Loe raamatut: «Rebellen»

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Uwe Schimunek

Rebellen

Ein Kappe-Krimi

Jaron Verlag

Uwe Schimunek, Jahrgang 1969, lebt als Journalist und Buchautor in Leipzig. Im Jaron Verlag veröffentlichte er bereits mehrere historische Krimis, seinen ersten Band für die Reihe «Es geschah in Berlin» schrieb er gemeinsam mit Horst Bosetzky: «Rotlicht» (2018).

Originalausgabe

1. Auflage 2021

© 2021 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Satz: Prill Partners|producing, Barcelona

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

ISBN 978-3-95552-045-8

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Prolog

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Es geschah in Berlin …

PROLOG

FÜR DIESEN KLANG lohnt es sich zu sterben. Reinhard «Buddy» Buddewitz schiebt den Lautstärkeregler des Mischpults bis zur Zehn. Unter den Kopfhörern drückt der Bass auf seine Trommelfelle. Auch bei voller Lautstärke bleibt der Ton klar wie ein Sternenhimmel im August. Selbst die Bleche des Schlagzeugs klingen wie frisch poliert. Der Trommler treibt den Viervierteltakt voran.

Buddy merkt, wie sein Kopf im Rhythmus wippt. Er schließt die Augen und sieht die Musiker von Marmalade Sky beim Konzert vor sich. Die Haare fliegen dem Schlagzeuger um die Ohren. Der Bassist lockt einen immer gleichen Lauf wie ein Mantra aus den Saiten. Am Synthesizer dreht der lange Kerl mit den Locken an den Oszillatoren, die Finger der anderen Hand lässt er über die Tastatur fliegen. Die Melodie scheint aus einer Höhle am Ende der Welt zu kommen. Die Scheinwerfer strahlen die Kabelage der Klanggeneratoren an und tauchen die Haarpracht des Keyboarders in Glitzerlicht. Die Töne knarzen und blubbern um den Rhythmus herum, als würden sie tanzen.

Buddy dreht sich eine Zigarette. Ein Joint wäre ihm lieber. Doch solange er an der Aufnahme arbeitet, braucht er einen klaren Kopf und ein waches Gehör. In wenigen Momenten wird der kritische Part folgen. Buddy beschäftigt sich schon den ganzen Nachmittag mit dem Band. Stück für Stück bearbeitet er den Ton, regelt den Klang nach, eliminiert störende Schallspitzen mit dem Kompressor, schneidet Umbaupausen aus der Aufnahme und nimmt das Ergebnis auf ein Masterband auf.

Jetzt – Buddy hält die Luft an. Es ist, als würde er das Konzert in diesem Moment noch einmal erleben: Der Bassist dreht sich herum, das Kabel seines Instruments schwingt über die Bühne. Buddys Finger liegt auf dem Regler – startbereit. Das Kabel schlägt eine Welle, nähert sich dem Mikrofonständer und trifft auf das Metall. Buddy reagiert blitzschnell, er zieht den Bass-Regler mit einem Ruck nach unten, um ihn flugs wieder nach oben zu reißen.

Buddy atmet aus – Maßarbeit, der Aufprall auf den Mikroständer ist nicht mehr zu hören, der Sound unter den Kopfhörern klar wie ein Gebirgsbach.

Nach einem tiefen Zug an der Zigarette setzt Buddy die Kopfhörer ab. Der Song dauert noch über drei Minuten und weist keine weiteren technischen Mängel auf. Es reicht, wenn Buddy sich den Rest über die Boxen anhört.

Er steht auf und geht zur Kaffeemaschine. Das elektrische Teil hat er sich erst vor ein paar Monaten für das eigene Studio zugelegt. Es gibt eine Menge Musiker, die bei der Studioauswahl auf die Verfügbarkeit von Filterkaffee achten. Das weiß Buddy von seinen Tontechniker-Jobs in den Spreeblick-Studios. Bislang macht sich der feine Kaffee noch nicht bezahlt, die Aufträge nehmen nur langsam zu. Doch Buddy hat Geduld.

Er nimmt die Kanne von der Heizplatte und füllt eine Tasse. Der Kaffee muss erst etwas abkühlen. Es ist schon spät am Abend. Buddy trägt nur eine Turnhose und ein Unterhemd, dennoch schwitzt er in seinem Kreuzberger Hinterhofstudio.

Die Band arbeitet sich derweil zum Finale ihres Songs vor. Der Schlagzeuger spielt den Takt nun auf dem Becken, auch der Refrain setzt ein: «Alone. On the journey. Alone among the stars.» Die drei Musiker singen immer wieder dieselben Worte. Buddy bleiben noch knapp zwei Minuten. Er schlendert zurück zum Mischpult.

Das Gerät ist schon ein paar Jahre alt, doch selbst gebraucht hat es noch ein kleines Vermögen gekostet. Alle paar Tage muss er zum Lötkolben greifen und Kontakte erneuern, Potenziometer wechseln oder Ähnliches. Dafür würde das Pult von seiner Ausstattung her auch den hohen Ansprüchen einer Topadresse wie den Spreeblick-Studios genügen.

Allein von dem Geld, das Buddy durch seine Jobs in den Studios und bei den Konzerten verdient, könnte er sich niemals eine solche Technik leisten, nicht einmal gebraucht. Es sind Bands wie Marmalade Sky, die ihm das eigene Studio ermöglichen – freilich ohne es zu wissen. Denn die Musiker haben keinen blassen Schimmer von der Bandmaschine unter dem Techniktisch im Konzertsaal.

Inzwischen hat Buddy den Dreh heraus, er kann die Livemusik so abmischen, dass die Aufnahmen mit ein wenig Nachbearbeitung auch auf dem Tonband kraftvoll klingen. Musiker wie die drei von Marmalade Sky machen es ihm einfach. Sie spielen präzise wie Uhrwerke und hören aufeinander. Wenn einer der Instrumentalisten bei einer Improvisation etwas wagt, halten die anderen sich zurück, wird einer lauter oder leiser, ziehen die anderen mit.

Buddy hört den Trommelwirbel, der das Ende des Lieds ankündigt. Jetzt holen die Musiker alles aus ihren Instrumenten heraus und verlieren dennoch nicht die Kontrolle. Buddy setzt den Kopfhörer wieder auf und blickt auf die Pegelanzeige am Mischpult. Die Zeiger zappeln im roten Bereich, doch nichts zerrt, der Klang wird lediglich satter.

Der Schlussakkord sitzt auf dem Beckenschlag. Der Song klingt aus, und der Applaus setzt ein. Der Saal tobt. Das Berliner Publikum feiert kunstvolle Rockmusik. Zumindest im Fall von Marmalade Sky. Die drei Männer sind so etwas wie Lokalmatadoren. Buddy ist ihnen schon öfters begegnet, hat mindestens ein halbes Dutzend ihrer Konzerte gesehen. Nun hatte er sie endlich selbst abmischen dürfen und die Gelegenheit gehabt, seine Bandmaschine unterm Mischpult zu verstecken.

Der Mitschnitt bringt ihm einen dicken Bonus von seinen Auftraggebern ein. Doch es ist nicht nur das Geld, das Buddy reizt. Er möchte auch, dass die Momente der Perfektion auf dem Band eingefangen werden.

Buddy konzentriert sich wieder auf die Musik. Er weiß, dass die Band noch während des Applauses mit dem nächsten Stück beginnt. Das Intro zieht sich über Minuten hin und ist so leise, dass es beim Konzert trotz der bald einsetzenden Stille kaum zu hören war. Unbearbeitet würde die Musik an dieser Stelle später auf einem einfachen Plattenspieler vom Knacken der Nadel übertönt.

Zunächst hatte Buddy versucht, einfach die Lautstärke anzuheben, aber dadurch wurden die Saalgeräusche zu penetrant. Daher kommt sein neuestes Gerät zum Einsatz. Den Multiband-Kompressor hat Buddy nach einem Schaltplan selbst zusammengelötet und damit Hunderte von Mark gespart. Das Gehäuse passt noch nicht richtig, und die Potenziometer sind bislang nicht abgedeckt. Doch auch als offener Rohbau leistet der Zauberkasten schon Wunderdienste.

Der Applaus ebbt ab. Buddy führt schnell seine Hand zum Regler und spürt das kalte Metall. Der Hieb kommt aus dem Nichts. Der Schmerz fährt durch seinen Arm in den Körper. Es fühlt sich an, als würde seine Brust eingeschnürt, immer fester.

Buddy zuckt. Er will die Hand zurückziehen, doch er verharrt wie gelähmt. Er bekommt keine Luft mehr. Gleißend weißes Licht brennt in seinen Augen. Unerträglich weiß …

EINS Dienstag, 1. August 1978

GERY betrat das Geschäft in der Goltzstraße. Aus den Boxen im «33er» donnerten an diesem Vormittag The Vibrators. Irgendwann würde ein Song von Gerys eigener Band in diesem Plattenladen zu hören sein. Doch heute brüllte der Sänger der Vibrators: «She’s the kinda thing / I was warned of by my mother / Automatic lover …»

Gery entdeckte keine Kunden im Raum. Hinter dem Verkaufstresen zündete sich Siggi eine Zigarette an und rief: «Tachchen.» Sein süddeutscher Akzent war deutlich zu hören.

Gery grüßte zurück und trat an den Tresen.

«Käffchen?», fragte Siggi.

Gery zögerte. Wenn Siggi von sich aus Kaffee anbot, führte er meist etwas im Schilde. Doch auch ohne Kaffee würde Siggi mit seinem Anliegen herausrücken. Also konnte Gery das Angebot getrost annehmen. Schließlich schmeckte der Kaffee hier ziemlich gut. «Klar!», sagte Gery deshalb.

Siggi drehte sich zu der Kaffeemaschine hinter dem Tresen um, füllte eine Tasse und stellte sie vor Gery ab.

«Is heiß», warnte Siggi. Er nippte an seinem eigenen Kaffee, der anscheinend schon eine Weile in der Tasse abkühlte. «Schon den neuesten heißen Scheiß aus Amerika gehört?»

«Keine Ahnung», antwortete Gery.

In Siggis Laden trafen in den kürzesten Abständen die obskursten Schallplatten aus aller Welt ein.

Siggi zog eine Single unter dem Tresen hervor. Das Cover zeigte John F. Kennedy auf der Rückbank eines Cabrios. Auto und Mann waren in Schwarz-Weiß gezeichnet, doch aus Kennedys Hinterkopf spritzte eine blutrote Fontäne.

«Witzig», sagte Gery.

«Misfits», erklärte Siggi, obwohl es auch auf dem Cover stand. Er stoppte die Platte der Vibrators und legte die Misfits-Single auf.

Die A-Seite hielt sich nicht mit Vorspielen auf. Einer der Musiker brüllte im Hintergrund: «One, two, three, four.» Und gleich darauf rief der Sänger zu hektischem Gitarrengebolze etwas wie: «President’s bullet-ridden body in the street …»

«Der klingt ja wie Jim Morrison von den Doors bei einem Wutanfall», stellte Gery fest.

«Heißer Scheiß, sag ich doch.»

Abrupt endete der Song. Das Stück konnte kaum anderthalb Minuten lang sein. Der wütende Jim Morrison sang indes gleich weiter: «We are 138 …»

Nein, die Stimme war nicht Gerys Fall. Der Kerl von den Misfits verfügte zweifellos über Talent. Dennoch erinnerte dieses Jim-Morrison-Getue Gery an seine Vergangenheit, an das, was er nach der Lehre hinter sich gelassen hatte: die Auftritte mit der Dorfband an den Wochenenden. An die Tanzabende in der norddeutschen Einöde, an seine Musikerkollegen mit dem Sendungsbewusstsein von Elvis Presley und der Begabung eines Schimpansen aus dem Hamburger Zoo. «Is ganz okay», sagte Gery deshalb.

«Ganz okay?» Siggis Stimme überschlug sich beinahe. «Das fetzt, Alter!»

Gery nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Sicher wollte Siggi ihn nicht ausschließlich von den Qualitäten einer neuen Band aus Amerika überzeugen. Der gab doch keinen Kaffee aus, wenn er im besten Fall eine Single verkaufen konnte.

Während Gery noch darüber nachdachte, klirrte der Schlussakkord des zweiten Songs aus den Boxen. Siggi drehte die Scheibe um. Auf der B-Seite schrammelte die Band immerhin an die fünf Sekunden, bevor der Sänger brüllte: «Attitude / You got some fucking attitude!»

«Sag mal …» Siggi hielt das Plattencover in der Hand und schaute darauf. Der Song von den Misfits war schon wieder zu Ende. Sofort begann ein zu schnell gespieltes Bluesriff. Siggis Worte klangen über dem Geschrammel ein wenig unheimlich, als er fragte: «Hast du was von Buddy gehört?»

«Von Buddy? Dem Tonmeister?»

«Von welchem Buddy denn sonst?»

«Nee.»

Siggi schien mit der Antwort nicht zufrieden. Doch statt etwas zu sagen, trank er mit verbissener Miene einen Schluck Kaffee.

«Ich kann ihm aber etwas ausrichten.» Gery versuchte einen versöhnlichen Ton anzuschlagen, was gar nicht so leicht war, da er den Lärm der Misfits übertönen musste. «Ich sehe ihn heute Abend. Da arbeite ich als Kabelträger in den Spreeblick-Studios.»

«Das wäre klasse. Buddy schuldet mir nämlich etwas.»

«Tatsächlich? Was denn?»

«Sag ihm einfach, dass ich warte. Er weiß dann schon Bescheid.» Siggi wandte sich dem Plattenspieler zu. Schon war auch der vierte Misfits-Song zu Ende.

Als Siggi den Kopf wieder hob, schaute er an Gery vorbei Richtung Tür. Anscheinend spielte sich dort etwas Interessantes ab. Siggi schnappte sich eine Single, zog die Platte aus dem Cover und legte sie auf. Dabei blieb sein Blick auf die Tür gerichtet.

Der erste Akkord ertönte, und Gery wusste, warum Siggi an ihm vorbeistierte. Die aktuelle Blondie-Single legte Siggi nur auf, wenn eine ganz bestimmte Person den Laden betrat: Debbie.

Gery gab dem Reflex nach und drehte sich um. Debbie trug ein graues T-Shirt mit abgeschnittenen Ärmeln, der weite Ausschnitt ließ schwarze BH-Träger erkennen.

«Hey!», grüßte Debbie. Als sie an den Tresen trat, schien der ganze Laden heller zu werden.

«Mit Milch?», fragte Siggi. Seine Stimme klang so tief, als drücke er die Stimmbänder bis in den Bauch.

«Danke», flötete Debbie. Während sich Siggi um den Kaffee kümmerte, wandte sie sich Gery zu. «Herr Granulat, dich sieht man ja auch überall.»

Gery zuckte stets zusammen, wenn Debbie ihn mit diesem seltsamen Namen ansprach. Es war ein Spiel zwischen den Mitgliedern ihrer Band. Genauer gesagt, war es eine Marotte ihres Gitarristen, der sich selbst Franz Freibier nannte. Ständig gab er allen und jedem groteske Fantasienamen. Franz vertrat die These, dass jeder sich selbst stets neu erfinden und dafür auch einen entsprechenden Namen verwenden sollte. Gery war froh, dass er zumindest seinen Vornamen hatte behalten dürfen. Obwohl «Gery» nur sein Spitzname war. Eigentlich hieß er Gerald, Gerald Gebhardt, aber das wusste hier keiner. Denn die Zeiten, in denen er mit «Gerald» angesprochen worden war, hatte er hinter sich gelassen.

Wie Debbie ihn nannte, spielte für Gery ohnehin keine Rolle. Hauptsache, sie redete überhaupt mit ihm. Denn sie hatte nicht nur ihren Spitznamen und die Haarfärbetechnik von der Blondie-Sängerin Debbie Harry übernommen, sondern auch deren unverschämt gutes Aussehen.

Der Blondie-Song war beim Refrain angekommen: «I am always touched by your presence, dear.» Siggi reichte Debbie die Tasse. Der Kaffee war derart mit Milch verdünnt, dass er beinahe so blond wie Debbie aussah.

Sie bedankte sich kurz und fragte Gery: «Weißt du, ob Franz heute in der ‹Gefahrbar› ist?»

«Ich glaube, erst morgen wieder.» Wieso erkundigten sich alle bei ihm nach irgendwelchen Leuten? Sah er aus wie die Auskunft? «Warum fragst du?»

«Ich wollte mit ihm noch kurz über einen Text sprechen.»

Das könnte sie genauso gut mit mir, dachte sich Gery, schwieg aber.

Debbie trank einen Schluck von ihrem Kaffee und schenkte Gery einem filmreifen Augenaufschlag. «Vielleicht hast du ja Zeit.»

Nicht erste Wahl, aber was soll’s, dachte Gery. «Ja, natürlich. Gerne», antwortete er.

Kriminalkommissar Peter Kappe betrat den Hinterhof in der Kreuzberger Adalbertstraße. Hier sah es aus, als habe jemand einen illegalen Schrottplatz eingerichtet oder eine Autowerkstatt unter freiem Himmel. Zwischen ein paar Autowracks stand ein alter Mercedes mit platten Reifen und geöffneter Motorhaube. Neben dem Wagen schien eine Werkzeugkiste auf den Mechaniker zu warten. Doch der Hof war, abgesehen von Kappe und seinem Kollegen Kriminalmeister Wolf Landsberger, menschenleer.

Hinter den Autos bot ein einstöckiges Gebäude ein Bild des Jammers. Der Putz bröckelte von der Hauswand, die winzigen Fenster standen offen. Ihre Rahmen waren derart verzogen, dass fingerdicke Spalten zwischen Holz und Mauerwerk klafften.

«Sieht so aus wie eine alte Werkstatt», stellte Landsberger fest.

«Möglich», brummte Kappe. Er betrat das Haus. Im Innern baumelte eine nackte Glühlampe an einem Kabel und tauchte einen Raum in Zwielicht. Es stank nach einer Mischung aus Pissoir, Komposthaufen und Eckkneipe.

Kappe hielt sich die Nase zu und blickte sich um. An den Wänden hingen vergilbte Poster von Rockbands, und in der Mitte des Raums standen ein Musikmischpult von der Größe einer Rittertafel sowie zwei riesige Lautsprecherboxen auf einem Tisch. Das Pult wirkte in dieser Muchtbude fremd, denn es glänzte wie ein Lackschuh. Auf einem Beistelltisch thronten mehrere Bandmaschinen, Drähte und Kabel quollen aus Kästen mit Leuchtdioden und Reglern. Daneben häuften sich Zigarettenkippen in einem Aschenbecher. An der hinteren Wand gammelte ein Spiegel vor sich hin, über und über mit Schmutzschlieren bedeckt.

Mehrere Beamte von der Kriminaltechnik drängten sich in dem kleinen Raum.

«Hallo, Kappe! Da biste ja endlich», rief ihm Dr. Doreen Niedergesäß zu. Die Gerichtsmedizinerin kniete vor einem weißen Laken, unter dem offenbar der Grund ihrer aller Anwesenheit lag.

«Tag auch», murmelte Kappe, als er neben sie trat.

«Willst sicha wissen, wen wa hier ham?»

«Wäre schön», erwiderte Kappe.

«Een Nachbar hat den Mann als Reinhard Buddewitz identifiziert. ’n Tontechnika. Is vielleicht besser für dein Magen, wenn du dir später die Fotos ankiekst. Oda willste die Maden bei da Arbeit sehen?»

Kappe verdrehte die Augen. «Lass mal. Ich warte gern.»

«Der junge Mann hat die Hütte jemietet und hier wohl ’n Tonstudio betrieben. Det hier sollte wahrscheinlich de Regie sein», fuhr Doreen Niedergesäß fort. Sie zeigte mit der Hand im Raum herum. Dann wies sie auf die hintere Wand mit dem Spiegel. «Da hinten sind noch ’n Uffnahmeraum und so wat wie ’n Wohnzimma.»

Nun erkannte Kappe, dass es sich bei dem dreckigen Spiegel am anderen Ende des Raums tatsächlich um eine Glasscheibe handelte. Die Schmutzschlieren verhinderten die Sicht in das dahinter liegende Zimmer.

«Stinkt’s dahinten genauso wie hier?», erkundigte sich Kappe.

«Na ja. Ick vermute, da wurde jenauso ville Bier jetrunken und vaschüttet und alle möglichen Rauchwaren konsumiert. Aba ’ne Leiche liegt nur hier.» Doreen Niedergesäß zögerte einen Moment, bevor sie ergänzte: «Und zwar seit unjefähr drei, vier Tagen, würde ick schätzn.»

«Hast du schon eine Vermutung zur Todesursache? Gibt es Hinweise auf Fremdeinwirkung?»

«Uffn erstn Blick würd ick sagen, Herzstillstand inner Folge von ’nem Stromschlag. Det kann zum Beispiel durch ’n defektet technischet Jerät passiert sein.» Dr. Niedergesäß zeigte auf den Tisch mit den Bandmaschinen, Kästen und Drähten. «Näheret wie imma im Bericht.»

Kappe wusste, dass er von der Gerichtsmedizinerin im Moment nicht mehr erfahren würde. Daher fragte er in den Raum: «Wer hat den armen Kerl denn gefunden?»

Ein Beamter der Spurensicherung zeigte auf die verdreckte Scheibe. «Der erwähnte Nachbar. Er sitzt dahinten und wartet auf Sie.»

«Na dann.» Kappe gab Landsberger ein Zeichen und bahnte sich seinen Weg vorbei an den Beamten.

Im Raum hinter der Scheibe standen Berge von Kisten, die Wände hingen voller Eierpappen. Eine offene Tür führte in eine Art Schlafzimmer, das an eine Studentenbude erinnerte. Eine Matratze lag auf dem Boden, daneben stand auf den nackten Dielen ein Fernseher, der seine beste Zeit in den Sechzigerjahren gehabt hatte. In der Ecke fand sich ein Tisch mit zwei Holzstühlen. Auf dem einen saß ein Schlacks mit langen Haaren und Koteletten, sein Leinenhemd war mit Ölflecken beschmiert und so weit aufgeknöpft, dass seine Brustbehaarung zu sehen war.

Neben dem Kerl stand ein Beamter in Uniform. Der Polizist zog einen Schemel unter dem Tisch hervor. «Das ist Herr Schneider. Er hat uns gerufen.»

«Danke», sagte Kappe. Er setzte sich auf den Stuhl neben Schneider. Der Beamte nickte kurz und verließ das Zimmer. Landsberger schob den Schemel zurecht und nahm Platz. Mit seinem Maßanzug wirkte Kappes Kollege, als wäre er mit Tricktechnik in diese Hinterhofbuden-Szenerie montiert worden.

«Guten Tag, Herr Schneider. Ich bin Kriminalkommissar Kappe, und mein Kollege heißt Landsberger», sagte Kappe. Er sah, wie Landsberger ein Notizbuch aus dem Jackett zog, und ließ sein eigenes deshalb stecken. «Wann haben Sie die Leiche entdeckt?»

«Na ja, eigentlich hab ick nur bei da Polizei anjerufen, weil et so jestunken hat.»

«Heute Morgen?»

«Ja.» Schneider schaute auf seine zerkratzte Armbanduhr. «Ach du meine Güte, ick sitze schon seit üba andathalb Stunden hier!»

«Nun, wenn Sie einfach auf unsere Fragen antworten, dauert es vielleicht nicht mehr allzu lange», sagte Landsberger. Er warf einen Blick auf seine eigene Uhr, die allerdings ungefähr doppelt so teuer wie Schneiders gesamte Garderobe aussah. «Sie haben den Geruch demnach gegen zehn Uhr festgestellt.»

«Ja», antwortete Schneider. Er klang, als wüsste er nicht, ob er eingeschnappt oder eingeschüchtert sein sollte.

«Wo?», fragte Kappe.

«Uffm Hof.»

«Was haben Sie dort gemacht?»

«Ick hab det Auto repariert.»

«Den Mercedes?»

«Ja.»

Landsberger sah von seinem Notizbuch auf. «Der Wagen macht nicht den Eindruck, als würden Sie erst seit heute Morgen an ihm herumwerkeln.»

«Die Karre jehört ’nem Kumpel. Die is nich jestohlen. Wirklich nich.» Nach den bisherigen knappen Antworten sprudelten die Worte nun geradezu aus dem Mann heraus. «Ick bastle imma mal an da Kiste rum. Wenn ick nich uff Montage oda zu müde bin. Und das is een Freundschaftsdienst. Ohne Bezahlung. Det is doch nich verboten.»

«Das ist im Augenblick nicht die Frage», sagte Kappe. «Mich interessiert, ob es nicht auch schon gestern schlecht gerochen hat. Oder vorgestern.»

«Ick hatte letzte Woche mal so ’n seltsamet Jefühl. Aber da is der Motor wieder in Jang gekommen. Wenn der tuckert, riechts im Hof nicht jerade nach 4711.»

«Wo wohnen Sie denn, Herr Schneider?», erkundigte sich Landsberger.

«Inne Vorderhaus. Parterre.»

«Und dort haben Sie in den vergangenen Tagen auch nichts gerochen?», fragte Landsberger.

«Nee. Ick war übat Wochenende in Bochum un hab tageweise uffm Bau jeholfen.»

«Was können Sie uns über Herrn Buddewitz berichten?»

«Nich ville. Der ist ja meistens erst mitten inne Nacht heimjekommen. Hat uff Konzerten jearbeitet. Und manchmal hatta tachsüba inne Hütte hinten Krach jemacht. Aba nur manchmal. Da hab ick ooch nix zu jesagt.»

«Gut, danke. Das war’s fürs Erste, Herr Schneider.» Landsberger klappte sein Notizbuch zu.

Kappe stand auf. «Sie halten sich in den nächsten Tagen bitte für Nachfragen bereit und melden sich ab, wenn Sie die Stadt verlassen.» Er wartete, bis Herr Schneider nickte, und schloss: «Wir begleiten Sie nach draußen.»

Josef Bolp schlenderte den Flur des Berliner-Blitz-Gebäudes entlang. Er freute sich. Zwar wiesen auch die Gesichter der Kollegen eine gewisse Sommerbräune auf, doch mit seiner gerade auf Ibiza aufgefrischten Hautfarbe hielt keiner mit.

In seinem Vorzimmer erblickte er eine ältere Sekretärin aus einer anderen Abteilung. Bolp erinnerte sich daran, dass seine Vorzimmerdame ausgerechnet zum Zeitpunkt seiner Rückkehr selbst in den Urlaub fahren wollte. Nun durfte er die nächsten zwei Wochen mit dieser alten Schachtel im Rüschenhemd vorliebnehmen.

«Herr Bolp!» Die Schreckschraube sprang vom Stuhl auf und grinste ihn an. «War der Urlaub angenehm? Sind Sie gut erholt? Kann ich schon irgendetwas für Sie tun?»

So viele Fragen auf einmal! Bolp lehnte sich an den Schreibtisch, hinter dem die Alte mit erwartungsvollem Blick stand, und sagte: «Ja. Ja. Und ja. Geben Sie mir bitte die eingegangene Korrespondenz der vergangenen Tage.»

Die Sekretärin griff in die Ablage und zog einen kleinen Stapel Papier hervor. «Damit werden Sie sicher eine Weile beschäftigt sein. Darf ich Ihnen einen Kaffee bringen?»

Offensichtlich gab sich die Schreckschraube Mühe. Bolp verspürte dennoch keine Lust auf Leutseligkeit. Kurz überlegte er, die Frau nach ihrem Namen zu fragen. Doch er entschied, dass sich das für die paar Tage nicht lohnte. Also sagte er knapp: «Schwarz.»

«Ich weiß.» Die alte Schachtel ging los, um den Kaffee zu holen.

Bolp sah ihr hinterher. Sie eilte den Gang hinunter, als wäre der Kaffee in der Redaktion knapp. Bolp betrachtete den Packen Papier in seiner Hand. Gab es in zwei Wochen immer derart spärlichen Posteingang? Er griff nach den aktuellen Ausgaben der Berliner-Blitz-Zeitung und eines Konkurrenzblatts und schlurfte in sein Büro. Dort knallte er die Papiere auf den Schreibtisch und ließ sich auf den Bürosessel fallen.

Keiner der Briefe weckte Bolps Interesse, nicht die Eröffnung eines Cafés in Charlottenburg, nicht der Set-Termin zur neuen Sendung des Dritten Fernsehprogramms, nicht das Barbecue am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität. Hier fehlte nur noch die Einladung zu einer Sitzung eines Kleingartenvereins. Sortierte niemand mehr die Post vor? War in der Stadt nichts los? Oder hatten sich in den letzten zwei Wochen die jungen Streber der Redaktion alle guten Themen unter den Nagel gerissen? Vielleicht war das die Strafe seines Chefs dafür, dass er einen Tag mehr Urlaub als üblich genommen hatte, um die wöchentliche große Redaktionsrunde zu schwänzen.

Es klopfte an der Tür.

«Ja», brummte Bolp.

Die Sekretärin schlurfte ins Zimmer und brachte den Kaffee. Wenigstens das klappte noch.

Sie stellte die Tasse vor Bolp auf den Tisch und fragte: «Kann ich noch etwas für Sie tun?»

«Bitte rufen Sie oben an. Fragen Sie, ob es noch andere Termine gibt, von dem Mist hier abgesehen.»

«Sofort, Herr Bolp.» Die alte Schachtel eilte zurück ins Vorzimmer.

Bolp schob den Poststapel beiseite und widmete sich den Zeitungen. Auf der Titelseite der letzten Berliner-Blitz-Ausgabe prangte ein Foto des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger. In ganz Deutschland versuchten die Linken den Mann abzuschießen, weil er im Zweiten Weltkrieg als Jurist an mehreren Todesurteilen beteiligt gewesen war. Doch Politik war nicht Bolps Gebiet. Neben dem Filbinger-Artikel stand die Schlagzeile: So geht es dem Kaiser in New York! Eine Geschichte über Fußballer Franz Beckenbauer, der seine Millionen jetzt in der US-Operettenliga verdiente – so etwas verkaufte sich offenbar auch noch nach dem peinlichen WM-Versagen der deutschen Fußballnationalmannschaft im Juni in Argentinien.

Die Konkurrenz titelte: Die neue Mode für abenteuerlustige Mädchen! Oben ohne auf Ibiza immer beliebter! Unter der Überschrift lächelte eine langbeinige Blondine mit üppigen Brüsten in die Kamera. Das machte für Bolp nicht den Eindruck, als würden die Kollegen gerade in einer Flut brennender Themen ertrinken.

Es klopfte erneut an der Tür. «Ja doch!», rief Bolp genervt.

Die Schreckschraube erschien im Türrahmen. «Der Herr Chefredakteur lässt mitteilen, dass Sie sich in Ruhe in die Themenlage einarbeiten sollen. Wenn Sie im Zuge dessen auf eine Geschichte stoßen, mögen Sie vorstellig werden.»

«Vorstellig werden?»

«Das waren seine Worte, Herr Bolp.» Die alte Schachtel sprach, als wäre sie die Mutter eines Schülers, der schlechte Noten nach Hause gebracht hatte.

«Danke.»

Die Sekretärin blieb in der Tür stehen und guckte Löcher in die Luft.

«Sie dürfen gehen!», ergänzte Bolp.

Widerwillig wandte sich die Sekretärin ab und schloss die Tür hinter sich.

Bolp überlegte, ob er seine Quelle bei der Polizei anzapfen sollte. Dann fiel ihm ein, dass seine Zuträger im Urlaub weilten. Also ging er noch einmal den Stapel mit der Post durch. Er würde eine Geschichte finden!

Er stieß auf eine Postkarte. Das Bild auf der Vorderseite zeigte eine Sängerin mit einem Mikrofon und einer Brille in Form eines Schmetterlings, die Bolp irgendwoher kannte. Erst beim zweiten Hinsehen bemerkte er, dass es sich bei dem Bild nicht um ein Foto, sondern um eine Zeichnung handelte. Der Blick der Frau wirkte aufreizend. Zugleich schien sie seltsam abwesend, als würde sie unter Drogen stehen. Bolp drehte die Karte herum. Es handelte sich um eine Einladung zu einer Ausstellung, die am nächsten Tag eröffnet werden sollte. Ein gewisser John Pistol verantwortete die Schau namens Stars and Art.

Da würde er hingehen. Bekiffte Sternchen könnten ein paar Zeilen wert sein, dachte Bolp.

Das Blatt Papier in der Schreibmaschine hing schief. Peter Kappe versuchte es durch Drehen an den Führungsrädern gerade zu ruckeln. Doch es wurde immer schlimmer. Kappe seufzte, zog das Papier aus der Maschine, rückte die Führungen enger zusammen und schob das Blatt erneut unter die Andruckräder. Nun saß das Papier zwar korrekt, aber was er schreiben sollte, wusste Kappe immer noch nicht.

Wolf Landsberger erlöste ihn, als er mit einer dünnen Mappe unterm Arm ins Büro trat.

«Über diesen Reinhard Buddewitz gibt es eine Polizeiakte wegen einer Drogensache.» Landsberger legte die Mappe auf seinem Schreibtisch ab und setzte sich auf den Bürostuhl. Seine Frisur saß auch am frühen Nachmittag immer noch, als käme er frisch vom Friseur.

«Leg los. Was wissen wir über den Mann?», fragte Kappe.

Landsberger öffnete die Mappe und sagte: «Jahrgang ‘47. Geboren in Berlin, drüben in Treptow. Die Eltern sind aber gleich nach seiner Geburt in den Westen gezogen. Gutbürgerliche Familie, der Vater Architekt, die Mutter Hausfrau. Buddewitz selbst hat einen IHK-Abschluss als Radio- und Fernsehtechniker im Jahr 1969 gemacht, Prüfung zum Tonmeister 1975, beides hat er mit sehr guten Leistungen abgeschlossen.» Landsberger blätterte und fuhr fort: «Reinhard Buddewitz war ein Nachzögling. Die Eltern haben inzwischen das Zeitliche gesegnet. Der Vater ist vor vier Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Die Mutter kurz darauf auch. Reinhard Buddewitz war nicht verheiratet, außer dem Bruder hatte er keine Familie mehr.»

€5,99

Žanrid ja sildid

Vanusepiirang:
0+
Ilmumiskuupäev Litres'is:
22 detsember 2023
Objętość:
231 lk 2 illustratsiooni
ISBN:
9783955520458
Kustija:
Õiguste omanik:
Автор
Allalaadimise formaat:

Selle raamatuga loetakse