Loe raamatut: «Die Unwerten»
Volker Dützer
Die Unwerten
Roman
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind, sofern nicht im Nachwort erläutert,
rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
© 2020 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
info@gmeiner-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
2. Auflage 2020
Lektorat: Daniel Abt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (Abt. 3008/1, Nr. 1012)
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-6364-8
Widmung
Für meine Eltern, die diese dunkle Zeit
noch erlebt haben und deren Erinnerungen ich
als Kind so gerne gelauscht habe.
Zitat
Wolkenbilder sind sehr schön, doch kann sie nicht jeder sehen.
(John Elsas, 1851–1935)
Charaktere in der Reihenfolge ihres Auftritts
Historische Personen sind mit einem * gekennzeichnet.
Hannah Bloch: Halbjüdin
Reinhold Pilz: Mathematiklehrer, überzeugter Nationalsozialist
Heinrich Berthold: Schulleiter
Malisha Bloch: Hannahs Mutter
Joschi: Hannahs stummer Beschützer
Jakob Blumberg: jüdischer Arzt
Joachim Lubeck: Psychiater, SS-Untersturmführer
Werner Heyde *: Professor für Psychiatrie und Neurologie, Leiter der medizinischen Abteilung der »Euthanasie«-Zentrale und Obergutachter der Euthanasie-Aktion T4
Irmfried Eberl *: medizinischer Leiter der Tötungsanstalt Brandenburg ab Januar 1940
Viktor Brack *: Oberdienstleiter KdF (Kanzlei des Führers) Amt 2
Philipp Bouhler *: Chef der KdF, von Hitler mit der Organisation der Aktion T4 beauftragt
Werner Blankenburg *: Vertretung von Brack
Karl Brandt *: chirurgischer Begleitarzt von Adolf Hitler
Ernst Baumhard *: Oberarzt in der Tötungsanstalt Hadamar Dezember 1940 bis Juni 1941
*
Christian Wirth *: Büroleiter der Tötungsanstalt Brandenburg, ab 1941 Büroleiter in Hadamar
Fritz Brunner: Leiter des Anstaltswesens Hessen-Nassau und Landesrat
Heinz Borsig: Fritz Brunners Adjutant, Mädchen für alles
Claudius Brendel: katholischer Priester
Schwester Agnes: Oberin des Nonnenklosters Schwes-tern der barmherzigen Maria in Seck
Schwester Katharina: Nonne
Schwester Gertrud: Nonne
Arthur Leppin: Passfälscher, Kleinganove
(Mr. Smith)
Robert Krüger: Kriminalkommissar der Gestapo
Horst Schulze: sein Folterknecht
Elisabeth Brunner, geb. zu Hohensolms: Fritz Brunners Ehefrau
Ruth und Thea: ausgekochte Zwillinge
Obermayer
Helma: ihre Zimmergenossin
Hannelore Kowalski: Oberschwester der Zwischenanstalt Herborn
Hermann Pfannmüller *: Psychiater und T4-Gutachter
Wilhelm Traupel *: Landeshauptmann, Brunners Vorgesetzter
Jakob Sprenger *: Gauleiter von Hessen-Nassau
Friedrich Mennecke *: T4-Gutachterarzt
Dr. Paul Schiese *: Anstaltsdirektor in Herborn
Herbert Moor: Arzt in der Zwischenanstalt Herborn
Schwester Franziska: seine Sekretärin
Deubel
*
Christel: Dienstmagd im Haus Brunner
Leni: Köchin im Haus Brunner
Heinrich Richter (Hein das Wiesel): unehelicher Sohn von Franz Schickl und dessen Sekretärin Ilse Richter
*
Josef: polnischer Zwangsarbeiter
Rudolf Klee: Brendels Mentor, alter Pfarrer
Antonius Hilfrich *: Bischof von Limburg
Clemens August : Bischof von Münster
Graf von Galen *
Adolf Wahlmann *: Leitender Oberarzt der Anstalt Hadamar 1942–45
Irmgard Huber *: Oberschwester der Anstalt Hadamar
Hans Simonek: verwundeter Obergefreiter
Karl und Hildegard Simonek: seine Großeltern
Kalle: Ruths Mann fürs Grobe, ihr Joschi
Ernst Weber: Kiesgrubenbesitzer
Willi Wetzel: todkranker Tagelöhner
Gottfried Petzold: Kneipenwirt
Scott Young: Lieutenant der US Air Force
Rolf Heyrich: Bürgermeister, SS-Oberscharführer
Teil 1 Der zerbrochene Himmel
1
Das Notizbuch mit dem speckigen roten Einband landete klatschend auf dem Schreibpult. Die meisten Schüler versuchten, ihre Anspannung zu verbergen, aber es gelang den wenigsten. Hannah zuckte zusammen, als hätte Pilz sie geohrfeigt.
»Heil Hitler«, brüllte er.
Die Klasse brüllte zurück. Die Heranwachsenden machten sich einen Spaß daraus, die heisere Stimme des Mathematiklehrers zu übertönen. Pilz war ein untersetzter Zwerg, kaum größer als Hannah mit ihren vierzehn Jahren, und er war sich seiner mickrigen Erscheinung nur allzu bewusst. Darum bemühte er sich, das fehlende Volumen seiner Stimme auszugleichen, indem er auf den Zehenspitzen wippte und seine Tonlage erhöhte. Heraus kam ein Fiepen, das dem Quietschen nasser Kreide auf einer Schiefertafel ähnelte.
Pilz reckte das Kinn vor, presste die Lippen zusammen und ließ seine Blicke über die Reihen wandern. Manchmal griff er sich einen Schüler heraus, um ihn vor den anderen lächerlich zu machen, bevor der eigentliche Unterricht begann. Hannah hatte bisher nicht herausgefunden, ob er nach einem bestimmten Muster vorging oder nur einer Laune folgte.
»Setzen!«
Stuhlbeine scharrten, Stoff raschelte. Der dicke Koschka – er saß links von Hannah auf der Fensterseite – schwitzte in seiner stramm sitzenden HJ-Uniform. Das khakibraune Hemd war ihm aus dem Hosenbund gerutscht, ein rosiges Speckröllchen quoll hervor. Niemand wagte zu atmen, alle starrten auf das rote Notizbuch.
Pilz hatte die Angewohnheit, jeden Freitag Noten zu verteilen, und auch an diesem 22. Dezember 1939, dem letzten Schultag vor Weihnachten, machte er keine Ausnahme. Mit Vorliebe stellte er Aufgaben, die nicht zu lösen waren und nur dem Zweck dienten, den Prüfling bloßzustellen. Anschließend hagelte es Fünfen und Sechsen. Pilz legte eine zackige Kehrtwende hin, marschierte zu seinem Pult und schrieb etwas an die Tafel.
»Was bedeutet diese Zahl?«
Koschka schnellte hoch. »Die Einwohnerzahl von Frankfurt, Scharführer.«
»Richtig, Koschka.« Pilz’ Mundwinkel zuckte, ein zufriedenes Lächeln huschte über sein rotfleckiges Gesicht. »Den Scharführer lassen wir heute mal zu Hause.«
Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, stolzierte durch den Mittelgang und schoss eine seiner berüchtigten Fangfragen ab: »Wie viele Schüler würde es in den Frankfurter Gymnasien geben, wenn die arischen Eltern ihre Kinder in dem gleichen Umfang an eine höhere Schule geschickt hätten wie die Juden?«
Pilz blieb neben Hannahs Bank stehen. Die Schüler hielten die Luft an. Wen würde es treffen?
Manchmal gelang es, ihn mit seinem Steckenpferd abzulenken, der Schädellehre nach Franz Joseph Gall. Phrenologie, Hannah hatte sich sogar die lateinische Bezeichnung gemerkt. Der Umgang mit Zahlen fiel ihr leicht, und sie konnte sich gut Dinge merken. Trotzdem hoffte sie inständig, Pilz möge einen anderen Schüler aufrufen, denn sein Gebrüll störte ihre Konzentration. Er brachte sie völlig durcheinander, sodass sie kein sinnvolles Wort mehr herausbrachte.
»Hannah Bloch.« Seine Stimme kiekste und kippte über.
Die Klasse stieß kollektiv den Atem aus. Hannah fragte sich, ob Pilz den Windstoß der Erleichterung auf seiner Glatze spürte, die jedes Mal feuerrot anlief, wenn er sich aufregte.
»Bloch!« Ungeduldig klopfte er mit dem Fingerknöchel auf die Bank. »Ja, was nun? Was nun?«
Hannah stand auf, nahm ihr Schreibheft von der Bank und ging nach vorne. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich merkwürdig weich an und schwankte wie das Deck eines Schiffes. Ihr Blickfeld verengte sich, an den Rändern kroch die Dunkelheit heran. Meistens zog sie sich rasch wieder zurück, aber ein paarmal hatte sie die Besinnung verloren. Zuletzt war das vor drei Wochen im Laden ihrer Mutter passiert.
Danach war sie auf dem Sofa in dem winzigen Hinterzimmer erwacht und hatte sich an nichts erinnern können. Malisha hatte sich besorgt über sie gebeugt und ihr einen kühlen Lappen auf die heiße Stirn gedrückt. Hannah nannte sie beim Vornamen, obwohl Mutter behauptete, das gehöre sich nicht. Sie liebte den weichen Klang des seltenen hebräischen Namens. Die Leute hielten sie manchmal für Schwestern, weil Malisha viel jünger aussah, als sie war. Hannah empfand ihr Verhältnis eher als eine innige Zuneigung unter Geschwistern. Vielleicht rührte es daher, dass sie einen Weiberhaushalt führten, in dem ein Mann fehlte.
Obwohl Hannah unter Ohnmachtsanfällen litt, verzichtete Malisha darauf, mit ihr einen Arzt aufzusuchen, was ganz und gar ihrer fürsorglichen Art widersprach. Hannah kannte den Grund dafür nicht, war jedoch insgeheim froh darüber, denn sie fürchtete sich vor Ärzten und Krankenhäusern.
Hannah schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass es nicht wieder geschah, nicht jetzt vor allen Kindern, nicht vor Pilz. Sie war Halbjüdin und hatte Probleme genug.
Krampfhaft umklammerte sie ihr Schreibheft. Die Gesichter verschwammen vor ihren Augen, alle starrten sie gebannt an und warteten auf das Schauspiel, das Pilz inszenieren würde. Schwungvoll klappte er die Tafel auf, die donnernd gegen die Wand krachte. Er liebte es, laut und hektisch aufzutreten, um damit seine Wichtigkeit zu unterstreichen und jeden empfindsamen Schüler einzuschüchtern.
Ihre Blicke trafen sich, Hannah erschrak. Heute war der kleine Mann offensichtlich in der Stimmung, einen seiner Schützlinge restlos zu zerstören, und seine Wahl war auf sie gefallen.
Natürlich hatte er sie nicht zufällig ausgewählt; Pilz war ein glühender Nationalsozialist, der alles Jüdische hasste. Seit einem Jahr mussten jüdische Kinder die für sie eingerichteten Schulen besuchen, und davon gab es viel zu wenige. Dass Hannah, deren Mutter Jüdin war, als Mischling ersten Grades weiterhin an seinem Unterricht teilnehmen durfte, war Pilz unerträglich. Ihre schnelle Auffassungsgabe und die Fähigkeit, komplizierte Rechenaufgaben intuitiv zu lösen, ärgerten ihn maßlos. Offenbar hatte er sich den letzten Schultag des Jahres ausgesucht, um sie vor den Augen der Klasse zu demütigen. Nur ein Wunder konnte sie jetzt noch retten.
Der Arm des hoch aufgeschossenen Krahwinkel flog in die Luft.
»Was denn, was denn?«, rief Pilz, »was gibt es denn so Wichtiges?«
»Stimmt es, dass die Polizei den Mörder, der das arme deutsche Mädchen erwürgt hat, nur anhand seiner Schädelform überführen konnte?«
Hannah warf ihm einen dankbaren Blick zu. Karl war einer der wenigen Schüler, die sie nicht ignorierten oder quälten. Sein Vater war Sozialdemokrat, seit vier Wochen fehlte von ihm jede Spur. Niemand sprach darüber.
»Freilich, freilich«, antwortete Pilz. »Merkt euch, wie dienstbar die Wissenschaft sein kann. Der überzeugte Nationalsozialist ist bestrebt zu lernen und zu forschen. Minderwertige Rassen haben daran kein Interesse, sie sind den Ariern von Natur aus unterlegen.«
Karls Trick, Pilz abzulenken, schien zu funktionieren. Er eilte mit energischen Schritten zu einem Ständer neben der Tür und enthüllte eine Schautafel. Hannah kannte die Bilder darauf auswendig. Sie zeigten Zeichnungen und Fotografien verschiedener menschlicher Köpfe, jeweils von vorne und der Seite dargestellt – manche waren rund wie Äpfel, andere länglich oder übertrieben in die Breite gezogen. Ein Linienraster bedeckte jedes Gesicht.
Pilz erging sich in den Merkmalen der Schädelformen und deren Auswirkungen auf die Eigenschaften ihrer Besitzer. Auf das richtige Stichwort hin konnte es vorkommen, dass er eine Stunde lang über sein Lieblingsthema faselte.
Die tief stehende Dezembersonne warf den kugelrunden Schatten seines Kopfes an die Wand. Ob ihm eigentlich bewusst war, dass sein eigener Schädel wenig Ähnlichkeit mit der Idealform der nordischen Rasse hatte, von der er so schwärmte?
Karl nannte ihn ›Fliegen-Pilz‹. Pilz trug mit Vorliebe Fliegen – gepunktete, karierte oder gestreifte. Nur rot mussten sie sein.
Als hätte er das Ablenkungsmanöver durchschaut, beendete er ganz gegen seine Gewohnheit nach wenigen Minuten seinen Vortrag und rollte die Schautafel zusammen.
Hannahs Herz schlug schneller. Die Finsternis sickerte wie schwarze Tinte aus ihren Augenwinkeln und breitete sich aus, winzige Blitze zuckten darin. Durch einen Schleier sah sie Pilz zur Tafel schreiten, eine Hand auf dem Rücken, mit der anderen nahm er die Kreide auf.
»Die Mathematik«, dozierte er, »die Mathematik ist die edelste aller Wissenschaften, denn sie ist in ihrer Klarheit überlegen wie die Willenskraft des Ariers über die Charakterschwäche der niederen Rassen.«
Er schrieb eine neue Aufgabe an die Tafel. Seine Frage von vorhin schien er völlig vergessen zu haben. Oft sprang er von einem Gedanken zum nächsten, ohne dass die Klasse ihm folgen konnte.
Die quietschende Kreide verursachte stechende Schmerzen in Hannahs Schläfen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, Pilz’ unleserliche Schrift zu entziffern.
Er tippte auf die Buchstaben und las laut vor: »Ein Irrenhaus kostet zwei Millionen Reichsmark. Wie viele deutsche Familien könnten von dem Geld eine Wohnung bekommen?«
Koschka kicherte.
»Ruhe!«, brüllte Pilz.
Hannah schwankte, alles drehte sich um sie. Die schrille Stimme bohrte sich wie eine Nadel in ihren Kopf. Jedes Scharren auf dem Dielenboden, die Ausdünstungen der dreißig Schüler in dem engen Klassenzimmer, das grelle Sonnenlicht, das durch die Fenster fiel, all das drang ungefiltert und überirdisch klar in ihren Verstand. Die Dunkelheit kam. Es gab nichts, was sie tun konnte, um sie aufzuhalten.
»Nun, was denn, was denn? Zu schwierig für eine Jüdin?« Pilz schlenderte zu Brahmeyers Platz, dessen Vater SS-Standartenführer war, und beugte sich verschwörerisch zu ihm hinab. »Entschuldigung, Halbjüdin«, sagte er leise.
Brahmeyer grinste und präsentierte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen, die sein Gebiss seit der letzten Rauferei zierte.
Hannah spürte das Unausweichliche kommen. Das aufziehende Gewitter in ihrem Kopf schränkte ihr Denken ein, bis sie die Worte nicht mehr kontrollieren konnte, die über ihre Lippen wollten. Worte, die sich nicht mehr zurückhalten ließen.
Pilz klatschte mit gespielter Besorgnis in die Hände. »Nun, was denn? Was soll denn nur aus dir werden, Hannah?«
»Hannah will fliegen«, krähte die blonde Ilsa.
»Ja, fliegen. Hannah will fliegen«, riefen alle im Chor.
Pilz wandte sich zu ihr um, seine Glatze glühte tiefrot im Sonnenlicht, die fleckige Haut verlieh ihm tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Fliegenpilz.
»Fliegen?« Er blickte sie verblüfft und mit unverhohlener Neugier an.
Koschka sprang auf. »Hannah sagt, ihr Vater ist ein Flieger.«
»Soso. Ja, was denn? Wo doch jeder weiß, dass die Juden lügen wie gedruckt. Sie hat keinen Vater, wisst ihr das denn nicht? Er ist davongelaufen, weil er sich schämt, dass er ein Kind mit einer Jüdin hat.«
Die Klasse lachte schallend.
Hannahs Lippen zitterten, ihre Kehle war so staubtrocken, dass sie nicht antworten konnte. Es hätte ohnehin keinen Sinn gemacht und ihre Qualen nur verlängert.
»Nicht wahr, Sarah-Hannah?«
Pilz wandte sich an die Klasse. »Und wie nennt man ein solches Kind? Na, was denn, was denn?«
»Einen Bastard, Herr Lehrer!«, rief Koschka.
Hannah blinzelte in den fahlgelben Ball, der vor den Fenstern am Himmel stand. Sie hatte das Gefühl, mit ihm zu schweben. Ein winziger Fleck in der Form eines heranfliegenden Flugzeugs verdunkelte ein Stück der Sonne. Der Propeller rotierte so schnell, dass er wie eine flirrende Scheibe auf sie zuraste.
»Wie lautet also die korrekte Lösung der Aufgabe? Wie viele arische Familien könnten eine Wohnung besitzen?«
Pilz’ Fistelstimme drang von weit her an Hannahs Ohr.
»Es kommt auf die Anzahl der Zellen in dem Irrenhaus an«, sagte sie. »Und wie viele Pilze darin Platz haben.«
Das Schreibheft entglitt ihren Fingern, dann war da plötzlich nur noch Dunkelheit.
*
Hannah erwachte auf dem Ohrensofa im Büro des Rektors. Sie öffnete die Augen und sah den hageren Mann mit dem schütteren Haar und den buschigen grauen Augenbrauen an seinem Schreibtisch sitzen. Er hielt den Telefonhörer in der Hand und steckte den Zeigefinger in die Wählscheibe.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
Berthold sah auf. Als er bemerkte, dass sie wach war, legte er den Hörer auf die Gabel.
»Du bist uns umgekippt, mein Kind. Hast du heute Morgen nichts gegessen?«
Hannah versuchte, sich aufzurichten. Ihr war etwas schwindelig, aber die dunklen Flecken am Rand ihrer Wahrnehmung waren verschwunden.
»Doch, das habe ich. Es geht mir wieder gut.«
Berthold betrachtete sie sorgenvoll. Im Gegensatz zu Pilz mochte sie ihn. Er ging auf die siebzig zu und war bereits pensioniert. Weil viele Lehrkräfte von der Wehrmacht eingezogen worden waren, hatte er seinen Ruhestand unterbrochen. Berthold hatte ein sanftes Wesen und konnte komplizierte Zusammenhänge anschaulich erklären. Koschka und seine Kumpane aus der Hitlerjugend trieben ihren Spott mit ihm, den er geduldig ertrug. Berthold war als Kind an Polio erkrankt. Er hatte überlebt, behielt jedoch ein verkürztes Bein zurück, das ihn vor dem Militärdienst bewahrt hatte. Wenn er über die Schulflure hinkte, ahmten die Jungen ihn auf grausame Weise nach und nannten ihn einen Krüppel.
»Sie brauchen keinen Doktor zu rufen«, erklärte Hannah. »Ich glaube, es ist alles in Ordnung.«
»Passiert dir das öfter?«
Sie setzte sich auf. »Manchmal. Wie bin ich hierhergekommen?«
»Frau Busch hat dich gebracht.«
Sie war Bertholds Sekretärin.
»Muss ich zurück ins Klassenzimmer?«
Der Rektor schüttelte den Kopf. »Nein, heute nicht.«
Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern. Es war etwas geschehen, kurz bevor sie ohnmächtig geworden war. Sie hatte etwas zu Pilz gesagt, aber die Worte wollten ihr nicht wieder einfallen.
Der alte Rektor nahm ein Heft vom Schreibtisch und setzte sich neben Hannah auf das Sofa. Er begann, darin zu blättern. Es war das Schreibheft, das ihr im Klassenzimmer aus den Händen gerutscht war.
»Was du zu Herrn Pilz gesagt hast, war dumm«, sagte er. »Ich hätte dich für klüger gehalten.«
»Ich kann nichts dafür. Manchmal dreht sich alles, und ich sage Sachen, die ich gar nicht sagen will. Ich weiß, dass sie wahr sind, und kann nicht verhindern, dass sie rauswollen.«
Wenn sie Berthold begegnete, hatte er normalerweise einen Scherz auf den Lippen, wenigstens ein Lächeln. Heute war er ungewöhnlich ernst.
»Die Sache mit Pilz kann ich geradebiegen, aber das hier nicht«, sagte er kopfschüttelnd. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«
Sie warf einen Blick auf die Zeichnung und wandte sich ab. In manchen Augenblicken verselbstständigte sich der Stift zwischen ihren Fingern und erschuf Karikaturen, die die Welt auf eine simple und entlarvende Weise zeigten: Lächerlich und grotesk verdreht. Malisha wusste um dieses Talent und hatte ihr eingeschärft, niemandem davon zu erzählen. Oft war ihr während des Kritzelns und Malens, als tauschten Verstand und Stift die Plätze. Was herauskam, war nicht aufzuhalten.
Die Zeichnung in ihrem Heft zeigte einen Ziegenbock, der mit weit aufgerissenem Maul eine Schafherde in seinen Bann zog – ein Ziegenbock mit einem Klumpfuß und dem vor Erregung verzerrten Gesicht von Reichsminister Goebbels.
Hannah wusste, dass sie das Bild gemalt hatte, konnte sich aber nicht mehr erinnern, wann das gewesen war. Sie hatte es einfach vergessen. Dass sie alltägliche Dinge vergaß und sich an andere, weit zurück liegende Begebenheiten mit einer unwirklichen Klarheit entsann, jagte ihr manchmal Angst ein.
»Mach so etwas nie wieder«, sagte Berthold ernst. »Wir leben in …«, er machte eine Pause und suchte nach den richtigen Worten, »… in gefährlichen Zeiten.«
»Was geschieht jetzt?«
»Herr Pilz will die Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen. Er wird sich an den zuständige Amtswalter wenden.«
»Was ist ein Amtswalter?«
»Ein Politischer Leiter, eine Art Wächter der Partei. Er passt auf, dass du auf angemessene Weise erzogen wirst und die richtige Gesinnung entwickelst.« Berthold nahm seine randlose Brille ab, zog ein Tuch aus der Hosentasche und putzte sie umständlich. »Wir wollen überlegen, wie wir das wieder hinkriegen können«, fuhr er fort. »Du wirst … mmh-mmh … sagen, dass du dich nicht wohlgefühlt hast heute Morgen. Und dass du zur Toilette musstest. Du bist zurückgekommen und hast die Zeichnung in deinem Heft entdeckt. Sie stammt nicht von dir. Du hast niemandem davon erzählt, weil du befürchtest, man könne sie dir zur Last legen.«
»Aber das stimmt nicht.«
Berthold setzte seine Brille auf. Die Gläser funkelten im Licht der Schreibtischlampe.
»Es ist wichtig, dass du dabei bleibst, was ich dir gesagt habe. Deine Mutter hat es schwer genug. Du willst doch nicht, dass sie Scherereien bekommt, oder?«
Hannah senkte den Kopf. »Nein.«
»Soll ich wirklich keinen Arzt rufen?«
»Nein. Es geht mir gut. Ich kann allein nach Hause gehen. Es ist nicht weit.«
Berthold nickte. Hannah war entlassen. Sie ging zur Tür, wo sie die sanfte Stimme des alten Mannes einholte.
»Wir haben ein Geheimnis miteinander.«
Sie sah ihn fragend an.
»Was wir hier besprochen haben, bleibt unter uns, hast du das verstanden?«
»Ja.«
»Denk daran, du bist ein braves Mädchen. Du würdest so etwas niemals zeichnen, nicht wahr?«
»Nein, das würde ich nicht.«
Hannah verließ das Büro des Rektors. Der Unterricht war heute, am letzten Schultag des alten Jahres, früher als gewöhnlich zu Ende gegangen. Die Türen der Klassenzimmer standen offen, Hannahs Schritte hallten hohl in den leeren Korridoren.
Ohne einer Menschenseele zu begegnen, durchquerte sie die Eingangshalle und trat ins Freie. Dickbäuchige, dunkelgraue Regenwolken hatten sich vor die Sonne geschoben, doch sogar das trübe Dezemberzwielicht schmerzte in ihren Augen. Sie blieb einen Moment stehen und kniff die Lider zusammen, um sich an das Tageslicht zu gewöhnen.
Ein kaltes Prickeln kroch ihren Rücken herauf und griff nach ihrer Kehle. In dem düsteren Torweg auf der anderen Straßenseite verbarg sich jemand. Sie kannte den Durchgang, durch den die Metzger im Morgengrauen die Schweine in den Schlachthof trieben. Sie wartete eine Minute oder zwei und glaubte beinahe, sich getäuscht zu haben. Die flirrenden Schatten, die an den Rändern ihres Bewusstseins lauerten, spielten ihr häufig Streiche. Jetzt nahm sie deutlich eine Bewegung wahr. Nein, sie hatte sich nicht geirrt! Rasch zog sie sich in den Schutz der Steinsäulen zurück, die den Eingang zum Schulgebäude flankierten. Nach wenigen Augenblicken tauchte das feiste Gesicht Koschkas auf. Er war nicht allein. Maria und die blonde Ilsa, das schlimmste Schandmaul der Schule, lauerten in den Schatten der Einfahrt. Es würde noch mehr Ärger geben.