Bauern, Land

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Loe katkendit
Märgi loetuks
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Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

11. KAPITEL
DAMALS
Kinderarbeit und Kinderträume. Was wir mit dem Körper lernten und dass Arbeit getan werden musste.

WIR LIEFEN MIT. Im Stall und auf dem Feld. In Gummistiefeln und barfuß. Immer den Eltern hinterher. Wir waren dabei, wenn sie Kartoffeln legten, wenn sie Runkelrüben setzten, Steckrüben verzogen und Unkraut hackten. Wir waren beim Mähen und Wenden des Grases, beim Aufstellen der Getreidegarben in Hocken dabei, beim Aufladen von Heu, Kartoffeln, Rüben, beim Abladen der Wagen, Einbringen der Ernte, beim Melken und beim Treiben der Rinder von einer Weide zur anderen, beim Füttern der Schweine, Hühner und Enten, beim Schlachten und Rupfen und Ausnehmen des Geflügels, beim Kalben der Kühe und Ferkeln der Sauen, beim Ausmisten und Einstreuen, beim Zäunebauen, Düngerstreuen, Mistaufladen und -verteilen. Und wir waren auch dabei, wenn unsere Mutter anfangs immer wieder versuchte, ein Stück Garten zu kultivieren, wenn sie die Erde umgrub und harkte, an Anfang und Ende einer Reihe kurze Pflöcke in die Erde steckte, an die sie eine Schnur band und an ihr entlang mit dem Hackenstiel Rinnen in die vorbereitete Erde zog. Und in diese Rinnen streute sie aus kleinen Tütchen den Samen und spießte die leere Tütchen mit den kleinen Bildern von Kopfsalat, Mohrrüben, Radieschen, Bohnen und Erbsen an den Pflöcken auf, damit man wusste, wo was gesät war.

Wir gingen zur Hand. Mit dem Eifer kleiner Kinder. Spielerisch, begeistert.

Schleppten für sie den Eimer herbei, die Forke, die Kiepe, die Schaufel. Halfen beim Viehtreiben, riefen den Tieren und einander etwas zu, klopften dem Hund die Flanke, streichelten die Katzen, gossen ihnen Milch in die Näpfe. Und verloren uns dann, als wir noch klein waren, auch schnell in einer Einzelheit auf dem Weg zwischen dem einen und dem anderen, blieben stehen oder setzten uns hin, sahen Ameisen über den Weg krabbeln oder Hummeln über den Blüten der Wiese brummen und sahen dem Storch zu, der hinter dem Heuwender herging und Mäuse und Frösche aufspießte, untersuchten das Gewölle von Eulen, probierten, den Maulwurf unter der Erde zu finden, oder lagen im Gras und sahen den ziehenden Wolken nach, bis das Wasser für die Kälber in der Zinkwanne überlief – rannten los, den Wasserhahn zu schließen.

Manchmal zog ich mich zurück. Wie jedes Kind wollte ich für mich sein, ohne die Erwachsenen und ihre Ansprüche, wollte nichts von ihnen sehen und hören. Dann ging ich, wenn es Winter war, auf die große Diele und setzte mich in das zur nächsten Fütterung aufgeschüttete Heu. Dort lag meistens schon die alte Katze, die vor uns auf dem Hof gewesen ist, oder sie kam, wenn sie mich hatte kommen hören. So saßen wir dann im Blickfeld der wiederkäuenden Kühe und ich sprach mit der Katze und streichelte sie, die sich schlängelnd und drehend ganz an mich und meine Hände drückte. Manchmal aber waren mir dann auch sie und die Gegenwart der Kühe zu viel und ich schubste sie weg und verließ die Diele, wollte eindeutiger und gründlicher für mich sein, denn auch die Tiere ließen mich nicht ganz frei, erinnerten mich an die Arbeit, die man mit ihnen hatte. Ich öffnete dann die kleine, ins große Dielentor eingeschnittene Tür und schlüpfte hinaus in die benachbarte Scheune, in der ich dann hoch oben auf das Stroh kletterte. Dort saß oder lag ich, umgeben nur von Stroh und Staub und Spinnweben und manchmal einem Rascheln, von dem ich annehmen wollte, dass es von Mäusen stammte, auch wenn ich wusste, dass es Ratten waren. Wahrscheinlich blieb ich gar nicht lange dort, denn es war ja kalt. Und doch war es eine kleine Ewigkeit da im Stroh, in die ich versank und die mich ein wenig träumen ließ.

Im Sommer ging ich zum Alleinesein in den Buschhof. Dort lag am Rande der von Eichen umstandenen Kälberwiese und unter Holunderbüschen, in die sich Efeu und wilde Brombeeren gerankt hatten, allerlei altes Gerät, von wucherndem Kraut und Brennnesseln fast überwachsen. Da waren ein altertümlicher, inzwischen schon fast völlig verrosteter und in seine Bestandteile zerfallender Pflug, ein zusammengebrochener Ackerwagen, der einfach in den Busch geschoben worden war, auf dass ihn vielleicht irgendwann später jemand ausschlachten würde. Das Eisenband, das um seine hölzernen Räder lief, war bald verrostet, und das Holz der Räder, das durch die beständige Feuchtigkeit aufgequollen war, drängte sich unter dem Eisenband hervor, platzte sozusagen aus der Naht. Übereinandergeschichtet lagen da alte Eggen, denen Zähne fehlten oder die zu klein geworden und längst durch größere ersetzt worden waren. Durch sie hindurch wuchs Unkraut, und daneben gab es anderes veraltetes Gerät aus der Zeit der vorherigen oder vorvorherigen Besitzer – auch die Reste eines hölzernen Bocks, inzwischen schwarz und bröckelnd, auf den einmal Stroh zum Häckseln oder gar noch Flachs zum Brechen gelegt worden war. Die dazugehörigen Schneiden, verrostet, gekrümmt oder gerade, gezähnt oder von dünnlippiger Gefährlichkeit, lagen eingewachsen in wucherndes Gras und Gestrüpp.

Deshalb sah unsere Mutter es nicht so gerne, wenn wir Kinder uns im Busch herumtrieben. Aber so ganz verboten war es nicht.

Einmal im Frühling entdeckte ich, im frisch belaubten Gebüsch hockend und eigentlich vertieft in den Anblick der Farne, die dort schon üppig wuchsen, eine für mich ganz neue und eigenartige Pflanze. Still und bleich ragten Stängel aus dem Boden, kleine Röhren waren es, oben gekrönt von einem braunen, länglichen Puschel. Mir waren diese Stängel in ihrer Blässe ein bisschen ekelhaft, und gleichzeitig zogen sie mich wegen ihrer Fremdheit auch an. Anfassen wollte ich sie nicht. Und sie waren auch kein bisschen schön. Nein, ich wollte sie nicht pflücken. Sie waren einfach nur ganz für sich, waren nicht einmal recht was fürs Auge, waren nur da, und nichts an ihnen blühte oder wiegte sich in dem leichten Windhauch, in dem sogar die schweren Farne hier nahe der Erde sich ab und zu ein wenig bewegten. Starr und ergeben standen sie in der feuchten, moorigen Erde. Aus der Hocke brachte ich mein Gesicht nahe an sie heran. Alle paar Zentimeter umlief jeden Stängel ein brauner Ring aus winzigen, an den Hauptstamm geklebten Blättchen. Sie waren, so kam es mir vor, stiller und stummer als andere Pflanzenstängel, die nicht nur überhaupt grün waren und sich mal glatt, mal pelzig anfühlten, mal geriffelt, kantig oder rau waren, sondern aus denen auch Nebenästchen herauswuchsen und sie so überhaupt erst zu einer ordentlichen Pflanze machten.

Meine Aufmerksamkeit ließ langsam nach und mein Blick ging wieder zu den Farnen, von denen ich wusste, wie riesig groß sie im Sommer an diesem Standort werden würden, sodass ich mir wieder einmal vorstellte, dass man, wäre man nur ein wenig kleiner, sich unter ihnen verstecken könnte. Da würde ich mir dann aus dem Moos, das überall an den Füßen der Stämme hier wuchs, eine Art Nest bauen, das ich zu einer kleinen Zwergenwohnung würde ausstatten können, mit Blättern und Ästen und Stückchen von trockenem Holz und Rinde, um im Sommer die hellen, sauren Wildkirschen da hineinzusammeln und im Herbst die in so großer Fülle von den Bäumen fallenden Eicheln. Nur die braunen schwammigen Pilze, die schlecht riechend auf absterbendem Holz wuchsen – und die Hallimasch hießen, wie ich später lernte –, würde ich nicht anfassen, genauso wenig wie die bleichen Stängel.

Ich stand aus der Hocke wieder auf und bewegte mich leise und langsam weiter durch das Gebüsch, war Zwergin, Indianerin, vermied es, auf die trockenen Zweige zu treten, damit es nicht knackte und keine Feinde auf mich aufmerksam würden. Die Vögel sahen oder hörten mich dennoch und warnten. Aber das störte mich nicht, im Gegenteil, das gehörte nun zu meinem Urwaldgefühl dazu, auch die Vögel waren jetzt wie Pflanzen, denn ich wollte gar keine Tiere dabeihaben, und auch ich selbst könnte und würde eine Pflanze werden, tief wurzelnd, in die Tiefe hineinwachsend. Ich sog den Geruch der Erde ein, nahm sogar ein bisschen Erde in den Mund und das Modrige an ihr gefiel mir. Ich wollte mich lang auf sie legen, ganz in sie einsinken, in ihre Tiefe eintauchen wie in eine Unterwasserwelt, die sie einmal war, vor Millionen Jahren, versunken in eine uralte Pflanzenwelt von Farnen, Moosen und Schachtelhalmen – denn das waren diese merkwürdig bleichen Stängel. Was aus dieser Versunkenheit einmal gewachsen ist, das Moor, machte auch mich sumpfig und träge.

Später im Jahr, als ich einmal wieder einen Besuch ganz für mich im Buschhof machte, entdeckte ich an der Stelle der bleichen Stängel – nichts. Sie waren weg. Jedenfalls glaubte ich das. Aber dann fielen mir die Pflanzen auf, die ich im Frühjahr noch nicht hier gesehen hatte, mit grünen Stängeln, aus denen in regelmäßigen Abständen ein Kranz sehr simpler Ästchen spross – Schachtelhalme im Sommer. Sie waren jetzt weniger ärmlich anzusehen als in ihrer Frühlingsnacktheit, dafür gewöhnlicher, und fielen kaum noch auf. Dass und wie besonders sie waren, verstand ich erst, als ich sie jahrzehntelang nie und nirgends mehr gesehen hatte, nur einmal noch in einem botanischen Garten.

Aus den Handreichungen der kleinen Kinder wurden Aufgaben, wurden Pflichten, wurde Arbeit. Mit uns wurde gerechnet.

Und als es ernst wurde, war uns alles schon vertraut. Die Hitze im Sommer beim Rübenhacken und beim Heumachen, dazu Mückenstiche und der eigene Schweiß. Im Winter waren es dann Kälte, Frost und Schnee, gegen die man Handschuhe, Schals, Stiefel aufbot, und Geduld, Hartnäckigkeit, Trotz. Wir kannten die Griffe, das Anheben und Tragen und Absetzen, das Ziehen und Über-den-Boden-Schleifen, das Fegen und Bürsten, Rühren und Schälen, Rupfen und Schrubben. Wir kannten Nässe, Dreck, Gestank und Gewicht. Wir fassten an, was rau und stachelig war, verkrustet, glatt oder schleimig verklebt. Setzten den eigenen Körper an gegen die Schwere der Gegenstände und den Widerstand der Tiere. Schoben, hoben, trugen. Säuberten Ställe und Futterkrippen, streuten ein mit staubigem Heu oder kratzendem Stroh. Stießen mit Ellenbogen und Knien gegen Holz, Stein und Metall, und wenn es schmerzte, fluchten und schimpften wir laut mit Holz, Stein und Metall. Aber wenn wir den Erwachsenen anklagend oder gekränkt die neuen Schrammen zeigten, winkten sie ab oder sagten nur: »Alles faules Fleisch, muss alles noch weg.« Unsere kindlich-ungelenken Körper mussten noch mehr Geschick entwickeln, mehr Kraft und Tempo. Und das geschah dann wohl auch.

 

Gegen die Erwachsenen jedenfalls half nichts. Und gegen die Arbeit auch nicht. Sie musste getan werden.

12. KAPITEL
DAMALS
Wie unsere Eltern Moornachbarschaft kennenlernen.

WENN WIR MORGENS NACH DEM VIEHBESORGEN noch beim Frühstück saßen, kam oft einer der Nachbarn vorbei. Der Hund hatte ihn meistens schon angekündigt. Mal war es Onkel Edu, mal Egon, der junge Mann von nebenan, der in unserem zweiten Jahr in Neubachenbruch geheiratet hatte. Wer es auch war, er rief schon vom Eingang her »Moin« und klopfte an die Tür, auch wenn sie schon offen stand. Nur ganz selten war es eine Frau, denn die Bäuerinnen standen um diese Uhrzeit schon am Herd und bereiteten das Mittagessen vor. Im Dorf stand fast überall pünktlich um zwölf Uhr das Essen auf dem Tisch – immerhin war man gegen fünf oder sechs Uhr morgens zum Melken aufgestanden.

Wer es auch war, er wurde aufgefordert, einen Kaffee mitzutrinken, tat es jedoch nie, war immer in Eile und wollte entweder ein Gerät ausleihen oder um Mithilfe bei einer Unternehmung bitten, die traditionell gemeinsam gemacht wurde. Das ging von der Hilfe beim Kuhkalben über tagelange Bauarbeiten bis hin zu Fahrten über Land zu Versteigerungen oder Vieh- und Maschinenkäufen. Aber in der Regel setzte sich der Besucher wenigstens kurz hin.

»Sett di dal, süss räd ik nich mit di«, sagte mein Vater. Setz dich, sonst spreche ich nicht mit dir. Nur wenn es um das Kalben einer Kuh ging, durfte der Nachbar gleich weiterziehen zum nächsten Nachbarn. Sonst aber musste er sich erst einmal irgendwelche Fragen gefallen lassen: Ob der Maurer gestern am Ende doch noch gekommen ist, ob der Miststreuer repariert werden konnte, und wie geht es überhaupt der Tante, die neulich überraschend ins Krankenhaus gebracht werden musste? So ging es eine kurze Weile hin und her, und manchmal war die Sache, um die der Nachbar gekommen war, dann doch nicht so eilig. Oder einer erzählte ungefragt, wie Hinni oder August oder Johann gestern mit ihrem neuen Trecker einem Grabenrand zu nahe gekommen und abgerutscht waren und erst durch das Vorspannen von zwei Pferden wieder herausgezogen werden konnten. Das war für alle eine Erinnerung an den Ausspruch einer der Mütter, und man grinste gemeinsam ein bisschen spöttisch in sich rein. Die hatte nämlich, als unser Vater statt mit Pferden gleich mit einem Trecker zu wirtschaften begonnen hatten, gemeint: »Dat geiht bi uns nich« – Das geht bei uns nicht. Den begehrlichen Blick ihres Sohnes hatte sie betont übersehen.

Über das In-den-Graben-Rutschen amüsierten sich alle gerne – aber auch nicht zu sehr, denn es passierte natürlich jedem mal.

Erst wenn das Frühstück dann beendet war und alle aufstanden, stand auch der Nachbar auf. Während sich die beiden Männer zum Gang nach draußen im Windfang die Stiefel anzogen – auch der Besucher hatte seine Stiefel gleich ausgezogen und war auf Strümpfen eingetreten –, wurde endlich beredet, was zu bereden war.

»Du, wat ick säggn wull …« Was ich sagen wollte …

Mich beeindruckte immer wieder dieses ausführliche Drumherum-Reden. Anfangs machte es mich ganz ungeduldig – bis ich begriff, dass dieses Sprechen zur Nachbarschaft und zur Gegenseitigkeit dazugehörte, dass es die hiesige Höflichkeit war.

Oft ging es darum, dass sich einer ein Gerät ausleihen wollte, oder er wollte ein von uns entliehenes wieder abholen. Obwohl er es auf seinem Gang über den Hof schon hatte stehen sehen, würde er natürlich immer erst ins Haus kommen und Bescheid sagen, bevor er es mitnahm. Wichtig war, dass man es schon gesäubert hatte. Denn wer ein geliehenes Gerät verdreckt oder sogar beschädigt zurückgab, dem hing das ewig an. »So iss hei«, hieß das dann, so ist er eben.

Man nahm allerdings auch das irgendwie hin und es wurde in jedem Fall weiterhin Nachbarschaft gehalten, sogar dann, wenn es sich um weit Schlimmeres als ein schmutziges Gerät handelte. Betrug im Kartenspiel oder kleine Diebereien beim Kleinvieh – sogar Ehebruch. Es geschah wohl, dass einer ›kein guter Nachbar‹ genannt wurde. Manchmal wurden Fehden daraus, die sich über mehrere Generationen erstreckten, aber Nachbar war man trotzdem, lebenslang. Beim Säubern der Gräben und beim Kuhkalben – hiesige Haupt- und Staatsakte – half man einander ohne Diskussion.

Nicht selten musste einer unserer Nachbarn auch bei uns die Reinigung des gemeinsamen Grenzgrabens anmahnen. Wie genau man es hier damit nahm, daran gewöhnte sich unser Vater erst im Laufe der Jahre. »Da verstehen die hier im Moor keinen Spaß!«, hat er manchmal ärgerlich, aber doch auch respektvoll gebrummt, wenn er wieder einmal an seinen Anteil des Grabensäuberns erinnert werden musste. Damals wurden die Gräben noch in schwerer Handarbeit mit Spaten und Haken gesäubert – eine nasse und knochenbrechende Herbstarbeit. Später wurde dafür gemeinsam ein kleiner Bagger aus dem Nachbardorf bestellt.

So oder so, die Gelegenheit für einen Klönschnack – am besten draußen und ohne das kritische Zuhören der Frungslüe, der Frauen – ergriff man gerne.

Die Unterbrechung der Arbeit gehörte zur Arbeit dazu. Denn die Arbeit selbst war einem sicher, sie lief nicht weg. Sie strukturierte nicht nur den Tag und das ganze Leben. Sie war Bedingung des Daseins. Sie steckte einem ein Leben lang in den Knochen. Umso kräftiger und ausführlicher wurde gefeiert, jedenfalls bei den Männern, selbst wenn es nur um eine etwas lang geratene Unterbrechung des Arbeitstags durch den Nachbarn ging. Und auch die Anekdoten, die auf solche Weise zustande kamen, lohnten wiederum ein längeres Stehen- oder Sitzenbleiben. Oft schlossen sie mit einem: »Wat sünd wi duhn wesst!« – Was sind wir blau gewesen! In jedem Fall war es gut, einmal nicht gleich wieder aufstehen, in die nassen Holzschuhe oder Stiefel schlüpfen und weiterlaufen zu müssen.

Es war die Zeit, als nicht schon jeder einen Trecker besaß, geschweige ein Auto. Man musste sich absprechen und einander helfen – nicht nur, wenn eine Kuh kalbte, Gräben gereinigt und Wege ausgebessert werden sollten. Und auch nicht nur bei großen Ereignissen wie Richtfesten, Hochzeiten und Beerdigungen. Auch im Kleinen galt das Miteinander. Der eine kannte sich mit Viehkrankheiten und ihren Behandlungen gut aus, der andere hatte bessere Ideen, wenn es um den Umgang mit Holz ging, der Nächste konnte Viehhändler zu hohen Preisen treiben und wurde gern hinzugebeten, wenn ein Handel anlag. Und wiederum der Nächste hatte zu einem der Vorstände in Genossenschaft, Landhandel, Molkerei oder Landgesellschaft einen besseren Draht als der Nachbar.

Bei den Frauen war es nicht anders. Die eine kannte alle Mittel gegen bestimmte Kinder- oder Kälberkrankheiten, die Nächste probierte gerne Rezepte beim Einkochen von Marmeladen oder süßsauren Bohnen aus, die sie dann an einige Auserwählte weitergab, und die Übernächste war schon im neu eröffneten Geschäft drei Dörfer weiter gewesen und gab Einkaufstipps. Eine andere häkelte die schönsten Kanten um Tischdecken oder glänzte durch Lochstickerei.

Wenn Schwein oder Rind geschlachtet wurde, halfen die Nachbarinnen beim Säubern der Därme und beim Wurstmachen, beim Schneiden und Durchdrehen des Fleischs, beim Kneten und Würzen des Teigs, dem Einfüllen in Därme oder Gläser, sie lösten einander ab beim Umrühren, beim Brühen der Würste im großen Kessel. Am Ende kriegten sie frische Würste mit zum Dank, hatten vielleicht ein Rezept abgestaubt und kannten außerdem den neuesten Klatsch und Tratsch.

Die Geschichten übereinander arteten selten aus, denn hier war schließlich jeder mit jedem verwandt. Und man traf sich ständig bei so vielen Gelegenheiten wieder, weshalb alle sowieso schon immer fast alles voneinander wussten.

Bis auf die wirklichen Geheimnisse.

In jedem Dorf gab es sicher diese Männer und Frauen, vor denen man sich besonders in Acht nehmen musste, die mit einer Mischung aus harmlos-freundlichem Gesicht und süßer Stimme, mit ganz nebenbei gesetzten Sticheln und galligem Spott jemanden so herauslockten oder provozierten, dass er sich dann selbst verriet. Selbst die Gescheiten, vielleicht sogar gerade sie, wurden von solchen Leuten, wie man hier sagte, ›in die Tasche gesteckt und wieder rausgeholt, ohne dass sie es merkten‹. So wurden Geheimnisse entlockt – die dann hinter vorgehaltenen Händen geflüstert weiterwanderten.

Am Ende blieb keiner ungeschoren.

Vielleicht ging auch deshalb die Nachbarschaftshilfe immer weiter, solange es Nachbarn gab, die Hilfe brauchten. So lange lieferte man gemeinsam das Vieh auf der Waage ab, trank dazu einen Köhm und grinste sich einen. Weil und obwohl man wusste, was man voneinander zu halten hatte. Oder man verabredete eine gemeinsame Fahrt ins Kreiskrankenhaus, in dem eine junge Nachbarin ein Kind geboren oder der Opa von nebenan eine Operation hinter sich gebracht hatte. Man gab fünf Mark Tankgeld dazu und jeder merkte sich, wer es vergaß.

Bald würde es mit all dem vorbei sein. Bald hatte fast jeder im Dorf einen eigenen Trecker und sogar ein eigenes Auto. Besser noch, es gab auch in jedem Haus einen Fernsehapparat. Da brauchte man einander gar nichts mehr zu erzählen.

ERSTES ZWISCHENSPIEL
Warum Vergil das Landleben über den grünen Klee lobte und Johann Heinrich Voß ihm glaubte. Wie die Antike den Boden unter den Füßen verlor.

MANCHMAL TREFFE ICH KRISCHAN, EINEN ALTEN FREUND. Wir stammen nicht aus demselben Ort, aber aus demselben Schulbus. Der Bus sammelte allmorgendlich die Kinder aus den kleinen, weit abgelegenen Dörfern und brachte sie zur Mittelpunktschule, einige von uns noch zehn Kilometer weiter zum Gymnasium. Das bedeutete jeden Morgen eine Stunde Fahrt über die Dörfer, durch flaches Moor, über sandige Geestrücken, ein Gekurve auf engen, gepflasterten Landstraßen, vorbei an den Höfen, auf denen morgens gerade noch gemolken wurde, dann auf Asphalt an Einfamilienhäusern entlang, an Möbel- und Schuhgeschäften, einem Kieswerk, vorbei an großen Geschäften mit Höfen voller Landmaschinen und Baumaterial. Wenn der Bus uns am Mittag zurückbrachte und in jedem Dorf ein paar Kinder aussteigen ließ, war es leer auf den Straßen, die Geschäfte geschlossen zur Mittagsruhe. Auf den Bauernhöfen hob höchstens mal ein Hund den Kopf, wenn die Kinder vorbei- und nach Hause gingen.

Krischan und ich haben uns vorgenommen, uns regelmäßig zu treffen und über Bäuerlichkeit und Landwirtschaft zu sprechen. Die wachsende Kritik an der modernen Agrarwirtschaft hat uns immer mehr aufgebracht – zumal ja kaum einer kannte, worüber er sprach, und nichts wusste über landwirtschaftliches Leben und Arbeiten, über Ackerbau und Viehwirtschaft.

Anders als wir, wie wir meinten.

Aber was wussten wir wirklich über unseren damaligen, kindlichen Alltag hinaus? Wir kannten natürlich unsere eigenen Familienbilder und -erzählungen vom Bauernleben vor unserer Zeit. Daneben gab es jedoch all die Prägungen unserer Kultur, die durch Jahrhunderte agrarischer Lebensweise entstanden waren, und das Bild vom Bauern und vom Land, das wir nicht kannten, weil es von den Bürgern stammte – und weit vor ihnen von Adel und Klerus, aus Dichtung und Kunst.

Wir verabreden Lektüren, besuchen Museen, gehen in Galerien und ethnologische Sammlungen. Wir suchen nach Spuren des Agrarischen in unserer Kultur, forschen nach Elementen des Bruchs zwischen dem Städtischen und dem Ländlichen, zwischen Damals und Heute.

Wir fragen uns, um welches »Damals« es eigentlich geht.

Wann ist für Stadtbewohner Landwirtschaft noch akzeptabel gewesen?

Seit wann wurden ›Land‹ und ›Natur‹ derart romantisiert, dass die auf den Feldern und in den Ställen arbeitenden Menschen nicht mehr in den Blick kamen?

Wir wollen uns auch befassen mit dem Lob des Landlebens – und mit der gegenwärtigen Hassfigur des subventionsgestützten Landwirts, den Grundwasser-, Pflanzen-, Boden-, Menschen- und Tiervergifter. Und dabei bedenken, dass die heutige Landwirtschaft die billigsten und sichersten Lebensmittel produziert, die es je gegeben hat.

 

Wo fängt man an, wenn man über die Kultur schaffende Wirkung des Ackerbaus etwas erfahren will? Was sollten wir wissen über den ägyptischen und sumerischen Landbau?

»Vielleicht genügt es, festzustellen«, sagt Krischan, der schon in der Schule in Geschichte geglänzt hat, »dass die Erfindung der Schrift zurückgeht auf die Notwendigkeit, den bäuerlichen Mehrertrag aufzuzeichnen und die Steuern zu berechnen.« Es war eine von mehreren Schriften, die Keilschrift, die in Uruk bzw. Babylon, im Süden des heutigen Irak, entwickelt wurde. Die Getreideüberschüsse schufen die Grundlage für unsere Schriftkultur – und der Überschuss des Landes die Grundlage für die Entstehung der Städte.

Das Lob des Bauernlebens und die Verherrlichung der Natur kamen von den Herren aus der Stadt, die sich aufs Land begaben, um von der Arbeit auszuruhen, und die – anders als die Bauern – lesen und schreiben konnten. Die Arbeit auf dem Feld und mit den Tieren wurde nicht von den Bauern beschrieben – und erst recht nicht von ihnen gelobt.

Wir nehmen uns den römischen Schriftsteller Vergil1 vor, Autor der berühmten »Georgica«, »Vom Landbau«. Er schrieb das »Lied vom Landbau« ungefähr dreißig Jahre vor unserer Zeitrechnung, ein Hohelied auf die Mühe und den Segen bäuerlicher Arbeit und auf den in der Natur arbeitenden Menschen. »Landarbeit will ich besingen …, den Fleiß, der uns heitre Saaten beschert …, die Zucht von Großvieh, die Pflege von Kleinvieh; schließlich die Kenntnisse noch, die man braucht zur Betreuung der sparsam waltenden Bienen.« Die »Landmänner« werden beschrieben als »rüstige Menschen, zufrieden mit wenigem, zäh bei der Arbeit, Ehrfurcht vor den Göttern und Achtung vor Alten«. Schwere Arbeit als göttlicher Wille. »Vater Jupiter wollte den Feldbau schwierig gestalten, bewusst: Er ließ als Erster die Schollen aufbrechen, wollte durch Nöte und Sorgen den Menschengeist schärfen, duldete nicht, dass sein Reich in leidiger Trägheit erstarrte.«

Feldbau als Schärfung des Geistes, Maßnahme gegen Faulheit – sollte dies eine Kritik sein an denen, die andere für sich arbeiten ließen?

Aber haben die Herrschaften und auch der Dichter selbst nicht immer andere für sich arbeiten lassen, jedenfalls was die Feldarbeit anging? Die wurde nämlich von Sklaven gemacht – und sie kommen im Lob des Landbaus nicht vor.

Krischan stimmt mir zu. Vergil habe von der Landarbeit geschrieben, als ob sie von freien Bauern gemacht würde. Aber das sei natürlich nicht der Fall gewesen. Im Gegenteil, es hatte im Kernland der Römer zu Vergils Zeiten fast nur noch große Landgüter gegeben, auf denen Sklaven eingesetzt wurden, also ausländische Kriegsgefangene, Sträflinge und deren Kinder und Kindeskinder. Und diese Sklaven, bzw. die Tatsache, dass es Sklaven waren, die da pflügten und säten und ernteten, hat er mit keinem Wort erwähnt.

Man müsse verstehen, sagt Krischan, dass Vergils »Landbau« eigentlich mit Landwirtschaft nichts zu tun hat. Das Ganze sei ein Missverständnis von Anfang an gewesen. Im »Landbau« ging es vielmehr um eine Utopie. Der Dichter hatte an die Regierenden appellieren wollen, eine – wie wir wissen: geschönte – Vergangenheit zur Gegenwart werden zu lassen.

»Wollte er die Sklaverei abschaffen?«

»Nein, Vergil wohl nicht. Aber sein deutscher Übersetzer Johann Heinrich Voß wollte es.«

Voß verehrte die Antike und hasste den Feudalismus. In einer Fußnote zum »Landbau« schrieb er: »Jenen ländlichen Mann [also den Bauern] denkt sich wohl jeder von selbst als einen freien menschlich erzogenen Eigenthümer eines mäßigen Feldes, ohne Nebenbegriffe von Sklaverei, Schmutz und Vernunftlosigkeit, wozu der Leibeigene … in Jahrhunderten des Faustrechts erniedrigt ward.«

Dies entsprach selbstverständlich nicht der römischen Realität. Aber Voß hätte es gerne so gehabt. Seine Fußnote war ein politischer Angriff auf die Leibeigenschaft seiner Zeit. Denn sein eigener Vater war noch Leibeigener im Dienst eines mecklenburgischen Junkers gewesen. Voß kannte die dazugehörigen Demütigungen, auch wenn sein Vater Kammerherr und nicht Bauer gewesen ist. Er hasste die Leibeigenschaft aus tiefstem Herzen und schrieb bis zuletzt unbeugsam gegen sie an. Die von ihm so geliebte Antike wollte Voß nicht mit Sklaverei oder Leibeigenschaft in Verbindung gebracht wissen.

»Schon bei ihm ist es also ein Traum«, sage ich, »der Traum von der Einfachheit und Würde des Landes, von der guten Natur und der hohen Moral derer, die in und mit der Natur arbeiten.«

Aber Schmutz und Vernunftlosigkeit der auf dem Land arbeitenden Menschen entstehen für Voß nicht durch ihre Arbeit. Sie sind vielmehr Folge von Rechtlosigkeit, Durchsetzung des Stärkeren und seiner Gesetze. Gegen das Mittelalter, diese dunkle, vernunftlose Zeit, hielt er das helle Licht der Antike, den Geist der Aufklärung!

»Immerhin hatte Voß«, sage ich, »in Otterndorf eine neue Erfahrung gemacht.« Otterndorf war damals die Hauptstadt unserer Gegend und die der freien Hadelner Bauern. Ebenso wie die Dithmarscher* Bauern hatten sie sich durch den hohen Stellenwert der Landgewinnung, von Eindeichung und Küstenschutz eine ganz besondere Position erkämpft. Wie alle Ständeversammlungen bestand zwar auch die Hadelner Versammlung, die in Otterndorf tagte, aus den Vertretern dreier Stände. Aber hier waren es nicht Adel, Geistlichkeit und Bürgerschaft. Sondern hier waren der erste Stand die Vertreter der Marschbauern – die auf den fettesten Böden saßen; der zweite Stand fasste die Interessen der Sietlandbauern zusammen, also von denen, die im oft überschwemmten ›sieten‹ Land auf sandigen und moorigen Böden wirtschafteten. Erst die Vertreter des dritten Standes rekrutierten sich, wie es üblich war, aus dem Bürgertum, hier den Stadtbewohnern Otterndorfs. Die Hadelner Stände wählten ihre Pastoren, Richter und Lehrer selbst. Auch ihn, Johann Heinrich Voß aus Mecklenburg, hatten die Hadelner Stände zum Rektor ihrer Lateinschule gewählt, in der die Marschbauernsöhne – natürlich nur die Jungen – Latein und Griechisch lernten. Sie gingen sogar weiter nach Hamburg ins Johanneum, eine Art Universität, und kamen anschließend, so heißt es, trotzdem als Bauern auf ihre Gehöfte zurück. Schließlich waren sie Grundherren, die man in den benachbarten nord-niederländischen Marschen ›Herrenbauern‹ nannte, und auch sie hielten die Nase entsprechend hoch. Aber sie waren keine Adligen, und das hat Voß außerordentlich geschätzt. Wenn nicht das Marschenfieber, eine Art europäische Malaria, gewesen wäre – und natürlich die fehlenden Freunde, vor allem Matthias Claudius in Hamburg –, dann wäre Familie Voß wohl nicht nach drei Jahren wieder fortgezogen.

»Es ist vielleicht nicht unwichtig«, sagt Krischan, »dass die drei wichtigsten Sklavenkriege2 in Rom schon stattgefunden hatten, als Vergil seinen »Landbau« schrieb.« Im letzten und größten Aufstand unter Spartakus3 kämpften Tausende von Feldsklaven der großen Güter, und, wichtiger noch, ihnen schlossen sich viele verarmte, freie Bauern an. Dieser Aufstand, der den Herrschern wirklich gefährlich wurde, ist blutig niedergeschlagen worden. Das war zur Zeit von Vergils Geburt geschehen, also erst vierzig Jahre bevor er den »Landbau« schrieb.

»Es muss eine sehr bewusste Entscheidung gewesen sein, die Sklaven, also die eigentlichen Feldarbeiter, nicht zu erwähnen«, meint Krischan.

Wir halten fest: Nicht der Inhalt der »Georgica« allein ist entscheidend, sondern dass dieser Text immer wieder aufgelegt und sogar im Mittelalter in den Lateinschulen gelesen, oft für Übersetzungsübungen der Schüler herangezogen wurde und so das Bild von der guten Natur und den einfachen, edlen Menschen, die den Boden bearbeiten, festigte.