Loe raamatut: «Punktlandung»

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Ute-Christine Krupp

Punktlandung

Roman


Inhalt

Punktlandung

Impressum

Das deutsche Parlament in die Luft sprengen?

Paul Jost bewegt sich vorbei an parkenden Polizeiautos, zügig läuft er übers Kopfsteinpflaster. Ein Junimorgen. Laut. Ungewöhnlich hell. Er nimmt den Seiteneingang ins Ministerium. Bereits in den Morgenstunden hat ihn eine SMS erreicht. Auch der Minister wird um fünf diese Nachricht erhalten haben. Im schlimmsten Fall tagt heute der Krisenstab. Er greift in die rechte Tasche seines Anzugs, zieht das Diensthandy hervor: ein Anruf aus dem Bundeskriminalamt.

Seine Schritte werden etwas schneller, das Handy hält er am Ohr: Er hört die schnoddrige Morgenstimme des Mitarbeiters aus dem BKA, dessen atemlose Sätze, eine Stimme, die während des Sprechens ruhiger wird – bemüht, die Informationen sachlich darzustellen.

Paul Jost klickt das Gespräch weg, er lässt sein Handy ins Jackett zurücksacken, sucht den Dienstausweis. Umständlich öffnet er die Glastür mit dem Bundesadler. Auffallend viele Polizisten in blauer Uniform im Eingangsbereich. Zügig bewegt er sich an ihnen vorbei. Die schmalen Türen des Aufzugs sind Spiegelflächen. Kurz nutzt er sie, um sich zu vergewissern, dass die Krawatte richtig sitzt, rückt diese zurecht, streicht mit den Fingerkuppen über den weißen Kragen, dann durch sein dichtes graues Haar. Eine grüne Krawatte mit blauen Karos. Er bevorzugt mehrfarbige, wichtig scheint ihm, dass eine der Farben der Krawatte mit der des Anzugs übereinstimmt. Mit einem großen Schritt betritt er den Aufzug, drückt die Sieben: Abteilung Öffentliche Sicherheit. Die Aufzugtüren klappen auf. Er sieht den schmalen Flur, die Tür seines Büros. Die steht offen. Er nähert sich. Rückt noch einmal die Krawatte zurecht. Wie in Zeitlupe schiebt er die Tür ganz auf – blickt in das Gesicht seines Chefs: große blaue Augen, die stillstehen, eine Sekunde lang, zwei, drei – dann sagt Giese: Wir sind in Alarmbereitschaft.

Paul Jost fallen die Türme des World Trade Centers ein, die Fernsehbilder mit den einstürzenden Türmen. Wie oft habe ich in den letzten zehn Jahren diese Bilder gesehen?, denkt er, wie oft sprachen wir in der Abteilung darüber, dass damit eine komplett neue Dimension der Kriegsführung erreicht sei, die permanent weiterentwickelt werde. Aber davon redet sein Chef in diesem Moment nicht. Sie mustern sich. Anzug mit Weste. Wie aus der Mottenkiste vergangener Jahrhunderte. Dabei ist sein Chef gerade mal Ende vierzig, kaum älter als er.

Sie haben die Nachricht gehört, sagt Giese mit strenger Stimme, er legt Wert darauf, den Hierarchieunterschied zum Ausdruck zu bringen, dreht sein schmales gebräuntes Gesicht zu Paul Jost: Ab sofort werden Sie bei der Fahndung nach Terroristen eingesetzt! Der Termin für die erste Konferenz im Kanzleramt ist um zehn Uhr! Wir rechnen mit einem Anschlag in den nächsten Tagen! Es gibt bereits Informationen über den Mann, der sich beim Bundeskriminalamt gemeldet hat und behauptet, das Parlament sei Ziel eines Anschlags. Um vierzehn Uhr tagt sehr wahrscheinlich ein Krisenstab hier im Haus!

Giese dreht sich weg, zieht die Tür von außen zu, lugt noch einmal mit starrem Gesichtsausdruck ins Büro und sagt mit lauter Stimme: Setzen Sie sich mit dem Staatssekretär in Verbindung!

Paul Jost lässt sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen, hebt die Hände, faltet sie am Hinterkopf. Schleudersitz, denkt er. Die Freiheit stirbt zentimeterweise. Für Sekunden ist es ganz still. Zwanzig Quadratmeter. Das halbe Leben verbringe ich hier. Neondeckenlicht. Blauer Teppich. Grauer Aktenschrank. Der Teppichboden müsste mal gereinigt werden. Sein Blick irrt über den langen Schreibtisch: Artikel und Akten. Welche jungen Leute neigen besonders dazu, sich zu radikalisieren, in ein Terrorcamp zu ziehen? Er schiebt Protokolle und Auswertungen mit einer fahrigen Bewegung zur Seite. Dafür wird in den nächsten Tagen nicht viel Zeit sein. Er setzt sich aufrecht hin, atmet einmal tief durch und schaltet den Computer an. Zuständig ist er bisher für die Erarbeitung von Aussteigerprogrammen im Bereich Islamismus und für die Vorbereitung von Entscheidungen der G10-Kommission, die einmal im Monat hinter schusssicheren Scheiben tagt und festlegt, wer in welchem Umfang abgehört und wessen Mails mitgelesen werden. Er prüft vorab die Anträge nach juristischen Kriterien. Wenn sich die Hinweise von heute Morgen verdichten, die Gefahr sich weiter konkretisiert, wird er zum ersten Mal an einem Krisenstab teilnehmen. Manchmal wird es dann Schlag auf Schlag gehen, er im Stressmodus arbeiten, manchmal wird es Ermittlungspausen geben. Sein Ziel ist es, bald auf derselben Ebene wie Giese zu arbeiten, vom siebten in den achten Stock zu wechseln. Er weiß: Der Krisenstab wird eine Art Bewährungsprobe für seinen beruflichen Aufstieg sein. Zusammen mit Kollegen aus dem Haus, dem Bundeskriminalamt und dem Kanzleramt wird er die Spuren der Islamisten verfolgen. Seine Aufgabe wird darin bestehen, Telefonate abhören zu lassen, Mails mitzulesen, möglicherweise Wohnungsdurchsuchungen anzuordnen. Er blickt kurz zu dem kleinen Tisch in der Ecke, dem schwarzen Stuhl dahinter, der eigentlich nur unnütz herumsteht. Dann öffnet er die schmalen Schubladen seines Schreibtisches. Hinter ihm unzählige Mineralwasserflaschen. Auf einem der Regale weiße Tassen und große Limonadengläser. Sein Blick streift die Wände: Deutschlandkarte, Europakarte, Weltkarte. Er nimmt den Schlüssel zum Tresorschrank aus einer der Schubladen. Im Kopf das letzte Gespräch in Köln beim Bundesverfassungsschutz. Können wir ganz sicher sein, dass unsere Übersetzer die abgehörten Telefonate potentieller Terroristen exakt übersetzen? Dass da keine Sympathien mit Landsleuten im Spiel sind? Kaum vorzustellen, welche Fehlentscheidungen falsch übersetzte abgehörte Telefonate bewirken könnten. Abhörskandal – mitgeschnittene Telefonate falsch übersetzt. So oder so ähnlich würde die Schlagzeile lauten. Man wird in den Mittelpunkt des Medieninteresses rücken.

Seine ersten laut gesprochenen Sätze am Morgen wirken belegt, leise. Deshalb hat er eben, als sein Chef mit ihm sprach, nur genickt, war froh, dass dem ein standhafter Blick, ein Nicken genügten. Es ist das erste Mal, seit er in der Abteilung Öffentliche Sicherheit arbeitet, dass ein Terroranschlag so konkret angekündigt ist.

Sein Vater fällt ihm ein. Vor einigen Jahren hat er sich einmal mit ihm über Anschläge unterhalten. Zwischen den Sätzen des Vaters herrschte immer wieder Stille am Tisch. Der Vater mit verschränkten Armen. Was hat er gegen mich? Das fragte sich Paul Jost unter der Stuckdecke, im dezenten Licht der weißen Lampen. Die Mutter stand in der Küche, bereitete eine Karamellcreme zu. Bonn-Poppelsdorf. Schon als Student war er froh, in einem anderen Stadtteil zu wohnen, weg von den Gründerzeitbauten, den überzuckerten Fassaden, dem übermächtigen Stuck. Er sah seinen Vater an, den Lockenkopf, die übernächtigte Augenpartie. Mit einer flüchtigen Bewegung strich der über das weiße Tischtuch und murrte dann: Du machst so wenig aus allem. Es klang gar nicht wie ein Vorwurf. Nein, eher wie eine Feststellung. Gymnasium. Jurastudium. Staatsanwalt. Und jetzt ein Verwaltungsjob. Nur ein Verwaltungsjob, wollte der Vater wahrscheinlich sagen, aber er blieb zurückhaltend an jenem Abend. Paul Jost fiel die Website seines Vaters ein. In der Mitte eine Figur mit dunklem Hemd, schwarzer Hose und Turnschuhen. Darüber Wörter wie: Regierungsbaumeister, Architekt, Bauherr. Darunter eine Aufzählung der Gebäude, die sein Vater hatte bauen lassen, Städtenamen schwebten über die Seite. Mein Vater hat mich nie ernst genommen, dachte er und fragte sich, was er tun könnte, um das zu ändern? Er erinnerte dessen abfällige Bemerkungen in der Zeit nach dem Abitur, als er zwei Semester Philosophie studiert hatte und malte. Was soll das denn werden? Eine kleine Wohnung mit undichtem Dach, du am Schreibtisch mit Regenschirm? Soll so dein Leben aussehen? Paul Jost hatte entgegnet: Ich will ganz anders leben als du. Er dachte an einen Zeitungsartikel, den er kurz zuvor gelesen hatte: Typisch für das untergehende Bürgertum und die Generation, die in der alten Bundesrepublik gut klarkam, ist, dass die nachfolgende Generation den sozialen Status nicht halten kann. Eigentumswohnung. Großes Auto. Ferienhaus in Südeuropa. Ich kann nicht mithalten, bin eine Zumutung für ihn. Mein Vater hat einen Sohn, der in einem Verwaltungsjob versauert, zur Miete wohnt, mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt. Du übernimmst keine Verantwortung, triffst keine Entscheidungen, präzisierte der Vater seine Vorwürfe. Die Mutter platzierte in diesem Moment drei kleine weiße Schalen mit Karamellcreme auf dem Tisch, setzte sich dazu.

Seine Sekretärin steht in der Tür, huscht ins Büro. Blonde, zurückgesteckte Haare, sehr freundlich, nie hat er sie anders erlebt. Wenn sie ihn aufheitern will, nennt sie seinen Aktenschrank Kühlschrank. Akten befinden sich darin mit den Namen derer, die als Gefährder eingestuft sind. Wenn sie um Punkt sechzehn Uhr ihren Kugelschreiber fallen lässt und ahnt, dass er noch bis in die Abendstunden in der Behörde weiterarbeiten wird, sagt sie gelegentlich den Satz: Vergessen Sie nachher nicht, den Kühlschrank zu schließen.

Zaghaft stellt sie die kleine Tasse ab, die blaue Thermoskanne mit Kaffee, huscht aus seinem Büro. Ich drücke Ihnen die Daumen, murmelt sie.

Danke, antwortet er lakonisch.

Er hat noch die Stimme des Mitarbeiters aus dem Bundeskriminalamt von eben im Ohr. Ein Aussteiger, ausgebildet in einem Terrorcamp, behauptet, er wolle raus aus dem Netzwerk von al-Qaida und brauche dafür die Hilfe der deutschen Behörden. Er verspricht im Gegenzug, genaue Informationen über geplante Anschläge in Deutschland zu geben und nennt den Reichstag als ein mögliches Ziel. Man stehe kurz vor der Ausführung.

Paul Jost klemmt seine Aktentasche unter den Arm, verlässt das Gebäude. Es gefällt ihm: die Hufeisenform, helle Außenplatten und viele Fenster mit dunklen Rahmen. Alt-Moabit, ein Stadtteil mit zahlreichen Brücken, mit Häusern im Stil der Gründerzeit und dem größten Kriminalgericht Europas. Fünfundneunzig Prozent aller Deutschen hätten gerne so einen Job wie Sie, hat ihm der Personalchef vor ein paar Monaten versichert und auf die Schulter geklopft. Paul Jost bewegt sich mit flinken Schritten in Richtung Helgoländer Ufer, an der Moabiter Brücke vorbei – Wind peitscht ihm ins Gesicht. Er blickt zur Spree, weiß, dass die Akte, die er sich nach der kurzen Konferenz geben lassen wird, nur erste wichtige Erkenntnisse über den Aussteiger enthalten wird, dieser Mann war zuvor als Kleinkrimineller aufgefallen. Ruhe bewahren, flüstert er vor sich hin und bewegt sich durch einen Park in Richtung Kanzleramt. Lassen Sie sich die Akte komplett geben, hat Giese gesagt. Eigentlich möchte Paul Jost nächste Woche Donnerstag und Freitag zwei Tage Urlaub nehmen, um seine Wohnung fertig einzurichten, die letzten Umzugskisten endlich auszuräumen. Sein Chef würde ausflippen, Geschichten erfinden, sich ausmalen, genau an einem jener Tage würde der Anschlag passieren, irgendwo in Berlin oder einer anderen Großstadt: Kommt nicht in Frage, würde er antworten. Wir brauchen jeden in dieser Abteilung. Sie kennen doch die Reaktionen der Bevölkerung. Keiner möchte abgehört oder überwacht werden, wenn aber ein Anschlag passiert, ist eine der ersten Fragen: Wieso hat man ihn nicht verhindert? Bei der Terrorfahndung geht es darum, vor einer Tat zu ermitteln. Maßnahmen wie das Abhören von Telefonaten sind einfach unerlässlich.

Das Kanzleramt – zu pompös, findet er. Die Mauern – zu wuchtig. Er sieht, auf der Brücke angekommen, durch die großen Fenster hindurch in den hohen Innenraum. Den Mitarbeiter für Terrorismus kennt er bereits. Auffallende Nase, harter Händedruck zur Begrüßung.

Alle im Raum sind angespannt, die Konferenz kurz und sachlich. Der Mitarbeiter des Kanzleramtes reicht ihm nach dem Gespräch die Akte. Vorsichtig steckt Paul Jost alles in seine dunkle Tasche, erhebt sich, mit einem Handschlag verabschiedet er sich.

Wieso gibst du zuerst den Teebeutel in die Tasse? Danach erst das Wasser dazu? Genau umgekehrt macht man das, hat Gesine ihn einmal angeschnauzt. Sie stritten am Ende über alles, wegen jeder Kleinigkeit – und trotzdem denkt er manchmal für Augenblicke: Ich wäre gerne mit ihr zusammengeblieben, in diesem Leben zwischen den festen Punkten: gemeinsame Wohnung, Ministerium, Schule, Fitnessstudio, Schwiegereltern oder Museen am Sonntag. Jetzt gibt es diese Koordinaten nicht mehr, nur eine halb eingerichtete Wohnung und ein Leben, das neu zu organisieren ist. Ein Krümel fliegt vor ihm auf, streift den Gehweg, taumelt in der Luft. So fühlt er sich für einen Moment, so taumelnd, in der Luft schwebend.

Der Konferenzraum im Ministerium: rechteckig, blaugrauer Teppich. Manchmal schmatzen die Schritte, wenn man darüber läuft. Er setzt sich auf einen der noch freien Stühle. Türkis. Ungewöhnlich für Stühle in einem solchen Raum, findet er. Auf dem langen ovalen Tisch stehen aufgeklappte Notebooks, er sieht, wie sich ein Kollege nervös durch einen Wust von Blättern arbeitet. Das Gespräch mit dem Personalchef fällt ihm ein, wenige Tage bevor er sich in die Abteilung Öffentliche Sicherheit versetzen ließ, mit der Vereinbarung, dass er, sollte Gefahr in Verzug sein, in den Krisenstab aufgenommen wird. Nehmen Sie diese Herausforderung an! Übernehmen Sie Verantwortung! Wirken Sie mit bei den wichtigen Entscheidungen! Was würde sein Vater jetzt sagen? Vielleicht verschwände der leicht mürrische Ton. Möchtest du nicht etwas mehr machen? Er hat diesen Satz seines Vaters wie einen Ohrwurm im Kopf gespeichert. Das letzte gemeinsame Essen in der Bonner Wohnung ist zwei Jahre her. Nur an Weihnachten telefoniert man kurz, wünscht ein schönes Fest, klickt das Gespräch schnell wieder weg. Er weiß, wenn er sich bewährt in den nächsten Wochen, dann kann er eine andere Position innerhalb der Behörde erreichen. Halte durch, würde sein Vater jetzt sagen. Halte durch, sagte schon der Großvater. Der hatte im Schützengraben gekämpft. Es war sein markantester Satz. Ich bin nicht im Bodenkrieg, denkt Paul Jost, ich arbeite gegen Terroristen. An jenem Abend, mit dem Kopf über der Karamellcreme, hat er sich vorgenommen, mehr aus seinem beruflichen Leben zu machen. Damals ist er auch ins Arbeitszimmer der gemeinsamen Wohnung gezogen. Gesine begegnete er meistens im Flur oder beim Essen, sie sprachen nur noch das Nötigste. Er begann, mit Blick auf die große Terrasse, sich sein neues Tätigkeitsfeld zu erarbeiten. Auswertung der Internetpropaganda von Terroristen, Auswertung der Lebensläufe junger Gotteskrieger. Er beschrieb und analysierte die Seiten im Netz, sichtete Filme und Videos, in denen junge Männer in gebirgigen Landschaften zu Helden stilisiert werden, sich neue Namen geben, Bärte wachsen lassen, Kopfbedeckung tragen. Geröll unter den Sohlen, schwere Gewehre geschultert. Ausgebildet zum Kampf gegen die Ungläubigen. Kein Krieg ohne Feinde, denkt er, kein Krieg ohne eine Definition, wer der Feind sei, Feinde sind aus Worten gemacht: Ungläubige. Ein einziges Wort, aus dem die terroristischen Handlungen abgeleitet werden. Ich werte virtuelle Anleitungen zum Terroranschlag aus, hat er einmal zu Gesine gesagt, von Schritt eins: Sport machen – bis zum letzten Schritt: Bombe als Drucker getarnt durch den Sicherheitscheck kriegen. Und jetzt: Log-out. Realität. Der Aussteiger, der seit Stunden immer wieder beim Bundeskriminalamt anruft, wurde vermutlich über eine dieser Seiten im Internet angeworben. Paul Jost sieht, wie der Konferenzraum sich füllt, es rascheln Blätter, leise Gespräche sind zu hören. Er lehnt sich zurück, sein Blick streift die Kollegen und die roten Zahlen der Uhren an der Wand, Uhrzeiten in San Francisco, New York, Moskau, Peking. Wo halten sich die potentiellen Terroristen auf, von denen der Aussteiger spricht? Vielleicht befinden sie sich gerade am Sicherheitscheck eines Flughafens, vielleicht im Baumarkt, um Bestandteile für den Bau einer Bombe zu kaufen. Ab jetzt findet die Kommunikation der Terroristen im Verborgenen statt, nicht mehr über die Chatrooms der einschlägigen Internetseiten, sondern über Telefonate oder SMS. Angespannt lehnt er sich zurück. Vierzehn Uhr. Punktlandung. Der Bundesinnenminister gleitet auf seinen Stuhl, sitzt in der Mitte des langen ovalen Tisches. Er hat das Wort, angespannte Ruhe im Raum.

Hören wir uns zuerst die gesamte Aussage des Aussteigers an, sagt der Minister, blickt auffordernd hinüber zu einem der Techniker. Der schaltet den Mitarbeiter aus dem Bundeskriminalamt zu, alle Anwesenden blicken gespannt auf dessen ernstes Gesicht an der Wand, machen sich Notizen.

Al-Qaida habe einen genauen Plan für Anschläge auf deutsche Einrichtungen. Im letzten Telefonat des Aussteigers vor zwei Stunden sagte dieser: Es geht nicht nur um einen symbolischen Ort wie das deutsche Parlament, es seien weitere Orte anvisiert, Anschläge in Menschenmassen. In Deutschland existiere eine Terrorzelle, die in den nächsten Tagen durch weitere Terroristen, die aus dem Ausland einreisen würden, erweitert werden solle. Der Aussteiger verfüge noch über weitere Informationen, er verlange von den deutschen Behörden, im Gegenzug für seine Informationen, Sicherheit für seine Familie, die soll nach Deutschland ausgeflogen werden. Außerdem fordere er Geld, hunderttausend Euro.

Hat er Namen genannt?, fragt der Minister.

Nein, antwortet der per Skype zugeschaltete Mitarbeiter des Bundeskriminalamtes.

Nannte er genaue Ziele, außer dem Reichstag?, fragt der Minister.

Nur gegen das Geld!

Paul Jost hört angespannt zu.

Wer ist dieser Anrufer?, der uns alle in Angst und Schrecken versetzt hat, fragt jemand.

Aus der Statistik weiß man, ein junger Mann zwischen zwanzig und dreißig, ohne Schulabschluss, mit existentiellen Krisen in seinem jungen Leben. Diese Kriterien stimmen fast immer, erzeugen allerdings nur ein Phantombild. Es handelt sich um einen jungen Mann, der in Deutschland aufwuchs und in eines der Ausbildungslager gezogen ist, sagt Paul Jost laut in die Runde hinein. Seine Stimme klingt etwas heller als gewöhnlich: Wir wissen im Grunde gar nichts. Es gibt nur die Vermutung, er könnte im Ruhrgebiet aufgewachsen sein.

Die Kontrolle an den Flughäfen sollte verstärkt werden, sagt einer in die Runde. Möglicherweise sind einige Attentäter auf dem Weg in die Bundesrepublik. Wir brauchen einen genauen Gefahrenstufenplan.

Paul Jost fallen die Sätze seines Vorgängers ein. Der hat ihn kurz eingearbeitet. Damals, hat der gesagt, 2001, war Fliegen wie Busfahren, man stieg einfach ein. Nachdem wir die brennenden Türme im Fernsehen gesehen hatten, überlegten wir, das Bundesinnenministerium räumen zu lassen. Dann hob dieser Kollege die Hand: Das Gebäude, in dem wir arbeiten, hat auch zwei Türme. Es war ein sehr sachliches Gespräch.

Paul Jost sieht den Minister nicken, hört ihn sagen: Wichtig ist, dass wir uns ein genaues Bild der Lage verschaffen. Wer sind die potentiellen Attentäter? Wo halten sie sich auf? Welche Route werden diejenigen nehmen, die noch einreisen sollen? Zum Abschluss der Konferenz macht der Minister klar, dass er es diesmal für sinnvoll hält, die Bevölkerung zu warnen. Er rückt mit einer ungeschickten Bewegung seine Brille zurecht, wirft einen abschließenden Blick in die Runde.

Paul Jost läuft übers Treppenhaus hinunter in den siebten Stock, vorbei an weißen Wänden, an sauberem, hellem Weiß. Ihm ist klar, was in den nächsten Tagen auf ihn zukommen wird. Vielleicht werde ich irgendwann mit meinem Vater unter der üppigen Stuckdecke essen und mein Vater wird stolz auf mich sein. Vorsichtig gleitet seine Hand über das graue Geländer, seine Fingerkuppen streifen die Grifffläche. Ist der Anrufer wirklich ein Insider? Hat er die Wahrheit gesagt? Was wäre, wenn er gelogen hätte? Darüber sprach keiner in der Konferenz eben. Mit einer schnellen Bewegung zieht er sein Smartphone aus der Aktentasche. Eine Nachricht. Von Esma? Aus Istanbul? Einen Moment lang hält er verblüfft die Luft an. Seit Jahren hat er nichts mehr von ihr gehört. Wie geht es dir? Irritiert lässt er das Gerät in die schwarze Aktentasche zurückgleiten.

Die Tagesschau läuft, er steht an einem der Fenster seines neuen Wohnzimmers. Erschöpft. Ein großer Raum mit ausgesuchten Lampen. Vor ihm die Spree. Ein Schiff. Ein einziges Schiffchen. Mit nur einem Passagier. Der ganze Aufwand für diese eine Person? Tilda hat eine Nachricht hinterlassen auf seinem AB. Werden wir doch wieder eine richtige Familie? Der Rasen vorm Haus, dann Parkstreifen, Holzbänke, die Spree. Sein Sohn Theo steht, wenn er da ist, gerne am Fenster, ihm gefallen die Schiffe, die man von hier aus beobachten kann. Ein Dauerläufer stapft mit weiten Schritten vorbei. Ihm fällt der Tag ein, an dem er zum ersten Mal an Scheidung gedacht hat. Der Rasierapparat glitt ihm damals aus der Hand, krachte auf den Boden. Alles kaputt? Er bückte sich danach, sah, wie Gesine die Badezimmertür öffnete, dabei anklopfte. Sie wollte mit Theo und Tilda zu ihren Eltern und er sollte mitkommen. Heute ist Sonntag, antwortete er, Ruhetag. Gerne wäre er an diesem Tag zu Hause geblieben. Sie schlug die Tür zu, er hörte, wie sich ihre Schritte im Treppenhaus entfernten, bückte sich nach den Einzelteilen seines Rasierers. Dann erblickte er im Spiegel sein grimmiges Gesicht, das helle Hemd und die beige Cordhose. Alle Haare grau. Der Gedanke, dass es vorbei sein könnte, streifte ihn, nicht gleich mit dem ganzen Leben, aber mit den besten Jahren. Ratlos schweifte sein Blick über die weißen Fliesen, den Wäschetrockner, der auf der Waschmaschine stand, platzsparend, hatte Gesine argumentiert. Eigentlich war das Bad zu klein für vier Personen. Eingezwängt fühlte er sich, zerrieben zwischen den Anforderungen der Arbeit, den Erwartungen der Familie und seiner Sehnsucht nach mehr Freiraum. Wie eingefroren war er sich vorgekommen. Wir gehören zu denen, die es geschafft haben. Gesines Motto. Geschafft war er abends, wenn er von der Arbeit kam und zu Hause weiter funktionieren sollte. Immer müsst ihr euch weiterbilden, coachen lassen, Seminare besuchen. Er hatte noch ihre Stimme vom Vorabend im Ohr, als sie sich aufregte, weil er in die Abteilung Öffentliche Sicherheit gewechselt war und deshalb viel zu tun hatte. Ich möchte mehr Verantwortung übernehmen. Sie hatte den Kopf weggedreht, als er das sagte, er dachte in diesem Moment an die Stuckdecke im Esszimmer seiner Eltern, dann wollte sie genau wissen, was er nun machte. Es gibt so viele junge Leute, die in islamistische Netzwerke hineingeraten, über Internetforen angeworben und die motiviert werden, in den Dschihad zu ziehen. Sie hatte genickt, für deine Kinder hast du übrigens auch Verantwortung, sagte sie und musterte ihn. Er hätte diesen Sonntag gerne zu Hause verbracht. Aber nein, sonntags gab es Programm. Entweder zu den Großeltern oder ins Museum. Was will eigentlich ich? Das fragte er sich in den Spiegel schauend. Wütend scharrte er die Einzelteile des Rasierapparates zusammen und legte diese auf den Wäschetrockner. Dann lief er die Treppe hinab, schnappte seine Jacke im Flur. Als er auf das Auto zulief, dachte er an die Hochzeitsreise nach Venedig, an die Zeit, als ihn mit Gesine die Neugier auf ein gemeinsames Leben verbunden hatte. Und jetzt? Er setzte sich auf den Beifahrersitz, schwieg, erinnerte sich an den Moment, in dem ihm zum ersten Mal aufgefallen war, wie ruppig sie sein konnte. Er hatte das Hotel in Venedig ausgesucht, ein Zimmer gebucht, an den Wänden Tapeten mit asiatischer Phantasielandschaft und im Raum verteilt mehrere Plüschsessel. Sie saß auf einem dieser roten Sessel und hatte gesagt: Ich bin nicht mehr verliebt in dich – und das ist gut so. Er hatte sie fassungslos angestarrt. Verliebt sein ist so anstrengend, hatte sie dann ausgeführt, man ist so leicht zu verletzen, es ist besser, nicht verliebt zu sein, der Kopf ist klarer. Ich freute mich schon immer, wenn dieser Anflug vorbei war. Er hatte genickt. Sie saß auf dem großen Sessel, hatte die langen Haare gekämmt und ihre Stimme hob erneut an. Sie erzählte von ihrer ersten eigenen Wohnung im Stadtteil Prenzlauer Berg, Anfang der neunziger Jahre, damals, als die Gegend noch nicht so hip war, sie wohnte in einem Ruinenhaus, Schliemannstraße, weit weg von den Straßen, in denen Sanierungen durchgeführt wurden, die Häuser danach weiß oder hellgelb erstrahlten. An den Wohnungstüren hingen Zettel von Leuten, die eine Nachricht hinterlassen hatten, es gab nur einen im ganzen Haus, der ein Telefon besaß. Wieso erzählst du mir das?, hatte er sie unterbrochen. Damals war alles kaputt und hier ist auch alles kaputt, hatte sie gesagt, und wieso hast du diese Stadt für die Hochzeitsreise vorgeschlagen? Grünes Wasser, alles morsch, porös, verfallen. Welche Leute leben hier?, hatte sie gefragt und angefügt: Venedig ist auf Holzpfähle gebaut und in diesen wiederum wimmelt es nur so von Holzwürmern, alles steht auf morschen Beinen, in zwanzig Jahren, das habe sie gelesen, wird es Venedig vielleicht nicht mehr geben. Venedig ist eine historische Stadt, hatte er geantwortet, eine Sehenswürdigkeit. Hauptsache in zwei Jahrzehnten existiert unsere Ehe noch, er hatte ihr, während er sprach, die Bluse aufgeknöpft. Und am Abreisetag hatte sie begeistert gerufen: Venedig, eine tolle Stadt. Sie hatten im Eingangsbereich des Hotels auf das Shuttleboot gewartet, als sie seine Hand losließ und zu einer der Restauratorinnen lief, die mit blauem Helm auf einer Leiter saß und an der Deckenmalerei arbeitete. Er stand nur wenige Meter entfernt und hatte Wörter gehört wie Infrarotlicht und Röntgenstrahlen. Gesine kam wieder auf ihn zu und hatte gesagt: Wenn die DDR mir meine Biografie nicht kaputt gemacht hätte, wäre ich Kunsthistorikerin geworden. Und dann hatte sie freudig angefügt: Ich werde das Abitur nachholen und Kunstgeschichte studieren. Was verbindet uns noch?, dachte er, als er an diesem Sonntag, viele Jahre nach der Hochzeitsreise, zu Gesine schielte, die das Steuer fest in der Hand hielt. Den Blick geradeaus. Tilda und Theo auf dem Rücksitz. War er noch neugierig auf das gemeinsame Leben? Dann sagte sie: Ich werde mich um den Garten kümmern. Er begriff nicht, was sie meinte, und antwortete: Man soll den Tag nicht vor der Tagesschau loben!

Er steht noch immer am Fenster seiner neuen Wohnung – schaltet die Tagesschau aus. Noch gibt es keine Meldungen zum angedrohten Terroranschlag. Erst morgen. Ein weiteres Schiff gleitet vorbei, diesmal in die andere Richtung. Er dreht sich um, klickt auf den AB, hört Tildas Stimme: Ich wollte sagen, dass ich zur Jugendweihe gehen möchte. Ein typischer Satz von Gesine, den sie nachspricht, als wäre es ihr eigener Gedanke. Ein Knacken in der Leitung. Er hört den AB ein weiteres Mal ab. Dann bewegt er sich in das kleinste Zimmer der Wohnung. Es soll sein Arbeitszimmer werden. Vors Fenster hat er den massiven Schreibtisch platziert, alle übrigen Möbel stehen herum, sind noch nicht an ihrem Platz. Aufhängen oder nicht? Das überlegt er und greift nach einem Bild. Und wenn ja, an welche der drei dafür in Frage kommenden Wände? Gesine mochte dieses Bild nicht, das hatte ihm eine Bekannte geschenkt und gesagt: Wichtig ist nicht nur, wie man ist, sondern auch, wie man wahrgenommen wird – oft ein entscheidender Unterschied! Ein Bild, gekauft in einer der neuen Galerien in Mitte, zu sehen sind zwei Männerköpfe, die nicht gleich sind, sich aber ähneln. Auf roter Fläche. Hat das Diensthandy geklingelt? Er stellt das Bild am Boden ab.

Der Aufzug überfüllt. Hier sind höchstens zehn Personen vorgesehen, sagt jemand. Um vierzehn Uhr wird die Pressekonferenz stattfinden, Journalisten, Fotografen werden sich gleich hier drängen, sagt Paul Jost zu den Mitfahrenden. Hätte ich der Reporterin absagen sollen?, die vor dieser Konferenz ein Interview mit mir machen will, überlegt er. Ein Beitrag über Abhörmethoden soll es werden. Die sind doch immer wieder in der Diskussion. Ihr Argument. Er hat zugesagt, der Klang ihrer Stimme war angenehm. Wenn Giese davon erfährt. Er könnte sich herausreden: nur ein kurzes Interview. Ich gebe nur die offiziellen Informationen. Etwas nervös macht ihn der Termin gleich mit Jörn Schrader, dem Staatssekretär. Er beobachtete ihn kürzlich bei einer öffentlichen Veranstaltung: Schrader war sichtlich irritiert, verlagerte vor der Moderation das Körpergewicht von einem Bein aufs andere, verzog den Mund, lachte. Paul Jost hatte das Gefühl, der lachte aus Unsicherheit, lachte seine Verlegenheit weg, die Hände dabei in den Hosentaschen.

Die Aufzugtüren springen auf. Hastig legt er seine Sachen im Büro ab, startet ungeduldig den Computer, checkt die neuen Mails. Dann fährt er in den elften Stock. Auf die Ebene der Staatssekretäre. Man wird Sie aufrufen, flötet die zuständige Sekretärin: schnippischer Tonfall, strenger Blick, elegante Pumps. Er setzt sich in einen der großzügigen Ledersessel. Sie werden dann Entscheidungsbefugnisse erhalten, zeigen Sie, was Sie können, hat der Personalchef gesagt. Ich werde diese Herausforderung annehmen, seine souveräne Antwort. Gesine erzählte er nichts davon, dass er ganz neue berufliche Wege sucht, sie gingen zu dem Zeitpunkt ohnehin schon getrennte Wege. Das Büro des Staatssekretärs kennt er bereits: Blick ins Hansaviertel, hinterm Schreibtisch stehen die Flaggen der Bundesrepublik und der EU. Zuerst wird Schrader ein bisschen Small Talk machen, die Situation auflockern, sein smartes Lächeln aufsetzen, dann schnell zum Thema kommen.

Die Sekretärin erscheint zum zweiten Mal.

Paul Jost begreift, jetzt soll er ihr folgen. Er läuft durchs Sekretariat, an einem langen, dunkelroten Wandschrank entlang, betritt das Büro. Was für ein Ausblick, super, denkt er. Neben den Fahnen steht eine Büste Adenauers. Das abstrakt gemalte Bild gegenüber dem Schreibtisch fällt ihm auf. Auf den zweiten Blick eine weibliche Person erkennbar. Angespannt setzt er sich auf den freien Stuhl.

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