Bauern, Land

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Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Der heute im Namen der Biodiversität europäisch geschützte Wolf wird, wie alle Wildtiere, einem Management von hoher Intensität unterworfen. Seine Verbreitung wird verfolgt, einzelne Exemplare sind mit Sendern ausgestattet, sie werden genetischer Kontrolle unterworfen, und die durch zunehmende Kreuzungen von Wolf und Hund entstehenden Hybriden werden herausgenommen, heißt es, also wohl eingeschläfert oder erschossen.

Wild sind die wilden Tiere nur so weit der Mensch es erlaubt.

Kurz vor Weihnachten ruft mein Neffe Hannes an und erzählt, dass jetzt erst, kurz vor Jahresende, endlich eine Verordnung im Amtsblatt veröffentlicht wurde, die in einer Übergangsregelung den Umbruch von Grünland noch bis zum 31.12. erlaubt. Anders gesagt, ab dem 1.1. (2016) wird es verboten sein.

Warum? Weil das Ackern – also Pflügen – die Bodenerosion fördert. Weil Grünland der Biodiversität, den Beikräutern, Insekten und Vögeln mehr Raum gibt als Mais.

Aber es ist der Mais, den die Biogasanlagen zur Stromproduktion brauchen und der den Milchfluss der Kühe steigert und so das Einkommen der Milchbauern sichert, obwohl von ›Sicherung‹ bei extrem niedrigen Milchpreisen nicht die Rede sein kann.

Deshalb fahren im Moment überall in den Dörfern schwere Traktoren auf die eigentlich viel zu feuchten Flächen und fräsen oder pflügen, weil Bauern versuchen, auf ihren Grünflächen einen Status zu verankern, der es ihnen erlaubt, diese Flächen später zu beackern. Sie nennen es ›schwarz machen‹, also unter Umständen, falls es ihr Betrieb erfordert, dort Ackerfrüchte anzubauen. Dieses Recht hätten sie jedoch nicht mehr, wenn das Grünland am 1. Januar noch Grünland wäre. Dann dürften sie dort weder Mais anbauen noch überhaupt eine Grasneuansaat machen. Durch die Verzögerung der Veröffentlichung im Amtsblatt hat das Ministerium dafür gesorgt, dass von den regendurchtränkten Flächen in den sieben verbleibenden Kalendertagen bis Neujahr nur noch sehr wenige umgepflügt werden können. Hannes erzählt, dass in den Dörfern rundum die Traktoren unterwegs sind.

»Das ist Wahnsinn«, sagt er, »und fachlich überhaupt nicht zu rechtfertigen.« Aber in einer Woche schon wären ihnen die Hände gebunden. Deshalb müssen sie handeln, wo sie es noch können, sagt er. Sie wollen auch in Zukunft noch ackerfähige Böden haben und selbst entscheiden können, welche Frucht sie dort anbauen wollen – oder es als Grasland nutzen. Es geht um Tausende von Euro, die man sonst zahlen müsste, um die Ackerungsrechte zurückzuerwerben.

»Die vier Hektar* hinter dem Kanal sind unbefahrbar, da kommt man nicht rauf und nicht runter. Selbst die Pumpen unserer Schöpfwerke schaffen es nicht mehr. Sie können eine Überschwemmung verhindern, aber die Böden sind vollgesogen wie Schwämme. Man kann nur hoffen, dass der Regen wenigstens jetzt aufhört und dass über Weihnachten windige Tage kommen. Da könnte man es dann am 31.12. vielleicht noch einmal versuchen.«

Aber Wind ohne Regen? Im Dezember im Sietland? Da muss man schon fast an Wunder glauben.

Ich frage, ob das Ministerium das denn so genau prüfen könne.

»Schon mal von Google Earth gehört?«

Zum Schluss frage ich noch nach den Wölfen.

»Im Moment ist Ruhe. Das Vieh ist ja in den Ställen. Und da draußen sind wohl noch Rehe genug.«

9. KAPITEL
18. – 19. JAHRHUNDERT
Wie man mit Torf Fundamente baute und Häuser zum Schwimmen brachte.

MIT WALDEMAR UNTERHIELT ICH MICH DARÜBER, mit welchem Material hier früher eigentlich Fundamente gesetzt worden sind.

»Sie haben gearbeitet mit dem, was sie hatten«, sagte er. »1938 gab es bei uns laut Giebelinschrift eine Stall- und Dielenerweiterung. Für die Fundamente hat man einfach Sand genommen und eingeschlämmt, umgeben von Moor. Als wir dann zwanzig Jahre später Fundamente für die neue Scheune gegraben haben, um sie so nahe wie möglich an den Stall zu setzen, entstand im Giebel ein Riss.« Da hatte der Sand nachgegeben und ein Teil der Mauer war abgesackt. »Aber wenn du es genau wissen willst, musst du dich mit unserem alten Zimmermann unterhalten.«

Das machte ich, fuhr los Richtung Norden und bog kurz vor der Brücke über den Hadelner Kanal nach links ab, dann lange parallel zum Wasser. Alles liegt hier tiefer als der Kanal, die Weiden und auch das Haus des Zimmermanns, ein Fachwerkhaus, von ein paar jungen Birken umgeben. Im Wohnzimmer hängt ein schönes Bild dieses Hauses, den Flur schmückt eine Truhe aus dem 18. Jahrhundert. Aber alles steht hier gerade und es gibt keine Risse in den Wänden.

Hatten wir früher neu tapeziert, war spätestens nach einem Jahr irgendwo ein neuer Riss entstanden. Wenn über Eck die eine Wand gegenüber der anderen absackte, zogen sich als erstes Anzeichen dort, wo die Wände aneinanderstießen, Falten in die Tapete, bis sie riss. Und wenn im Esszimmer etwas auf den Boden fiel, rollte oder rutschte es zum tiefsten Punkt unter dem Esstisch. Wir wussten immer, wo der tiefste Punkt war. Nur bei den mit Holz belegten Böden war es anders. Die senkten sich nicht punktartig, sondern als Ganze in Richtung der gesackten Wand.

Irgendwann hatte ich gehört, dass die Häuser hier mit ihren Holzböden auf Balken gesetzt wurden, die ohne Fundamente einfach auf das Moor gelegt worden seien – und so mit den Bewegungen des Bodens mitgingen, sozusagen auf dem feuchten Untergrund schwammen. Aber war das wirklich so gewesen?

Es ist Kaffeezeit und fast schon wieder dunkel. Der alte Zimmermann zeigt auf seine Terrasse hinter dem Haus. Das Land jenseits des Gartens grenzt an einen Forst, und hier seien bis vor ein paar Jahren an Abenden wie diesen bis zu fünfzig Stück Damwild aus dem Wald getreten, um auf den Weiden zu äsen. Jetzt passiere das nicht mehr. Vielleicht sind sie von den Wölfen vertrieben worden? Er zuckt die Achseln.

Der beinahe Achtzigjährige ist kräftig und beweglich. Zwar hat inzwischen die Tochter den Betrieb übernommen, aber meist ist der freundliche Mann immer noch den ganzen Tag mit im Betrieb oder auf Baustellen. Er ist zuständig für die ›alten Sachen‹, weil er sich auskennt mit alten Häusern und Ställen, die renoviert oder ausgebaut werden sollen. Früher war er mehr mit dem Neuen beschäftigt, unser Boxenlaufstall von Anfang der 1970er-Jahre war eine seiner ersten Bauleitungen.

Wir trinken Kaffee.

»Im 18. Jahrhundert«, sagt er, »und vermutlich auch schon im 17. Jahrhundert, hat man die Fachwerkbauten auf große Torfsoden gesetzt, die in eine Art Fundamentgräben eingesenkt wurden. Diese Torfsoden waren etwa 40 mal 50 mal 60 Zentimeter groß, stark ausgetrocknet und daher verdichtet. Auf die legte man Balken und hat auf denen dann den Holzrahmen für das Haus errichtet. Im Winter hat sich der Torf mit Wasser vollgesogen und das ganze Haus angehoben. Im Sommer trockneten die Soden aus und das Haus senkte sich wieder. Die Hoffnung war immer, dass sich das Gebäude gleichmäßig hob und senkte – was aber natürlich nie der Fall war. Es gab immer Risse in den Böden und Wänden.«

»Welches Material hatte man?«

»Das war es ja eben: Holz und Steine gab es anfangs nicht.« Die neu angepflanzten Bäume brauchten ein paar Jahrzehnte, bis sie als Bauholz genutzt werden konnten. Und bevor man alle Baumaterialien einzeln transportierte, brach man nicht selten ein ganzes Haus woanders ab und transportierte alles – Holz, Steine, Fenster und Türen – auf Pferdewagen hierher. Ein Beispiel dafür ist laut Dorfchronik die erste Schule unseres Dorfs. Aber bald wurden Ziegeleien im Umkreis gegründet und versorgten die Bewohner mit Ziegelsteinen.

»Als Nächstes«, sagt er, »hat man für die Fundamente erst gestampften Lehm, später Rotstein genommen, also gebrannten Stein, aber ohne Mörtelverbindung. Diese Fundamente wurden leicht nach außen ausgestellt, wurden also nach unten hin breiter gesetzt und verjüngten sich nach oben hin – wie bei einer Pyramide.

Ich zeichne es mir auf.

»Immer wieder wird behauptet, die Häuser hier wären traditionell auf Pfähle gestellt worden. Was hat es damit auf sich?«

»Ja, das gab es auch. Aber erst, als genug Bauholz zur Verfügung stand.«

»Wie muss man sich das vorstellen?«

Er erklärt, ich zeichne den Grundriss nach seinen Angaben.

Im Abstand von einem Meter wurden lange Holzpfähle, meistens aus Eiche, als Träger für die Außenwände in den Boden gerammt, dazu meistens noch eine Linie entlang der Mittelachse für eine tragende Wand – das war bei den Bauern die Wand zwischen Vieh- und Hausteil. Die Länge der Pfähle bemaß sich nach der Stärke der Moorschicht.

»Bei euch im Dorf war sie eigentlich nicht so stark«, sagt er, »etwa einen Meter, dann war man schon auf Sand. Aber hier nebenan geht es bis zu acht Metern tief.«

Das Wichtigste an dieser Bauweise ist gewesen, dass die Pfähle unterhalb des Grundwassers blieben, also immer im Feuchten standen, um sich nicht zu zersetzen. Durch die Entwässerung und das Absacken des Moors gerieten viele Pfähle jedoch mit ihren Köpfen oberhalb des Grundwassers. »Und da begannen sie zu verfaulen, weil Luft rankam.« Und wieder sackten die Häuser.

»Als bessere Wege und Transportmöglichkeiten vorhanden waren, setzten manche Felssteine als Fundamente.«

»Aber die sacken doch auch weg«, wende ich ein.

»Richtig«, sagt er. »Alles versackt im Moor. Deshalb war eine leichte Bauweise wichtig, so wie das Fachwerk.«

»Und die Bedachung durch Stroh«, füge ich an.

Aber da schüttelt er den Kopf. »Nur bei Trockenheit ist das Strohdach leicht. Wenn es sich voll Wasser saugt, ist es mindestens so schwer wie ein Ziegeldach.«

 

Bei vielen Neubauten zwischen den 1880er- und 1920er -Jahren wurden Dächer immer seltener noch mit Stroh gedeckt. Zwar waren Strohdächer immer noch billiger, aber sie müssen auch aufwendig gepflegt werden, gegen Moosbewachsung geschützt und gründlich ausgebessert, wenn ein Sturm sie zerpflückt. Und die Feuerversicherung wurde unbezahlbar. Es folgten Lehmziegeldächer, und wer sich die nicht leisten konnte, deckte das Dach mit Pfannenblechen, deren Nachfolger in den 1950er-Jahren das Eternit bzw. Wellenasbest war.

Sein Haus besitzt ein Krüppelwalmdach, einen ›Pony‹ über dem Giebel. Früher verschloss man das obere Dreieck im spitz zulaufenden Giebel durch Bretter und ließ darin ein Eulenloch frei; man bot Eulen und Käuzen gerne Wohnung, denn sie waren nützlich, weil sie Mäuse fraßen.

Woraus machte man die Fußböden?

Die bestanden anfangs für Mensch und Tier aus gestampftem Lehm. Als für Menschen dann Holzbohlen benutzt wurden – jedenfalls für die Schlafstuben, weil es das wärmere Material war –, verwendete man für die Ställe immer öfter Rotstein, das waren Ausschussziegel, die auch für Küchen und Waschküchen benutzt wurden. Die nächste Stufe waren dann Fliesen, und wir zeichnen beide die traditionell verwendeten Muster für die hiesigen Flure und Küchen auf, an die wir uns erinnern, wie Salmiakpastillen sternförmig gelegt in Beige und Schwarz, an den Rändern ein römisches Muster wie das Fragment eines Labyrinths.

Als ich ihn zum Abschluss frage, was er mir raten würde, wenn ich vorhätte, im Moor zu bauen, sagt er nach kurzem Schweigen: »Da würde ich abraten. Man hat eigentlich immer nur Ärger damit.«

10. KAPITEL
ENDE DES 18. JAHRHUNDERTS
Goethes Eckermann als Kind. Die Dorfschule und Streit um Kirchenplätze für Moorbauern.

IN BIBLIOTHEKEN UND ARCHIVEN suchte ich weiter nach schriftlichen Zeugnissen bäuerlichen Lebens im 18. Jahrhundert. Aber wie ein Sozialhistoriker einmal schrieb, waren die Bauern vor dem 19. Jahrhundert »eine stumme Schicht«. Ihre Probleme, stellte er fest, schlügen sich selten schriftlich nieder. »Des Schreibens unkundig oder ihm doch nicht zugetan, haben Bauern kaum Quellen hinterlassen: Es fehlen die Tagebücher, Briefe, Taxationen, Rechnungen und andere Unterlagen der Wirtschaftsführung, wie sie Gutsbesitzer verfasst haben. Diese Schwierigkeiten ändern aber nichts an der Grundtatsache, dass die deutsche Agrarwirtschaft auch im 18. Jahrhundert im wesentlichen Bauernwirtschaft war. Sie hat überall die ökonomische Grundlage der Landwirtschaft gebildet.«

Wesentlich besser dokumentiert ist Goethes Leben – und dort stieß ich immerhin auf jene Männer, die Goethe als Diener, Schreiber und Kutscher beschäftigte. Auch deren Väter sind keine Bauern gewesen, sie stammten meist aus den zünftigen und auch nicht mehr zunftgebundenen Handwerksberufen, waren Spengler, also Klempner, Bäcker, Regimentsmusiker, Korbmacher und Zeugmacher, also Wolltuchweber, ein Stubenmaler war dabei, schon damals ein Lehrberuf, ein Krämer und ein Schwertfeger, Letzterer ein spezialisierter Waffenschmied.

Aber dann fand ich Johann Peter Eckermann.

Der später durch seine »Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens« berühmt gewordene Eckermann hat sich immer dagegen verwahrt, er sei ein ›Diener‹ Goethes gewesen – vielmehr sah er sich selbst als Dichter und Freund, der bei editorischen und organisatorischen Aufgaben half. Bei den feineren Freunden des Ministers hat er dennoch immer ein wenig als Faktotum gegolten. Die Schriftsteller und Gelehrten in Goethes Umkreis spotteten über ihn, über seine literarischen Ambitionen und vor allem über seine mangelnde Bildung. Seine Herkunft war nämlich sehr ähnlich der von Goethes Dienern.

Tatsächlich hat Johann Peter Eckermann eine kurze Beschreibung seiner zwar nicht bäuerlichen, aber doch nahezu bäuerlichen Herkunft hinterlassen. Sie steht an prominenter Stelle, nämlich im Vorwort zu seinem berühmten Buch der Gespräche mit Goethe.

1792 ist Eckermann in Winsen an der Luhe, »einem Städtchen zwischen Lüneburg und Hamburg, auf der Grenze des Marsch- und Heidelandes«, wie er schreibt, geboren, »und zwar in einer Hütte, wie man wohl ein Häuschen nennen kann, das nur einen heizbaren Aufenthalt und keine Treppe hatte, sondern wo man auf einer gleich an der Haustür stehenden Leiter unmittelbar auf den Heuboden stieg«. Er hatte zwei Halbschwestern, die, als er selbst noch ein Kind war, schon in Dienst gegangen waren, und man kann sich vorstellen, dass dieses Dienen als Magd und Knecht allen Geschwistern als ihr Schicksal zugedacht gewesen ist.

Seine Mutter, so schrieb Eckermann, war besonders geschickt im Spinnen der Wolle und im Verfertigen von »bürgerlichen Mützen der Frauenzimmer«, mit dem sie ein wenig Geld in den Haushalt brachte. Der Vater war viel unterwegs, da er mit verschiedenen Waren »in seinem leichten hölzernen Schränkchen auf dem Rücken, in der Heidegegend von Dorf zu Dorf« wanderte und »mit Band, Zwirn und Seide hausieren« ging. Bei diesen Gängen über die Dörfer kaufte er »wollene Strümpfe und Beiderwand«, das war ein aus der braunen Wolle der Heidschnucken und leinenem Garn gewebtes Textil, das er »am jenseitigen Elbufer, in den Vierlanden« wieder zum Verkauf anbot. Auch handelte er »mit rohen Schreibfedern und ungebleichter Leinewand«, die er in den Dörfern aufkaufte, auf der Elbe nach Hamburg schipperte und dort verkaufte. »In allen Fällen jedoch musste sein Gewinn sehr gering sein«, schrieb Eckermann junior, »denn wir lebten immer in einiger Armut.«

Wir können aus dieser seltenen Quelle im Folgenden auch ersehen, wie nahe an der bäuerlichen Lebensweise ein Hausierer damals war. »Die Hauptquelle des Unterhaltes unserer kleinen Familie war eine Kuh, die uns nicht allein zu unserem täglichen Bedarf mit Milch versah, sondern von der wir auch jährlich ein Kalb mästeten und außerdem zu gewissen Zeiten für einige Groschen Milch verkaufen konnten.« Eckermann schrieb weiter davon, dass die Familie auf einem Stück eigenen Landes Gemüse für ihren Bedarf anbaute, jedoch kein Getreide für das Brot, das sie also kaufen mussten. Seine eigenen kindlichen Tätigkeiten sind, wie bei einem Bauernkind, nach Jahreszeiten verschieden. »Mit dem anbrechenden Frühling und sowie die Gewässer der gewöhnlichen Elb-Überschwemmungen verlaufen waren, ging ich täglich, um das an den Binnendeichen und sonstigen Erhöhungen angespülte Schilf zu sammeln und als eine beliebte Streu für unsere Kuh anzuhäufen. Wenn sodann auf der weit ausgedehnten Weidefläche das erste Grün hervorkeimte, verlebte ich in der Gemeinschaft mit anderen Knaben lange Tage im Hüten der Kühe. Während des Sommers war ich tätig in Bestellung unseres Ackers, auch schleppte ich für das Bedürfnis des Herdes das ganze Jahr hindurch aus der kaum eine Stunde entfernten Waldung trockenes Holz herbei. Zur Zeit der Kornernte sah man mich wochenlang in den Feldern mit Ährenlesen beschäftigt, und später, wenn die Herbstwinde die Bäume schüttelten, sammelte ich Eicheln, die ich metzenweise* an wohlhabendere Einwohner, um ihre Gänse damit zu füttern, verkaufte.«

Johann Peter Eckermann schrieb von diesen Arbeiten eines Kindes auf dem Dorf ohne Verlegenheit. Sie zeigen, dass seine Eltern ähnlich wie abhängige Bauern weder Wirtschaftskraft noch Status hatten. Es war selbstverständlich, dass ein Kind unter solchen Bedingungen höchstens im Winter, wenn die Familie seine Arbeitskraft entbehren und zudem das Schulgeld aufbringen konnte, zur Schule ging, wo er, wie er schrieb, »notdürftig lesen und schreiben lernte«.

Wie war es mit der Schule für die Moorbauernkinder in meinem Dorf? Hatte es überhaupt von Anfang an eine Schule gegeben? Brauchte man die Kinder nicht zur Arbeit? Konnte man sie lernen lassen? Die Schulchronik des Lehrers Offermann behauptet es. Und wirklich waren Moorbauern und Dorfgründer ja auch Pioniere, Menschen, die sich etwas zutrauten, die eine bessere Zukunft im Auge hatten, auch für ihre Kinder.

Anfangs wurde, wie auch in Eckermanns Fall, nur im Winter Schule abgehalten, »etwa von Oktober bis Ostern« – also zwischen dem Ende der Ernte und dem Beginn der Frühjahrsbestellung. Es gab eine Hauptschule bei der Kirche, das muss im Hauptort Steinau gewesen sein, zu dem damals fünf Bauerndörfer gehörten, darunter Bachenbruch, das nach dem hiesigen Moor benannt war. Übrigens hatte unser Dorf da, und noch viele Jahrzehnte nach der Gründung, keinen eigenen Namen und wurde meist nur »Anbau im Bachenbrucher Moor« genannt. Für die Kinder von dort war der Schulweg ein anderthalbstündiger Fußweg, es sei denn, man hätte sie gesammelt und mit Pferd und Wagen gefahren.

»Es stand den Eltern im Belieben«, schreibt der Chronist, »ob sie ihre Kinder Rechnen und Schreiben lernen lassen wollten oder nicht.« Wer mehr Schulgeld zahlte, bekam mehr Lehrstoff. »Infolge dessen blieb manches Kind, namentlich die Mädchen, ohne jede Ausbildung im Rechnen.«

Hauptfach war Religion. Dazu gehörte »der große Landeskatechismus« und das Auswendiglernen von »Sprüchen und Liederversen«, Lesen lernten die Kleinen mit der Fibel und dem lutherischen Katechismus, später kamen das Geschichtsbuch – eher ein Geschichtenbuch – hinzu, Gesangbuch und Bibel.

Das ist für den kleinen Johann Peter Eckermann sicher nicht anders gewesen. Sogar für mich stimmte es noch in den beiden ersten Schuljahren, wenn auch nicht mehr in dieser Ausschließlichkeit. So wurde das alte Gebot ›Ora et labora‹, ›Bete und arbeite‹, gut verankert: Sechs Monate lang Kirchenlieder, Gebete, die Zehn Gebote, das Vaterunser und die Bibel.

Eine ländliche Frömmigkeit hat sich in unserer Gegend daraus nicht entwickelt – wie es überhaupt mit der Kirche und den dortigen Pastoren gleich am Anfang nicht gut ging. Davon berichtet ein anderer Chronist des Dorfs.1

»Seitdem die ersten Siedler um das Jahr 1780 im ›Neuen Anbau‹ ihre armseligen Moorkaten bezogen hatten, herrschte ein gespanntes Verhältnis zu der Kirche in Steinau«, schrieb er. Der Grund war, dass die Plätze in der Kirche gekauft werden mussten und durch Vererbung über Generationen im Besitz der Familien waren. Aber die Mooranbauer »kümmerten sich wenig um angestammte Plätze und setzten sich, wo gerade Platz war. Ihr Benehmen war gröblich und unfein.« Schlimmer noch, sie wollten sich an den laufenden Kosten und Abgaben und den anfallenden Reparaturen nicht beteiligen. »Ja, sogar die Bezahlung des Brotes und Weines beim Abendmahl und die Beerdigungskosten blieben sie schuldig«, sodass sich der Pastor, bevor er einen von ihnen beerdigte, meist im Voraus bezahlen ließ. Den Meyerbauern waren bei der Ansiedlung durch die Obrigkeit sogenannte Freijahre zugestanden worden, in denen sie von bestimmten Abgaben befreit blieben, darunter auch kirchlichen. Trotzdem kam es »immer wieder zu Streitereien um die Abgaben und die Plätze in der Kirche«, obwohl ihnen sogar von amtlicher Seite 1784 »unter Federführung des hochwohlgeborenen Drostes von der Decken 40 Kirchplätze, und zwar 20 für Frauen und 20 für Männer« bezahlt wurden. Als Nächstes verweigerten die Neuankömmlinge die Beteiligung an einer Schuldentilgung für Kirchenreparaturen aus den 1770er-Jahren. Zu ihrer Widerborstigkeit trug vielleicht bei, dass sie oft erfolgreich war. Denn die Verteilung auf drei verschiedene Ämter in Sachen weltlicher, gerichtlicher und kirchlicher Zuständigkeit ließ selbst die Behörden nicht immer durchblicken, was rechtens sei. Jedenfalls beendete erst ein 1826 abgeschlossener Vergleich einen fünfundzwanzig Jahre währenden Gerichtsprozess zwischen den Siedlern und der Kirche. Die Kolonisten verloren auf ganzer Linie und unterschrieben »für sich und ihre Erben von jetzt an, unweigerlich, immerfort, wenn Kirchen-Anlagen im hiesigen Kirchspiele erforderlich sind und gemacht werden, die zu solchen Anlagen mit herbeygezogene Kopf- und Personensteuer … gleichmäßig mit den hiesigen Einwohnern beyzutragen«.

Unter dieses Dokument haben alle Siedler eine eigenhändige Unterschrift gesetzt. Offenbar hatte die Dorfschule inzwischen dafür gesorgt, dass in der zweiten Generation alle Bauern schreiben konnten – mindestens ihre Namen.

Das Schulgebäude, in dem schließlich auch ich saß und eins ums andere Jahr zu den größeren Tischen und Bänken aufrücken durfte, war schon das dritte im Dorf. Das erste von 1783 war abgebrochen, ein neues 1852 errichtet und in den 1880ern umgebaut und erweitert worden. Immer mehr Kinder aus den feuchten Katen und bald besseren Häusern überlebten, durch eine zureichende Ernährung und einen gewissen medizinischen Fortschritt, der selbst bis in diese Landesteile ausstrahlte. Seit 1849 hatte die Gemeinde einen eigenen Schulverein, und seit 1880 durften auch die Kinder aus Bachenbruch, die eigentlich in das Kirchdorf Steinau hätten gehen müssen, deren Weg zur Schule im neuen Dorf aber kürzer war, hier eingeschult werden. In dem 1907 neu errichteten Schulgebäude wurde ich dann eingeschult, auch dies noch eine ›Zwergschule‹ mit nur einem Klassenzimmer, die ›Schulstube‹, in der alle acht Jahrgänge gleichzeitig unterrichtet wurden. Auf der anderen Seite des Hauses wohnte die Familie des Lehrers, und auch in den 1950er-Jahren schloss sich an das Schulhaus noch ein niedriger, strohgedeckter Gebäudeteil an, offenbar stehen gelassen aus älterer Zeit, in dem Platz war für Futterdiele und Vieh. Unser Lehrer hielt nur noch ein paar Hühner und Schafe, für die er von den Bauern traditionell Heu und Stroh bekam. Am wichtigsten war allerdings die Torflieferung an den Lehrer durch die Bauern, das Heizmaterial für seine Wohnung und unsere Schulstube.

 

Seit 1860 wurde auch im Sommer unterrichtet – zumindest durften Kinder über elf Jahre, deren Kenntnisse als ausreichend angesehen wurden, zwölf Stunden wöchentlich zur Schule kommen, täglich zwei Stunden.

Ich erinnere mich an die Auflösung der Schule in den 1960er-Jahren, als solche dörflichen Zwergschulen geschlossen wurden. Schulmöbel, Landkarten und die Bücher der Leihbibliothek aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, Volksbibliothek genannt, sollten versteigert werden. Die alten Bücher waren in einem so guten Zustand, dass man sofort begriff, dass weder die Erwachsenen des Dorfs noch die Kinder jemals Zeit zum Lesen gefunden hatten. Tatsächlich war das Lesen noch in meiner Familie als Zeitverschwendung angesehen worden. Schließlich hätte man zur selben Zeit im Stall, im Haus oder auf dem Feld helfen können – und es eigentlich auch gemusst.