschiedenen Göttinnen eingenommen, sie alle waren Teilaspekte oder eine Emanation der Einen. Dann traten Götter an ihre Stelle, und schliesslich übernahm der alleinige Gott, der niemanden mehr neben sich duldete. Im Volke aber hat sich die Vorstellung einer schützenden, wohlwollenden mütterlichen Kraft und Macht im Untergrund und in wandelbarer Gestalt bis heute erhalten – trotz Durchsetzung des Christentums, trotz Inquisition, in der ihre letzten Spuren ausgerottet werden sollten, und der Aufklärung, die ihr als Aberglauben den Garaus machen wollte. Es scheint fast, als ob die Grosse Ahnfrau sich für einige Zeit verstecken wollte. Doch wer bereit ist, die Grenzen des üblichen Denkraums zu öffnen, findet ihre Zeichen überall – auch in den Sagen des Alpenlands.
Bevor wir ihre Fährte aufnehmen, versuchen wir nachzuvollziehen, wie die alten Völker die Ahnfrau erlebt haben mögen. Kann sein, dass die Menschen der Urzeit anfänglich ihre Mutter, Grossmutter und vielleicht noch Urgrossmutter namentlich erinnerten und würdigten. Dann aber entrückte die Ahnfrau ins Mythische und begann, göttliche Züge anzunehmen: Sie ist Schöpferin, die Nährende und zugleich selbst die Nahrung. Sie ist die Luft, die wir atmen, die Quelle, aus der wir schöpfen, das Brot, das wir essen. Sie ist der Inbegriff aller lebendigen Kräfte, die schöpferische Urkraft. Sie bringt nicht nur ihre Geschöpfe hervor, sondern auch die Weisheit und eine ordnende Kraft, die ihr innewohnt.
Die Menschen lebten im Leib und in der natürlichen Ordnung dieser Mutter; sie verehrten sie in der Landschaft, nahmen sie in ihrer magisch-mythischen Sehweise wahr an Orten, wo sich ihre weibliche Kraft in der Natur manifestierte: in einem Berg, der ihrer Gestalt oder ihrem Busen gleich in den Himmel ragt, in einer vulvaförmigen Gletscherspalte oder Höhle, in der sanften Rundung eines Hügels, im lebensbringenden Wasser der Quellen und Bäche. Oder sie zeigte sich den Menschen als Schlange, Drache oder Kröte, in Gestalt eines Baumes, als Wildfrau oder als Weisse Frau – Göttin des Lichts, der Firne, Gletscher und Bergbäche.
Sie war die Ahnfrau, die für alles sorgte, was zum Leben nötig war. Das war vor allem Wasser. Ihr Name ist oft mit diesem Element verbunden und lautet Ana/Dana/Danu, zurückzuführen auf ein vorindoeuropäisches Wort, das Wasser bedeutet.4 Überall im Alten Europa und im Vorderen Orient wurden Göttinnen unter diesem Namen verehrt, und er findet sich teilweise noch in Landschaftsbezeichnungen und Sagengestalten, auch im Wallis.
Die Grosse Ahnfrau wurde lokal erlebt. Sie ist verbunden mit der Landschaft und mit ihrem Volk. Sie ist die grosse Spinnerin des Lebens, die Weberin des Schicksals und schliesslich die Todesgöttin, die alle Geschöpfe zurück in ihren Schoss nimmt. Sie ist die Präsenz, aus der alles entsteht und zu der letztlich alles zurückkehrt.
Die Sagen erzählen nicht nur von der umfassenden Macht und Kraft und vom Wirken der Grossen Ahnfrau, sondern auch von deren Vertreibung aus dem Denken und Fühlen der Menschen. Doch wir wissen: Sie ist auch Heilerin und Wiedergebärerin, trägt viele Namen und zeigt sich den Menschen zu den unterschiedlichsten Zeiten und in vielfältigen Erscheinungsformen. Wir haben die Chance, sie neu für uns zu entdecken.
Rittplatte oder Ahnenstein, Guggistafel, Lötschental
Matterhorn, Zermatt
Kultstein, Ochsenfeld, Binntal
Guggisee, mit Anen- und Langgletscher, Lötschental
Schneewehe
Die drei Schicksalsfrauen an der Rhonequelle
Gletsch
Vor vielen tausend Jahren, als der Rhonegletscher seine gewaltige Zunge aus der Gegend der heutigen Stadt Lyon bis in den Talkessel der damals noch nicht existierenden Siedlung Gletsch zurückgezogen hatte, wanderten die drei Schicksalsfrauen über die Berge. Sie wollten nach dem Rechten sehen in dem Land, das durch Eis und Wasser in den Untergrund gegraben, gehobelt und geschliffen worden war. Es war das Urmuster eines Tales, das die Römer viel später Wallis nannten.5
Noch hatte sich hier niemand niedergelassen. So waren die Schicksalsfrauen unterwegs, um diese karge Gegend für Pflanzen, Tiere und Menschen vorzubereiten, die sich hier ansiedeln wollten. Sie wanderten entlang der gewaltigen Gletscherzunge mit ihren Rissen und Schründen. Wasser rauschte, und ein kalter Luftzug kam aus tiefen, bläulich schimmernden Spalten. Mit Leichtigkeit sprangen die drei Frauen über Bäche, die sich aus den vielen Rinnsalen des Gletschers an seinem Ende bildeten.
Jede Frau trug einen Stab in der Hand, der eine war mit einem Bergkristall, der zweite mit einer Muschel, der dritte mit einem Knöchelknochen verziert. Mit ihnen suchten die Schicksalsfrauen im Talgrund nach einem geeigneten Platz für ihr Wirken. Hinter einem gewaltigen Tschuggu, einem abgeschliffenen Felsen, den der Gletscher hier zurückgelassen hatte, schlugen sie die Stäbe in den Boden. Zischend trat heisser Dampf aus den Öffnungen, Erddünste breiteten sich aus und eine Mulde füllte sich mit warmem Wasser.
Alsbald lagen die drei Frauen in dieser wohligen Wärme, und in bester Schöpferinnenlaune begannen sie, das Netz des Lebens in diesem Tal zu erwecken. Die Kristallfrau hob ihren Stab und rief die Kraft und Schönheit der Blumen und Pflanzen, die Seelen der Tiere und Menschen. Die Muschelfrau beschwor ihre Verbindung zum Meer, wo alles Leben einst begonnen hatte und wohin das Quellwasser fliessen sollte. Sie versprach Nahrung, Schutz und Hilfe für alle Wesen. Die Knochenfrau wusste um Wandlungen und Verwandlungen, um Grenzen und Übergänge, um den Tod und die Zuversicht, dass das Leben weitergeht. Leise und sanft sangen die Schicksalsfrauen ihre Melodien. Und mit dem Wasser, das mittlerweile aus drei Quellen floss, ergoss sich ihr Segen in den Gletscherbach und durchs ganze Tal.
Die Menschen folgten dem Ruf der Schicksalsfrauen, sie kamen von weit her und schufen ihre Siedlungen. In ihrer hellhörigen Art konnten sie noch jahrhundertelang wahrnehmen, wie die Wünsche und das Lachen der drei Frauen in der Landschaft nachklangen. Hirtinnen, Jagdvolk, Säumer und Reisende rasteten bei dem warmen Wasser und wussten dessen Heilkraft zu nutzen.
Diese Quellen galten den einheimischen Menschen bis im 18. Jahrhundert als Ursprung der Rhone. Besonders verehrt hat man die Quelle, die einen rötlichen Niederschlag absonderte und deshalb die Rothe hiess.6 Sie gab ihren Namen wohl auch dem Gletscherbach Rhone, der bis in unsere Zeit hinein im oberen Wallis Rotten oder Rottu genannt wird.
Doch längst ist die rote Quelle gefasst; das Hotel Glacier du Rhône nutzt sie zu Heizzwecken. Der Gletscher, der heute vom Talgrund aus nicht mehr sichtbar ist, gilt nun offiziell als Quelle der Rhone. An schönen Sommertagen wälzt sich der Verkehr der Passstrassen von Grimsel und Furka durch die Siedlung Gletsch. Doch noch immer soll es vorkommen, dass Menschen, die sich auf den Moränenhügel bei der kleinen Kapelle und zu den Quelltümpeln zurückziehen, ganz unvermittelt die ursprüngliche Heiligkeit des Ortes erfahren.
Frei erzählt