Loe raamatut: «Tödliche Zeilen»
Uwe Schimunek
Tödliche Zeilen
Historischer Leipzig-Krimi
Jaron Verlag
Originalausgabe
1. Auflage 2017 © 2017
Jaron Verlag GmbH, Berlin
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Umschlaggestaltung: Carsten Tiemessen, Düsseldorf
Satz: Prill Partners | producing, Barcelona
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
ISBN 978-3-95552-232-2
Meinen Eltern Regina und Franz-Peter Schimunek
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Tagebucheintrag vom 7. Januar 1907
Eins - Dienstag, 8. Januar 1907
Tagebucheintrag vom 8. Januar 1907
Zwei - Mittwoch, 9. Januar 1907
Tagebucheintrag vom 9. Januar 1907
Drei - Donnerstag, 10. Januar 1907
Tagebucheintrag vom 10. Januar 1907
Vier - Freitag, 11. Januar 1907
Tagebucheintrag vom 11. Januar 1907
Fünf - Sonnabend, 12. Januar 1907
Tagebucheintrag vom 12. Januar 1907
Sechs - Sonntag, 13. Januar 1907
Tagebucheintrag vom 13. Januar 1907
Sieben - Montag, 14. Januar 1907
Tagebucheintrag vom 14. Januar 1907
Acht - Dienstag, 15. Januar 1907
Tagebucheintrag vom 15. Januar 1907
Neun - Mittwoch, 16. Januar 1907
Tagebucheintrag vom 16. Januar 1907
Zehn - Donnerstag, 17. Januar 1907
Tagebucheintrag vom 17. Januar 1907
Elf - Freitag, 18. Januar 1907
Tagebucheintrag vom 18. Januar 1907
Zwölf - Sonnabend, 19. Januar 1907
Nachwort
Verzeichnis von Straßen und Plätzen, die heute einen anderen Namen tragen
Ebenfalls im Jaron Verlag erschienen
Tagebucheintrag vom 7. Januar 1907
Alles muss anders werden! Viel zu lange habe ich nur zugeschaut und das Leben an mir vorbeiziehen lassen wie eine Eisenbahn. Doch nun gilt es, Kohlenschaufel und Steuerrad selbst in die Hand zu nehmen. Auch wenn ich mir dabei die Finger dreckig machen sollte.
Die ganze Nacht habe ich keinen Schlaf gefunden. Ich verließ sogar mein Gemach und schlich draußen durch die Kälte. Des Nachts ruht die Stadt in Frieden. Doch was für eine trügerische Stille! Denn noch bevor die Sonne am Firmament erscheint, kommen die Wölfe aus ihren Höhlen gekrochen und versammeln sich in den Amtsstuben, Büros und Fabriken in ihren Rudeln. Dann beißen sie um sich. Ohne Rücksicht. Ohne Gnade. Der Gedanke an den feinen, freien Geist ist ihnen so fern, wie er Tieren nur sein kann. Was macht es schon, dass die Leitwölfe in teure Stoffe gewandet sind? Sie bleiben gemeine Kreaturen.
Doch nun schlägt meine Stunde. Ich habe die nötigen Vorbereitungen getroffen. Kurz noch ruhen, dann ist die Zeit für Taten gekommen.
Eins
Dienstag, 8. Januar 1907
Thomas Kutscher nahm das Manuskript vom Tisch, steckte es zurück in seine Mappe und fragte: »Sie wollen sich die Texte nicht einmal in Ruhe anschauen?«
Eberhard Rollnik blickte müde von seinen Unterlagen auf und schüttelte den Kopf. Er wies auf das Bücherregal an der Wand. »Sehen Sie da oben die schmalen Bände? Das ist die Schöne Edition Rollnik.« Er betonte die letzten Wörter, als würde er über Fußpilz reden. Nach einem Seufzer fuhr er fort: »Diese Bändchen sind die Glanzstücke meines Vaters. Im Regal machen sie einen federleichten Eindruck, aber in den Buchhandlungen liegen sie wie Blei. Das ist doch nichts für Sie, mein Lieber.«
Kutscher hätte gern selbst entschieden, was das Richtige für ihn wäre. Doch er schwieg, einen Verleger wie Rollnik brauchte er nicht mit Befindlichkeiten zu behelligen. Von schriftstellerischer Eitelkeit hatte der gewiss die Nase voll.
»Dieses unverkäufliche Zeug können wir nur dank der Detektivromane drucken, die Sie verfassen, Herr Tock«, ergänzte der Geschäftsführer des Verlagshauses Rollnik und Sohn.
Kutscher zuckte zusammen, wie immer, wenn ihn jemand mit seinem Pseudonym ansprach, unter dem in wenigen Tagen sein dritter Detektivroman erscheinen würde. Er tippte auf die Mappe mit seinen Gedichten. »Das scheint mir ziemlich ungerecht. Wenn Sie schon Liebhaberausgaben drucken, wäre es doch nur billig, wenn Sie auch den berücksichtigen würden, der für die Umsätze sorgt. Finden Sie nicht, Herr Rollnik?« Kutscher merkte, wie gestelzt er sprach. Über Geldangelegenheiten zu verhandeln fiel ihm noch schwerer, als abends an einer Kneipe vorbeizugehen, ohne sie zu betreten.
Rollnik wiegte den Kopf. »Also gut, mein Lieber. Wenn wir zehn Ihrer Detektivromane herausgebracht haben, schaue ich mir auch die Gedichte an.« Mit jedem Wort wurde Rollniks Grinsen breiter. »Ich werde schon sehr starke Argumente brauchen, wenn ich bei meinem Vater mit Lyrik vorstellig werden möchte. Auf meine Expertise in schöngeistigen Dingen dürfte er jedenfalls kaum vertrauen.«
Kutscher wagte einen letzten Versuch und hob die Mappe in die Höhe. »Nun, vielleicht sind meine Gedichte ja geeignet, eine breite Leserschaft zu erreichen. Es handelt sich keineswegs um schwere Literatur.«
»Lassen Sie es gut sein, mein Lieber. Mein Vater hat seine Gründe, mit mir nicht über die hohe Kunst zu debattieren.« Rollnik kam hinter seinem Schreibtisch hervor. »Wir bringen Ihre Verse unter Ihrem richtigen Namen heraus. Schreiben Sie vorher einfach noch ein paar Detektivgeschichten.« Der Verleger streckte Kutscher die Hand entgegen. »Schauen Sie doch am Donnerstag noch einmal herein. Dann müsste Ihr neuestes Werk frisch gedruckt vorliegen.«
Der Händedruck erschien Kutscher unerwartet kameradschaftlich, so als wollte sich Rollnik für seine Abfuhr entschuldigen. Nun, Kutscher hatte Zeit, schließlich handelte es sich bei den Texten in seiner Mappe um Gedichte und nicht um Zeitungsartikel, die am nächsten Tag veraltet wären.
Als er das Büro verließ, strahlte ihn im Vorzimmer Fräulein Helene Seidel an. Sie trug ihr blondes Haar kunstvoll aufgesteckt, sodass ihre blauen Augen besonders gut zur Geltung kamen. Kaum fiel die Tür zu Rollniks Büro hinter Kutscher ins Schloss, fragte sie: »Verlief das Gespräch zu Ihrer Zufriedenheit, Herr Kutscher?«
Ihr Lächeln hätte einen Toten wiederbeleben können. Kutscher vermutete, dass es nicht ihm selbst galt, sondern dem ertragreichen Detektivromanautor Tom Tock, und antwortete: »Durchaus, Fräulein Seidel.«
»Ich kann es kaum erwarten, Ihren nächsten Roman zu lesen, Herr Kutscher. Wie ich hörte, soll er noch in dieser Woche aus unserer Druckerei kommen.«
»Zu liebenswürdig, meine Dame«, erwiderte Kutscher. »Am Donnerstag bin ich zur Ansicht des fertigen Buches geladen.«
Fräulein Seidel trat an ihren Sekretär und öffnete einen Kalender. Sie blätterte zum genannten Datum und fragte: »Das ist wunderbar, wann darf ich Ihr Kommen vermerken?«
»Ich denke, ich werde am späten Vormittag hereinschauen. Wäre das recht?«
»Aber selbstverständlich. Ich notiere einen Termin für elf Uhr.« Sie schrieb ein paar Wörter in den Kalender, dann wandte sie sich wieder Kutscher zu und fuhr fort: »Das sind ja gleich zwei schöne Ereignisse auf einmal: Sie werden uns mit Ihrem Besuch beehren, und der neue Roman wird da sein. Ich freue mich auf Donnerstag.«
Kutscher wurde die Herzlichkeit der Dame unheimlich. Die Seidel behandelte ihn stets freundlich, doch heute bereitete ihm ihre Euphorie Unbehagen. Wusste sie von Rollniks Abfuhr? Sollte sie ihn bei Laune halten? Oder sah er Gespenster?
Für einen Moment herrschte Stille im Vorzimmer. Stets fielen Kutscher Worte ein, nur in diesem Augenblick nicht. Er gab sich einen Ruck. »Dann darf ich mich fürs Erste verabschieden, meine Dame.«
»Auf Wiedersehen!«, zwitscherte die Seidel und geleitete ihn zum Ausgang des Vorzimmers.
Kutscher trat auf den Flur des Verlagshauses und schritt die Treppe vom Hochparterre hinunter. Er drehte sich nicht noch einmal um. Aus seiner Zeit beim Theater wusste er, welch wichtige Rolle Vorzimmerdamen spielten. Sie bestimmten das Bild, das sich die entscheidenden Personen von ihren Geschäftspartnern machten. Doch war er überhaupt ein solcher? Oder eher ein Supplikant? Die Mappe mit den Versen unter seinem Arm erschien ihm auf einmal unglaublich schwer.
Immerhin verschaffte er dem Verlag Rollnik und Sohn sowie sich selbst durch seine Detektivromane gute Umsätze. Die Honorare waren so hoch, dass er vom Familienunternehmen seiner Eltern inzwischen nur noch ab und an einen kleinen Beitrag zu seinem Lebensunterhalt beziehen musste. Er konnte wahrlich erhobenen Hauptes ins Freie treten.
Er atmete die kalte Luft tief ein. Es roch nach feuchter Winterfrische. Die Blumengasse lag im Schleier der Schneeflocken. Kutscher schlenderte in Richtung Kreuzstraße. Er lief allein auf dem Trottoir. Die Arbeiter im Graphischen Viertel hatten noch nicht Feierabend und waren mit dem Drucken von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen beschäftigt. Er vernahm die Bimmeln und Pferdefuhrwerke sowie einzelne Automobile auf der Dresdner Straße.
Kutscher nutzte den Weg, um seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Wie unberechenbar sein Leben in der letzten Zeit verlaufen war! Jahrelang hatte er versucht, als Bühnenautor zu reüssieren. Allein durch einen Zufall war ihm ein schlecht gedruckter Roman von Auguste Groner in die Hände gefallen, eine wilde Kriminalgeschichte um den Detektiv Joseph Müller. Kutscher hatte nur ein paar Tage und Nächte gebraucht, um einen ähnlichen Roman zu Papier zu bringen – kurz nachdem er mit seinem Freund Edgar Wank den wahren Kriminalfall um den Fußballer Thoralf Schöpf gelöst hatte. Zunächst war sein Manuskript einige Jahre in der Schublade verstaubt. Und nun erschien schon seine dritte Detektivgeschichte bei Rollnik.
Zwar nahmen die Herren Redakteure bei den feinen Literaturblättern ihn als Autor nicht wahr, aber er spürte die Anerkennung, die ihm seine belesenen Freunde vom Alten Theater entgegenbrachten. Und er bemerkte, wie ihn die Meinung derer, die seine Schreibkunst nicht zu würdigen wussten, mit jedem neuen veröffentlichten Roman weniger interessierte.
Im Verlag gingen Briefe ein, in denen ihm Leser – nicht selten handelte es sich auch um Leserinnen – in schlichten Worten mitteilten, wie sehr sie mit dem Ich-Erzähler seiner Geschichten mitfieberten. Mehr noch, aus vielen Schreiben sprach Bewunderung für den Helden seiner Romane. Allem Anschein nach gelang es der Leserschaft nur schwer, zwischen dem Autor und seiner Hauptfigur zu unterscheiden.
Natürlich fühlte Kutscher sich seinem Helden nahe. Allerdings brachte er viel Fantasie auf, um den Detektiv besonders kniffelige Fälle lösen und ihn dabei jede Menge Gefahren überstehen zu lassen. Wenn Kutscher seinen Freund Edgar Wank von den echten Kriminalfällen berichten hörte, klang die Ermittlungsarbeit weit weniger spannend. Die allermeisten Bösewichter, über die Wank für die Leipziger Zeitung berichtete, verhielten sich geradezu beleidigend blöde. Sie ließen sich auf frischer Tat ertappen, mit der Beute schnappen oder prahlten in der Kneipe mit ihren Vergehen. Das wirkliche Leben bestand aus absurden Zufällen und Langeweile – ganz anders als eine gute Detektiverzählung.
Kutscher lächelte, während ein paar Schneeflocken auf dem Revers seines Überziehers landeten und sofort schmolzen. Auch auf dem Gehweg blieb das Weiß nicht liegen, sondern verwandelte sich, kaum auf dem Boden angekommen, in Matsch.
Einige Schneeflocken fielen ihm in die Augen, so bemerkte Kutscher den seltsamen Haufen auf dem Weg erst, als er darüber stolperte.
»Verflucht!«, rief er. Gerade rechtzeitig fing er den Sturz ab und schlitterte übers Pflaster. Am Sims des Hauses fand er Halt, holte tief Luft und sah zu Boden. Da lag jemand, auf der Seite, eigentümlich zusammengekrümmt. Kutscher musste den armen Kerl mit dem Schuh an den Rippen erwischt haben. Der Mann rührte sich nicht. Ob er ohnmächtig war? Oder den Rausch des Alkohols ausschlief? Jedenfalls spielte der Mann bei der Kälte mit seiner Gesundheit.
Kutscher beugte sich hinunter und rüttelte ihn an der Schulter. »Kommen Sie, mein Herr, das scheint mir nicht der rechte Ort für ein Schläfchen zu sein!«
Der Kerl rührte sich immer noch nicht. Erst jetzt fiel Kutscher auf, dass er baren Hauptes da unten ruhte. Matsch hatte sich in den Haaren verfangen. Der Hut lehnte ein paar Meter weiter an der Wand des Nachbarhauses. Vermutlich lag der Mann schon eine ganze Weile am Boden.
Kutscher rüttelte noch einmal an der Schulter des Mannes, doch der zeigte wieder keine Reaktion. Am besten, er höbe ihn erst einmal hoch. Also zog er am Oberarm. Doch der löste sich kaum von der Brust des Mannes. Konnte er etwa angefroren sein? Kutscher zerrte stärker am Arm und rollte den Mann auf den Rücken … oder vielmehr das, was von ihm übrig war. Der Teil des Gesichts, der bis eben auf dem Boden gelegen hatte, war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Stirn, Wange und Kiefer bildeten eine Kraterlandschaft aus Fleischklumpen mit einer Soße aus Blut und Straßendreck.
Kutscher sprang entsetzt auf und rutschte durch den Schlamm. Nur weg von der entstellten Leiche! Erneut fing er einen Sturz ab, indem er sich an der Wand festhielt. Es gelang ihm, den Würgereiz zu unterdrücken. Zum Glück lag der Kopf nun mit der unverletzten Seite zu ihm. Von hier sah es fast so aus, als wäre der Mann friedlich entschlummert.
Jetzt erkannte Kutscher den Toten: Vor ihm lag Claudius Orlog, der Herausgeber der Bacchus-Blätter, ein stadtbekannter Literaturkritiker. Neben dem Leichnam entdeckte er einen Dachziegel. Daran klebte Blut.
Der Sekretär bedeutete Edgar Wank, noch einen Moment zu warten. »Herr Doktor Richter hat gerade ein dringendes fernmündliches Gespräch mit dem Landgericht.«
»Soll ich in einer Viertelstunde wiederkommen?«, fragte Wank. Für das Königliche Landgericht zu Leipzig fungierte die Leipziger Zeitung als Amtsblatt. Das Gespräch konnte sich länger hinziehen.
»Nein, auf keinen Fall soll ich Sie wieder gehen lassen, schärfte mir der Herr Redaktionsdirektor ein. Bitte gedulden Sie sich etwas, Herr Wank!«
Wank überlegte, was er mit der plötzlich gewonnenen Zeit anfangen solle. Doktor Richters Vorzimmer lud nicht gerade zum Entspannen ein. Vor den Wänden standen Bücherregale, die bis zur Zimmerdecke reichten. Sämtliche Jahrgänge der Leipziger Zeitung thronten in dunklen Ledereinbänden neben Richters Tür. Drumherum reihten sich Enzyklopädien, Gesetzbücher, Erlasse und Verordnungen. Beinahe verstohlen wies die Goethe-Schiller-Gesamtausgabe darauf hin, dass hier der Geist herrschte. Die Bände standen so akkurat nebeneinander, als käme gleich König Friedrich August III. aus Dresden des Weges, um die Parade abzunehmen. Nein, die Bücher luden nicht zur Lektüre ein, sie schüchterten Wank eher ein.
»Das Wetter weiß auch nicht so recht, was es will«, unterbrach der Sekretär die Stille.
»Was soll man da machen!«, entgegnete Wank und bemerkte, wie der Sekretär das passende Gesicht zum Wetter zog. Schnell fügte er an: »Da weiß man am Morgen nicht, welche Schuhe die richtigen sind, und am Abend hilft alles Putzen nichts.«
Der Sekretär schaute noch für einen Moment missmutig, dann nickte er. »Meine Frau beschwert sich auch in einem fort. Immerhin bin ich heute Morgen trockenen Fußes und mit sauberem Schuhwerk bis ins Büro gekommen.«
»Ja, heute Morgen hielt sich der Ärger in Grenzen«, stimmte Wank zu. Den Sekretär wünschte er sich nicht zum Feind, schließlich sprach im ganzen Hause niemand häufiger mit dem Direktor als dieser Mann.
Glücklicherweise öffnete Richter seine Bürotür, bevor Wank noch weitere Fallstricke der Konversation umkurven musste.
»Kommen Sie herein!«, rief der Direktor. Der Tonfall ließ keinerlei Rückschluss auf seine Laune zu.
Wank nickte dem Sekretär zu und trat zu seinem Dienstherrn ins Büro. Auch hier flößten Möbel und Wandschmuck dem Besucher Ehrfurcht ein. An einer Wand hingen in schweren Holzrahmen Titelseiten wichtiger Ausgaben der Leipziger Zeitung.
Richter saß bereits wieder auf dem thronartigen Stuhl hinter seinem Schreibtisch aus Edelholz. Der Direktor wies Wank den Platz auf dem Schemel davor zu. »Schön, dass Sie da sind, Herr Wank. Was treiben denn die Verbrecher der Stadt?« Es klang, als stelle sich Richter die Frage selbst. Tatsächlich nahm er den Durchschlag von Wanks neuestem Beitrag für die Rubrik Polizeiliches in Leipzig in die Hand. Das Manuskript befand sich längst in der Druckerei, denn die Leipziger Ausgabe wurde als Nachmittagsblatt in wenigen Minuten ausgeliefert. Der Direktor las vor: »In einem 24 Jahre alten stellungslosen Handlungskommiss aus Halle wurde jener Dieb ermittelt und zur Haft gebracht, der sich in mehreren Fällen in Gasthäuser einlogiert und Betten entwendet hatte.« Richter überflog die nächsten Zeilen lediglich und murmelte: »Fein, eine 26-jährige Diebin wurde zur Strecke gebracht. Ach, und hier ermittelt die Polizei in einer Messerstecherei.« Der Direktor sah von dem Papierbogen auf und ergänzte: »Die Beamten Seiner Majestät überführen die Übeltäter reihenweise. Und wir vermelden das in unserer Rubrik. So soll es sein.«
Wank hatte das Gefühl, im Blick des Direktors ein Fragezeichen zu lesen. Nur, was wollte Richter wissen?
Statt eine Frage zu stellen, fuhr der Direktor fort: »Sie haben ja schon des Öfteren Beiträge für unsere Beilage geschrieben. Ich hätte da eine interessante Sache für jemanden, der sich mit Gerichtsdingen auskennt.«
»Aber Herr Direktor«, entgegnete Wank, »für meine Artikel verfolge ich die Übeltäter nur bis zu ihrer Inhaftierung. Wie die Richter über sie urteilen, entzieht sich in aller Regel meiner Kenntnis.«
»Dann ist es vielleicht an der Zeit, dass Sie Ihren Blick auch einmal auf diesen Teil des Geschehens richten.«
Wank verbiss sich jedweden Kommentar. Warum sollte er eine Widerrede halten, ohne zu wissen, worum es überhaupt ging? Denn eines wurde deutlich: Der Direktor hatte seine Entscheidung bereits getroffen – worüber auch immer.
Richter nahm eine Mappe von seinem Schreibtisch. »Das sind Abschriften zum Fall Karl May. Die Sache wird morgen vor dem hiesigen Reichsgericht verhandelt.«
»Karl May? Das ist doch dieser Schriftsteller, der schon wegen Felldiebstählen einsaß«, erwiderte Wank. »Soweit ich weiß, liegt seine Gaunerkarriere bereits viele Jahre zurück. Was hat er sich denn zuschulden kommen lassen, dass sich das höchste Gericht im Reich damit befasst?«
Richter reichte Wank die Mappe über den Tisch. »Es handelt sich nicht um eine Strafsache, sondern um einen Urheberrechtsstreit. Schauen Sie sich die Papiere in Ruhe an, Herr Wank.«
»Urheberrecht?« Wank nahm die Mappe entgegen und hatte das Gefühl, sie enthalte ein fürchterliches Urteil über ihn selbst. »Wäre das nicht besser bei den Kollegen im Kulturressort aufgehoben?«
»Sie meinen bei Bollmann?« Richter lachte kurz auf und fuhr ernst fort: »Für den ist dieser May doch schon ein Übeltäter, wenn er nur atmet. Nein, mein lieber Herr Wank, ich sehe dieses Thema bei Ihnen. Machen Sie etwas daraus!«
Thomas Kutscher betrat das Café im Oertelschen Haus. Er brauchte dringend eine Tasse Kaffee. Nachdem ihm in der Blumengasse ein Bengel über den Weg gelaufen war, den er zur Polizei schicken konnte, hatte er fast zwei Stunden neben der Leiche verbringen müssen. Zunächst allein, dann mit einem Wachmann zu Fuße, der blöde Fragen stellte – etwa, was denn genau vorgefallen sei. Das konnte Kutscher freilich nicht wissen. Schließlich war Kommissar Machuntze eingetroffen, der sich den Ablauf des Leichenfunds mehrfach en détail hatte schildern lassen.
Das Oertelsche Haus befand sich nur wenige Meter vom Alten Theater entfernt, daher traf Kutscher hier stets jemanden, mit dem er über die Leipziger Künstlerwelt plaudern konnte. Er schaute sich im Gastraum um – und tatsächlich, von einem kleinen Tisch am Fenster winkte ihm Fräulein Eleonore Rada zu. Der Platz neben ihr war frei. Kutscher nickte der Schauspielerin zu und schritt zu ihrem Tisch.
Die Rada pflegte seit Jahren eine Liaison mit seinem besten Freund Edgar Wank. In den letzten Monaten kamen die beiden ihm wie ein harmonisches Paar vor, was beim Temperament der Aktrice an ein Wunder grenzte.
Auch heute fiel ihr Gruß überschwänglich aus. Die Worte sprudelten aus ihrem Mund wie eine Fontäne aus einem Brunnen: Was für ein schöner Zufall es sei, ihn zu treffen, wie lange sie ihn nicht mehr gesehen habe, wohl mindestens zwei oder gar drei Wochen, wie fürchterlich er am Theater vermisst werde …
Kutscher kam gerade so dazu, einen Guten Tag zu wünschen. Er ließ sich nieder, hörte nur noch mit halbem Ohr zu und winkte dem Ober.
Kaum hatte Kutscher seine Bestellung aufgegeben, setzte die Rada ihren Redeschwall fort. »Ich muss Ihnen leider sagen, dass die Zustände am Alten Theater immer schlimmer werden. Stellen Sie sich vor, unser Dramaturg – Sie kennen Herrn Zeitlitz ja selbst aus leidvoller Erfahrung – hat entschieden, künftig überhaupt keine Stücke mehr in Auftrag zu geben, sondern ausschließlich auf die Klassiker zu setzen.«
Kutscher ging durch den Kopf, dass er solch ein Ungetüm von Satz niemals niederschreiben würde. Kein Leser würde glauben, dass tatsächlich jemand derart spricht. Doch Fräulein Radas Satz verwunderte ihn weniger als die Mimik, die ihn begleitete. Das Fräulein flötete regelrecht und feixte wie am Geburtstagstisch, obwohl das Gesagte doch Ärger ausdrückte. Diese Diskrepanz zwischen Form und Inhalt irritierte Kutscher. Er antwortete: »Wie ich Ihren Dramaturgen kenne, wird bei ihm nichts so heiß gegessen, wie er es gern kochen würde. Davon abgesehen: Das Stück, an dem Zeitlitz nichts auszusetzen hat, muss erst noch geschrieben werden.«
»Ach, mein lieber Herr Kutscher, Sie können die Sache leichtnehmen. Sie haben es ja rechtzeitig geschafft, sich aus der Reichweite von Zeitlitz’ harter Hand zu entfernen.« Die Rada zog die Augenbrauen zusammen und schaute ihn forschend an. »Vermissen Sie den Trubel am Theater nicht manchmal?«
»Ich kann ja jederzeit zum Theaterplatz schlendern und ins Haus gehen«, antwortete er. »Meist reicht mir Ersteres schon.«
»Ach, darum beneide ich Sie.« Die Rada seufzte. Der Kellner trat an den Tisch, stellte Kutscher den Kaffee vor die Nase und fragte, ob alles zu ihrer Zufriedenheit sei. Kaum trabte der Ober davon, quasselte die Rada schon weiter. »Ach nein, wenn ich’s mir genau überlege, würde mir etwas fehlen, wenn mein Name nicht mehr auf den Plakaten stünde und die Zuschauer mir keine Blumen mehr schenken würden.«
»Blumen erhielt ich nicht, als mein Stück am Alten Theater aufgeführt wurde. Und mein Name war in derart winzigen Lettern auf dem Plakat abgedruckt, dass ich ihn selbst beinahe übersehen hätte.«
»Immerhin war es Ihr Name.« Die Schauspielerin lachte. »Aber ich gebe gern zu, dass sich der Schriftzug Tom Tock auf Ihren Romanen ausgesprochen gut macht.«
Kutscher nippte an seinem Kaffee. Er brauchte einen Moment, um eine Antwort auf die Neckerei der Rada zu finden. Glücklicherweise schwieg sie lange genug. Schließlich stellte er die Tasse ab und sagte: »Jedenfalls bereitet mir die Arbeit Freude. Das scheint mir bei Ihnen nicht uneingeschränkt der Fall zu sein, meine Liebe.«
Die Schauspielerin seufzte und schaute ihn mit einem Blick an, der sogar bei einem Scharfrichter Mitleid ausgelöst hätte. »Da sagen Sie etwas, mein lieber Herr Kutscher. Noch vor ein paar Jahren hätte ich mich als ungebundene junge Schauspielerin einfach um ein anderes Engagement bemüht. Doch nun möchte ich die Stadt und vor allem Ihren Freund Edgar nicht mehr missen.« Sie senkte den Blick. »Was soll ich nur tun?«
»Am besten, Sie reden mit Edgar darüber«, schlug Kutscher vor. Dabei kam ihm die Leiche wieder in den Sinn. Auch er verspürte das dringende Bedürfnis nach einer Konversation mit seinem Freund Edgar Wank. Gleich nach dem Kaffee wollte er ihn aufsuchen.
Edgar Wank verließ das Redaktionsgebäude der Leipziger Zeitung und trat auf die Poststraße. Obwohl es erst kurz nach halb fünf Uhr nachmittags war, dämmerte es schon. Wank schloss seinen Überzieher bis zum Kragen, dennoch kroch die Kälte unter den Stoff. Zum Glück hatte er es nicht weit, seit er in das Zimmer in der Karlstraße gezogen war. Nun musste er sich auf dem schmalen Gehweg durch die Passanten kämpfen, die zum Feierabend gen Augustusplatz strömten. Manch einer kehrte nach getaner Arbeit noch in eine Gastwirtschaft in der Innenstadt ein. Die meisten Arbeiter und Angestellten stiegen allerdings in die Bimmel und fuhren nach Hause.
Ein paar Meter vor ihm löste sich ein Mann von der Hauswand. Er kam Wank seltsam bekannt vor. Dieser Gang, der Mantel, der auch im Zwielicht noch schimmerte, die langen Haare unter der Melone … Wie kam Thomas Kutscher hierher?
»Da bist du ja endlich«, rief der Freund.
Wank blieb stehen und wartete, bis Kutscher bei ihm war und ihm die Hand entgegenstreckte.
Noch während des Handschlags sagte der Freund: »Ich muss dir unbedingt etwas zeigen. Komm mit!«
»Können wir das nicht bei mir besprechen?« Wank stellte den Kragen seines Mantels hoch. »Es herrscht eine Hundekälte, und ich wohne gleich um die Ecke, wie du weißt.«
»Glaub mir, du willst das sehen.« Kutscher klang aufgeregt und zog ihn am Ärmel die Poststraße hinunter.
»Wo, um alles in der Welt, willst du mich denn hinschleppen?«, fragte Wank und schüttelte die Hand des Freundes ab.
»Nur noch ein kleines Stück. Es liegt fast auf deinem Heimweg, Edgar.«
Inzwischen hatten sie die Querstraße erreicht. Kutscher bahnte sich wortlos einen Weg zwischen den Menschen hindurch. Wank hatte Mühe, ihm zu folgen. Die wenigen Meter bis zum Johannisplatz japste er hinter Kutscher her. Die Johanniskirche warf lange Schatten in Richtung der Dresdner Straße, in die Kutscher ohne Umschweife einbog. Das Gedränge auf dem Trottoir ließ langsam nach.
Wank schloss zum Freund auf und zischte: »Nun sag mir endlich, wo wir hingehen und warum!«
»Hab doch Geduld, Edgar! Es sind nur noch ein paar Hundert Meter. Du wirst Augen machen!« Kutscher flitzte die Dresdner Straße stadtauswärts, als wäre er auf der Flucht vor dem Leibhaftigen. Über dem Johannisfriedhof leuchtete schon die Mondsichel und verlieh der Dämmerung eine gespenstische Note.
Kutscher überquerte die Inselstraße und rief: »Gleich da vorn ist es!«
Auf den zwanzig Metern bis zur nächsten Straßenecke begegnete ihnen lediglich eine Gruppe von Arbeitern. Kutscher bog in die Blumengasse und zeigte auf das Portal eines Geschäftshauses. »Dort vorn war es. Da habe ich den Kerl gefunden.« Aufgeregt berichtete er über den toten Literaturkritiker, dessen zertrümmerten Schädel und die Polizisten, denen er bereits Rede und Antwort gestanden hatte. Schließlich deutete er auf den Blutfleck, der immer noch auf dem Pflaster zu erkennen war. »Seltsamerweise wehte kaum ein Lüftchen. Wie soll sich da ein Ziegel vom Dach gelöst haben?«
Wank betrachtete das Blut und murmelte: »Hier lag dann wohl der Kopf. Wo waren die Füße? Wie herum lag der tote Herr?«
»So herum«, antwortete Kutscher und deutete an, dass der Leichnam mit den Füßen in Richtung Dresdner Straße gelegen habe.
Etwas an Kutschers Beschreibung erschien Wank seltsam, so als würde ein Detail aus einem anderen Bild stammen. Wank hob den Hut und kratzte sich an der Stirn. Die Kopfbedeckung, das war es! »Der Hut des Herrn war völlig unversehrt?«
»Der Hut wird ihm wohl vom Kopf geweht worden sein, bevor der Stein ihn traf.«
»Sagtest du nicht, es herrschte Windstille?«, entgegnete Wank.
»Hm«, brummte Kutscher. »Das ist in der Tat seltsam.«
»Und wo, meintest du, lag der Hut des Herrn?« Kutscher zeigte ein paar Meter weiter in Richtung Dresdner Straße. »Dort.«
»Ach du lieber Gott! Hast du das auch Machuntze gesagt?«
»Was?« Kutscher blickte drein wie ein Bengel, der von der Mutter beim Stibitzen eines Bonbons erwischt worden war. »Der Kommissar hat mich nicht danach gefragt. Warum willst du das wissen?«
»Stell dir vor, der verblichene Herr hat jemanden getroffen und seinen Hut gezogen, bevor ihn der Stein traf. Und während er dann stürzte, ließ er ihn fallen. Wo wäre der dann gelandet?«, fragte Wank, tippte an seine Krempe und hob dann seinen Hut. Er zeichnete mit der Hand in der Luft die Fluglinie der Kopfbedeckung nach.
Kutscher drehte den Kopf und folgte Wanks Handbewegung – hin zu der Stelle, an der er den Hut gefunden hatte.
Wank merkte, wie bei seinem Freund der Groschen fiel.
»Wenn Orlog jemandem begegnet ist, vor dem er den Hut gezogen hat, dann hat der ihn vielleicht auch mit dem Stein angegriffen«, murmelte Kutscher. »Das wäre Mord.«
»Es sieht so aus«, bestätigte Wank.
»Stellt euch vor, meine Freunde, ich habe dem Verblichenen im vergangenen Jahr eines meiner Gedichte angeboten!«, rief Thomas Kutscher. Er musste ziemlich laut sprechen, um das Gemurmel in der »Elster-Klause« zu übertönen, denn zu dieser Abendstunde war in der Schankwirtschaft jeder Platz besetzt.
Fridolin Hartmann, der Neue und Fritz Lutemüller saßen mit Kutscher am Tisch und schwiegen. Bei Letzterem war das nichts Ungewöhnliches. Lutemüller sprach kaum. Selbst wenn der Wirt das Bier abstellte, nickte er höchstens kurz. Den Neuen konnte Kutscher noch nicht richtig einschätzen. Der hatte sich als Hans Pöttger, Pöttiger oder Pötticher vorgestellt. Anscheinend war er jahrelang zur See gefahren und gerade erst nach Leipzig zurückgekehrt, um eine Stelle als Kommiss anzutreten. Gedichte verfasste er zumeist nachts. Hartmann redete indes gern und sich häufig auch in Rage. Wenn er jetzt den Mund hielt, dann wohl nur, weil er noch weitere Details über den mysteriösen Tod des Literaturkritikers hören wollte.