Loe raamatut: «Lebendige Seelsorge 6/2019»
INHALT
THEMA
Braucht die Pastoral eine „Große Erzählung“?
Von Regina Polak
Inkarnative Erzählungen
Von Christian Kern
Pathos anstelle differenzierter Begriffsklärung? Eine (auch Selbst-)Kritik
Die Replik von Regina Polak auf Christian Kern
Ausschlüsse nicht ausblenden
Die Replik von Christian Kern auf Regina Polak
Narrative Theologie revisited
Von Knut Wenzel
PROJEKT
Drei Kätzchen für harte Kerle
Wie ich zum Erzähler wurde Von Gregor von Papp
Erzähl mir was …
Ein Muntermacher vertreibt den Predigtschlaf Von Ewald Huscava
INTERVIEW
„Ohne Geschichten hätte ich nicht überlebt“
Ein Gespräch mit Willi Hoffsümmer
PRAXIS
Das Markus-Evangelium als erste „Narrative Theologie“ des Christentums
Von Martin Ebner
Fabulieren statt famulieren. Eine kleine Apologie des Erzählens
Von Erich Garhammer
Game of Thrones – Die Realität in der Fiktion einer audiovisuellen Erzählung
Von Gerald Poscheschnik
Voll die Gnade? – Glaubenszeugnisse und Storytelling
Von Christian Schröder
„Toter Pfarrer – guter Pfarrer“
Von Georg Langenhorst
FORUM
Zwanzig Jahre „donum vitae“
Von Rita Waschbüsch
POPKULTURBEUTEL
Freundschaft bestätigt
Von Matthias Sellmann
NACHLESE
Re: Lecture
Von Gotthard Fuchs
Buchbesprechungen
Impressum
Jahresinhalt
EDITORIAL
Christian Bauer Mitglied der Schriftleitung
Liebe Leserin,
lieber Leser, das Erzählen boomt. Storytelling ist ein Renner unter den Managementkursen. Eine ganze Kleinkunstszene reaktiviert den Zauber des Erzählens. Werbeleute, Fotografinnen und Köche, die etwas auf sich halten, lassen ihre Produkte, Bilder und Gerichte Geschichten erzählen. Und der Begriff der Narrative hat längst den Intellektuellenjargon verlassen und ist in die politische Alltagsprache gewandert: Europa, so heißt es zum Beispiel, brauche dringend ein neues Narrativ.
Diese Konjunktur des Erzählens lässt in neuer Weise nach dem alten „Funkelstein“ (A. Stock) der Narrativen Theologie fragen, den Harald Weinrich 1973 vorgelegt und um den Johann B. Metz dann einen „magisch-apologetischen Kreis“ gezogen hat: „Und da liegt das glitzernde Oxymoron nun seit Jahr und Tag und verführt die Theologen, die praktischen vor allem, zu allerlei Aktivitäten“ (A. Stock). Es lohnt sich, dieses Konzept in die Gegenwart zu stellen und Kirche als eine entsprechende „Erzählgemeinschaft“ (J. B. Metz) zu konzipieren: „Es ist notwendig, dorthin zu gelangen, wo die neuen Geschichten und Paradigmen entstehen“ (Papst Franziskus).
Dieses Heft (ver)führt an faszinierende Orte der „Erzählbarkeit des Lebens“ (A. Nassehi) in den kleinen Geschichten und „großen Erzählungen“ (J.-F. Lyotard) unserer Zeit – bis hin zu Game of Thrones. Story.one beschreibt, worum es geht: „Wir bringen das Lagerfeuer zurück in die Mitte der Gesellschaft.“ Die Chemnitzer Seite aufstand-der-geschichten.de zeigt, wie politisch das in einer von „instrumentellen Erzählern“ (B. Pörksen) polarisierten Zeit sein kann, deren Framing sich um keine Fakten mehr schert: „Das Ziel ist Wirkung, nicht Wahrheit“ (B. Pörksen).
Nichts schafft offenere Identitätskonstruktionen, als bei einem Kaffee oder einem Bier die eigene Geschichte zu erzählen. Und nichts ist spannender, als dann auch die Geschichte des Anderen zu hören. Solchermaßen gewürdigtes Leben ist ein Schatz: „Menschen sind die Worte, mit denen Gott seine Geschichten erzählt“ – dieser Satz von Edward Schillebeeckx hat es für meine Frau und mich sogar zum Trauspruch gebracht. Aber das ist eine andere Geschichte…
Ihr
Prof. Dr. Christian Bauer
THEMA
Braucht die Pastoral eine „Große Erzählung“?
Wenn von einem Ende der „Großen Erzählungen“ derzeit politisch keine Rede sein kann, muss die Pastoraltheologie dann nicht über diese Frage nachdenken – trotz berechtigter postmoderner Kritik an Meta-Narrativen? Regina Polak
In seiner Geschichte Europas nach 1950 („Achterbahn“) schildert Ian Kershaw, wie nach dem Scheitern des Nationalsozialismus zunächst Kapitalismus und Kommunismus einander bekämpfen, um nach 1989 von der Ideologie des Neoliberalismus abgelöst zu werden (vgl. Kershaw, 373ff.). In seinem Grundlagenwerk „Der Weg in die Knechtschaft“ (1944) habe Friedrich Hayek die „ökonomische Theorie in eine voll ausgebildete soziale und politische Ideologie“ (Kershaw, 389) umgewandelt, mit dem Ziel der Ersetzung des Staates durch den Markt, weil nur dies die demokratische Freiheit sichere. Bernhard Walpen wiederum belegt, wie die 1947 gegründete Mont-Pèlerin Gesellschaft dieses wirtschaftspolitische Globalisierungs-Programm weltweit strategisch durchgesetzt hat. Ökonomisierungsdynamiken transformieren heute sämtliche Lebensbereiche und Menschen ordnen sich mit bemerkenswert wenig Widerstand dieser Logik unter. Ein Ende der „Großen Erzählungen“ kann ich dabei nicht erkennen.
Auch der Geschichtsnarrativ Samuel P. Huntingtons vom „Zusammenprall der Kulturen“ („The Clash of Civilizations“) findet seit 9/11 europaweit Akzeptanz, nicht zuletzt forciert durch dessen Übernahme durch rechtspopulistische Parteien. Mangels alternativer Narrative, die die mittlerweile unübersehbar gewordenen Transformationen der Migrationsgesellschaften Europas deuten, finden Vorstellungen von angeblich unvereinbaren „Kulturen“, die miteinander in Konflikt und Kampf stünden, auch in der sog. „Mitte der Gesellschaft“ breite Zustimmung. Interpretatorische Begriffe wie „Islamisierung“, „Bevölkerungsaustausch“, „Umvolkung“ bilden hier die demokratiepolitisch und menschenrechtlich bedrohliche Spitze des Eisberges einer Gesellschaft auf der Suche nach Meta-Narrativen. Zeigt sich aber darin nicht auch ein berechtigtes Bedürfnis der Menschen, zeitgenössische Entwicklungen in größere Sinnzusammenhänge stellen zu können?
Regina Polak
geb. 1967, Dr. theol., Associate Professor am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und derzeit Institutsvorständin; Forschungsschwerpunkte: Religion und Migration, Werteforschung, sozioreligiöse Transformationsprozesse in Europa sowie interreligiöser Dialog in der Migrationsgesellschaft.
RÜCKFRAGEN AN DIE POSTMODERNE
Die Postmoderne hat zweifellos mit ihrer Kritik an „Großen Erzählungen“ unhintergehbare Erkenntnisse und Normen entwickelt. Ich verstehe mich also keinesfalls als deren Gegnerin und bin auch keine Expertin. Ihre Rezeption in breiten Teilen der Bevölkerung allerdings sehe ich mit großer Sorge. Diese hat das Entstehen eines massiven Vertrauensverlustes in Fragen nach Wahrheit und Sinn, wenn nicht ausgelöst oder forciert, so doch zumindest individualisiert und privatisiert. Die damit verbundene nihilistische Grundstimmung – dass der Einzelne seinen Sinn, seine Werte nunmehr in beständiger Anstrengung selbst setzen muss – ist für viele Menschen überfordernd und begünstigt das Entstehen von politischen und religiösen Fundamentalismen. Was bleibt, ist eine pluralistische, agonale Wirklichkeit, die gefährliche neue „Große Erzählungen“ gebiert, die um Hegemonie kämpfen. Was hat die Theologie dazu zu sagen?
Selbstverständlich sind die Postmoderne und ihre populäre Rezeption verschiedene Phänomene. Auch ich halte jede Form von „Großer Erzählung“, die vom Einzelnen Unterordnung verlangt oder gar mit politischen Macht- und Gewaltmitteln durchgesetzt werden soll, für historisch desavouiert. Erzählungen über den Sinn von Geschichte sind konstitutiv plural und stehen im Konflikt zueinander. Gleichwohl muss sich diese Denkrichtung mit Blick auf ihre Auswirkungen fragen lassen, ob sie mit ihrer fundamentalen Skepsis gegenüber „Großen Erzählungen“ und ihrer Pflicht zur permanenten Dekonstruktion nicht auch maßgeblich dazu beigetragen hat, dass sich neoliberale, kulturalistische und nationalistische Ideologien ausbreiten können.
Im Folgenden möchte ich einige Argumente anführen, warum man in der Theologie zumindest über die Frage nachdenken muss, ob und warum es nicht vielleicht doch „Große Erzählungen“ braucht und welchen Kriterien diese entsprechen müssten, um der postmodernen Kritik zu genügen. Dies geschieht aus einer pastoraltheologischen Perspektive mit einer Option für jene, die postmodernem Denken zum Trotz neue „Große Erzählungen“ kreieren. Ich möchte dieses Bedürfnis verstehen und pastoraltheologisch verantwortet darauf reagieren. Ich legitimiere damit weder politische oder religiöse Fundamentalismen noch stimme ich damit in das kirchliche Relativismus-Bashing ein.
ARGUMENTE
Es sind zunächst meine Forschungen im Kontext von Migration und Urbanisierung, die in mir diese Frage entstehen ließen. So ist z. B. der Ludwig-Wittgenstein-Preisträger Walter Pohl der Ansicht, dass die zeitgenössischen Migrationen übergeordnete Sinn-Narrative benötigen. In seinen Forschungen zu den „Great Migrations“ (sog. „Völkerwanderungen“) zeigt er die friedens- und ordnungspolitisch positiven Auswirkungen der christlichen Erzählung von der Einheit der Völker auf. Ohne dass dies heute in dieser Weise zu wiederholen wäre – mittelfristig hatte auch dieser Narrativ hochproblematische Auswirkungen – ist er dennoch der Ansicht, dass aus historischer Sicht jeder soziale Transformationsprozess Deutungen benötigt, die die Einzelphänomene in einem Sinnzusammenhang verstehen lassen.
Migrationen und die mit ihnen verbundene notwendige Neugestaltung des sozialen Raumes bedürfen daher auch aktuell differenzierter Wissens- und hochentwickelter Deutungssysteme: „Ohne eine solche Abstraktionsebene, die es erlaubt, ein gesellschaftliches Phänomen als Ganzes zu verstehen, ist nachhaltige Problemlösung nicht möglich“ (Pohl, 43). Ohne Meta-Deutungen mutiert die Migrationsthematik zu einer Frage politischen Managements, das (angeblich) ideologiefrei ist – oder zeugt, wie oben beschrieben, politisch gefährliche Narrative.
In seinen Überlegungen zu einer Soziologie der modernen Städte legt auch Zygmunt Bauman einen „Meta-Narrativ“ vor, indem er „die Stadt“ als Ort der „Begegnung von Fremden“ in der „flüssigen Moderne“ charakterisiert. Seine Überlegungen rahmt er zugleich selbstkritisch und ironisch mit zahlreichen Erinnerungen an die „potenziell gefährliche Angewohnheit […], über den Zustand der Welt und ihre Entwicklungen vorschnell Schlüsse zu ziehen“ (Bauman, 6) – also postmodern und pluralitätssensibel. An seinen normativen Überlegungen wird deutlich, wie unverzichtbar eine solche „Gesamtdeutung“ ist, da nur diese deren weltanschaulichen Hintergrund transparent macht und die empiristischen Fehlschlüsse verhindert, die man in der Soziologie nicht selten findet, wenn diese ethische oder politische Ratschläge erteilen.
RÜCKFRAGEN AN DIE THEOLOGIE
Aus historisch und sachlich notwendigen Gründen ist vor allem in der deutschsprachigen Theologie nach 1945 der Rekurs auf die universale Heilsgeschichte Gottes verstummt, ungeachtet der Wiederentdeckung dieser „Großen Erzählung“ durch das Zweite Vatikanum. Zu sehr waren die „Großen Erzählungen“ der Kirche geistesgeschichtlich an der Verfolgung, am Ausschluss und an der Ermordung von Millionen Menschen, nicht zuletzt der 6 Mill. Juden, beteiligt. Rudolf Englert stellt deshalb ernüchtert fest: „Die Hoffnung auf einen Gott, der die Geschichte als ganze und die Geschichte jedes Einzelnen zum Guten zu wenden vermag, ist stark erschüttert, teilweise ganz ausgeglüht“ (Englert, 43). Auch wenn dies zutreffen sollte, ist jegliche Restauration heilsgeschichtlicher Theologien, denen man die Zivilisationsbrüche des 20. Jahrhunderts nicht anmerkt, theologisch und ethisch unverantwortbar. Zugleich finden europaweit missionarische Initiativen wie z. B. „Awakening Europe“, die die Geschichte nicht nur ausblenden, sondern Europa für das Christentum sogar „rückerobern“ wollen, kirchlich weiten Zuspruch.
Müssen daher nicht auch wir Theolog*innen uns fragen lassen, ob wir mit der Art unserer theologischen Selbstkritik nicht die Hoffnungslosigkeit der Menschen verdoppelt haben und Antworten auf die Frage nach dem Sinn von Leben und Geschichte schuldig geblieben sind? Missachten wir da nicht ein anthropologisches Grundbedürfnis? Darf man das biblische Zeugnis, dass Gott der Herr der Geschichte ist, einfach weglassen, weil es gefährliche Auslegungen mit sich bringen kann? Wie kann man dieser Spannung zwischen postmodern geläuterter Theologie, biblischem Zeugnis und menschlichen Fragen pastoral gerecht werden?
DIE BIBLISCHEN NARRATIVE ALS „GROSSE ERZÄHLUNG“?
Der umstrittene Theologe Ton Veerkamp setzt bei der Sehnsucht der Menschen nach einer „Großen Erzählung“ an und deutet sie als „Sehnsucht nach einer völlig anderen Welt“ (Veerkamp, 421). „Ich nenne Große Erzählung eine von der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder erkannte und anerkannte Grunderzählung, in der sie ihre einzelnen Lebenserzählungen mit erzählt wissen, durch die sie einen Platz in der Gesellschaft zugewiesen bekommen und so die gesellschaftliche Grundstruktur mit ihren Loyalitäten und Abhängigkeiten verinnerlichen“ (Veerkamp, 14). Eine solche „Große Erzählung“ mache die Welt überhaupt erst bewohnbar und sei notwendig, um die Welt tatsächlich zu verändern.
Menschen brauchen Erzählungen, die sie zueinander und mit der Welt in Beziehung setzen.
Veerkamp betrachtet die Sehnsucht demnach nicht als fehlgeleitetes Bedürfnis von postmodern Ungebildeten oder Pluralitäts-Unfähigen, sondern als anthropologische und theologische Gegebenheit. Ich teile weder Veerkamps marxistische Deutung noch seinen funktionalen Gottesbegriff, aber seine Sicht auf den Menschen ist pastoraltheologisch anschlussfähig. Denn Menschen brauchen Erzählungen, die sie zueinander und mit der Welt in Beziehung setzen. Sie sind konstitutiv miteinander verbunden und auf eine gemeinsame Welt verwiesen. Wenn diese Sehnsucht nicht auch von Intellektuellen ernstgenommen wird, werden Menschen eben „Große Erzählungen“ erfinden, die Sinn und Orientierung, Zugehörigkeit und Einheit ermöglichen – sei es mit Gewalt gegen andere und auf dem Weg der Unterwerfung unter diese „Idee“ sogar gegen sich selbst. Inspiriert von Veerkamps Auslegungen sehe auch ich die Möglichkeit, sich mit den biblischen Erzählungen der Frage nach einer „Großen Erzählung“ zu nähern. Ich lese die Texte dabei praktisch-theologisch, d. h. ich sehe sie als Ausdruck des Ringens von Menschen, in den geschichtlichen Ereignissen, in denen sie sich vorfinden, Sinn und Bedeutung zu finden. Ohne die damit verbundene Lerngeschichte hier im Detail darstellen zu können (ausführlich Polak 2017), lassen sich daraus Kriterien für „Große Erzählungen“ entwickeln, die postmoderner Kritik ebenso gerecht werden wie der menschlichen Sehnsucht. Exemplarisch seien einige benannt (ausführlich Polak 2018).
Die „Große Erzählung“ der Bibel wird konkret in pluralen, konkreten und widersprüchlichen Geschichten von Menschen und Ereignissen.
Die „Große Erzählung“ der Bibel wird konkret in pluralen, konkreten und widersprüchlichen Geschichten von Menschen und Ereignissen. Diese sind widersprüchlich, zerfleddert, zerrissen, lassen Brüche erkennen und Fragen offen. Sie lassen sich nicht zu einer linearen Geschichte verallgemeinern. Erfahrungen von Sinnlosigkeit, Leid und Ohnmacht, Scheitern und Diskontinuität gehören dazu. Die Einzelgeschichten sind auch kein „Fall“ der einen „Großen Erzählung“, sondern das „Ganze“ ist im Teil zur Gänze präsent. Dieses „Ganze“ wird auch nicht von Herrschern oder Experten von „oben“ verordnet, sondern von „unten“, insbes. von Minderheiten, Marginalisierten, ehemaligen Sklaven und Fremden selbst geschaffen.
Die pluralen Einzelgeschichten, wie sie der christliche wie der hebräische Bibelkanon versammeln, haben daher Vorrang und bilden eine Art paradoxen Schutz vor dem Versuch, eine übergeordnete „Große Erzählung“ explizit zu formulieren. Daher muss sich dieser „Großen Erzählung“ auch niemand unterordnen. Die Menschen sind selbst Akteure, indem sie auf dem Weg interpretatorischer Erinnerung Sinn und Bedeutung ihres erzählerischen Erbes in einer neuartigen geschichtlichen Situation entfalten. Sie sind gerade nicht Protagonist*innen in einem sich notwendig vollziehenden religiösen und politischen „Parteiprogramm“, dem sie dienen müssen. Freiheit wird ihnen zugetraut und zugemutet. Das „Reich Gottes“, das die Atmosphäre dieser Geschichte bildet, ist kein „Zustand“, sondern kann, darf und soll von Menschen entscheidend mitgestaltet werden durch und in der Verantwortung für die Qualität sozialer, politischer und religiöser Beziehungen, steht aber nicht in deren Verfügungsgewalt.
In all dieser Vielfalt aber gibt es durch die Texte hindurch ein „Gravitationszentrum“, auf das sich die Texte auf plurale Weise beziehen: die Beziehung zu Gott und untrennbar damit verbunden der Entwurf einer gerechten Gesellschaftsordnung, an der alle und jeder einzelne Mensch in Würde, Gleichheit und Freiheit teilhaben sollen. Beides – weder Gott noch sein Gesellschaftsethos – liegen als „Lehre“ oder „Theorie“ vor. Gott ist gerade keine höchste Idee, kein universales Denkprinzip oder lehrhafte Vorstellung, sondern wird als JHWH (ein Verb!) erfahren, als sich stets verändernde Präsenz, die den Menschen treu und nahe ist und sich zugleich dem Zugriff entzieht.
Die vielgestaltige und durchaus konfliktive Beziehung zu diesem Gott ist der einigende „rote“ Faden, die „Große Erzählung“. Auch der Gesellschaftsentwurf liegt nicht als Ideologie vor, sondern als der jeweils vorgefundenen Wirklichkeit immer wieder auf der Basis der Erinnerung des bereits Erfahrenen und Gelernten neu – in Normen, Gesetzen, Recht – abzuringende, eschatologische Realität.
So wird die biblische „Große Erzählung“ gemeinsam geschrieben, kommunikativ erstritten, im Leben errungen. Ohne die damit verbundene Praxis der Gemeinden, die sie durchleben, durchleiden und durchstreiten, „gibt“ es sie gar nicht. Sie vollzieht sich als oftmals schmerzhafter „Dialog“ zwischen den Menschen und mit Gott. Sie wird nicht besessen, sondern erhofft, ersehnt, vermisst, erwartet. Sie muss den Erfahrungen von Übel, Leid, dem Bösen immer wieder abgerungen werden. Insofern ist die „Große Erzählung“ auch keine „Lehre“ über Gottes Wesen oder „die“ Heilsgeschichte, sondern enthüllt die Strukturen der Beziehungsprozesse, in denen Gottes Wirken – als „Liebe“, „Gerechtigkeit“, „Heilung“, „Befreiung“ – erkennbar werden kann.
Die Beziehung zu Gott ist der einigende "rote" Faden.
Die Berufung von Judentum und Kirche besteht darin, diese „Große Erzählung“ vor Ort immer wieder praktisch und theoretisch freizulegen, mitzugestalten und voranzutreiben (und dabei mit dem eigenen Scheitern zu rechnen). In der Fragmentarität dieser Darstellung muss ich hier enden. Die praktisch-theologischen Fächer mit ihrer Option für konkrete Menschen und Ereignisse haben zu einem solchen Verständnis von „Großer Erzählung“ eine besondere Nähe. Sie orientieren sich immer zuerst an der konkreten Wirklichkeit und versuchen, mithilfe der theologischen Traditionen deren inneren Sinn zu erschließen. Dieses Vorgehen ist zutiefst bibeltheologisch. Warum geschieht dies pastoral so selten explizit? Liegt die Scheu, die alte „Große Erzählung“ der Schrift weiterzuschreiben, am derzeit zur Verfügung stehenden theologischen Vokabular, das der Gegenwart aufgepfropft werden soll? Tatsächlich würde der Versuch, die „Große Erzählung“ der biblischen Erzählungen verstärkt freizulegen, auch die theologische Sprache verändern. Sie müsste konkret, narrativ, dialogisch und relational werden. Freilich würde dies zu innertheologischen Konflikten führen, denn es hieße, sich so manchem systematisch-theologischem Sprachspiel zu verweigern, vielleicht auch dem postmodernen.
Die biblische Erinnerung an die lebendige Wirklichkeit Gottes in der Geschichte ist aus meiner Sicht eine „Große Erzählung“, die dabei hilft, sich vom Wahnsinn und der Last der Geschichte nicht entmutigen und erdrücken zu lassen und ihnen damit Recht zu geben. Sie steht im Dienst des Lebens und im Widerstand gegen alles, was dieses Leben beschädigen und zerstören kann.
LITERATUR
Bauman, Zygmunt, Stadt der Ängste. Stadt der Hoffnungen, Wien 2019.
Englert, Rudolf, Was wird aus Religion? Ostfildern 22019.
Kershaw, Ian, Achterbahn. Europa 1950 bis heute, München 32019. Pohl, Walter, Die Entstehung des europäischen Weges: Migration als Wiege Europas, in: Österreichische Forschungsgemeinschaft (Hg.), Migration, Bd 15, Wien/Köln/Weimar 2013, 27-44.
Polak, Regina, Migration: Heimkehr zu Gott und seiner Sozialordnung, in: Dies., Flucht, Migration, Religion, Ostfildern 2017, 107-126.
Polak, Regina, Befreiung. Die Pastoraltheologie braucht eine „Große Erzählung“, in: Salzburger Theologische Zeitschrift 1 (2016), 57-78.
Veerkamp, Ton, Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung, Berlin 2013.
Walpen, Bernhard, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont-Pèlerin Society, Hamburg 2014.