Anna Göldi - geliebt, verteufelt, enthauptet

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Anna Göldi - geliebt, verteufelt, enthauptet
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Über dieses Buch

Anna Göldi lebt. Auch wenn sie durch das Schwert ­enthauptet wurde, lebt sie weiter als Symbol für Opfer von Willkür und Machtmissbrauch – und als eine der bekanntesten Frauen der Schweizer Geschichte. Übelste Beschimpfungen begleiteten 1782 ihre Hinrichtung: ­verruchte Dirne, Vergifterin, Mörderin, Hexe, Werkzeug Satans. Ihr «Verbrechen»: Sie hatte «verbotenen fleisch­lichen Um­gang» mit Männern. Und sie hatte angeblich ­ein Kind durch teuflische Zauberkraft krank gemacht.

Walter Hauser, Jurist und Journalist, schöpft aus seinen rund zwanzig Jahre langen Recherchen über den letzten aktenkundigen Hexenprozess in Europa, der auch einer der ersten Fälle von Whistleblowing auf dem ­Kontinent ist. Er ordnet die Hexen­prozesse als behördlich organisierte Femizide ein – Justizmorde, denen vor allem Frauen zum Opfer fielen.

Noch nie war staatliche Willkür in einem Hexen­prozess so minutiös dokumentiert. Das verleiht dem Fall von Anna Göldi eine Brisanz bis zum ­heu­­­tigen Tag. Durch die Empörung, die er auslöste, setzte er nicht nur dem dreihundertjährigen ­­Hexen- und ­Teufelswahn im christlichen Europa ein Ende, sondern ­bereitete den Weg für eine menschenwürdigere, von dämonischen ­Einflüssen befreite Strafjustiz.

«Anna Göldi ist die erste offiziell rehabilitierte Hexe – davon handelt das Buch von Walter Hauser.» EMMA

«Auch wenn Zweifel an der Hexengeschichte angebracht wären, stellt sich die Frage, warum Anna Göldi nach einem irregulären Prozess mit knapper Mehrheit durch die evangelische Justiz von Glarus ermordet wurde. Eine überzeugende Erklärung liefert Walter Hauser.» NZZ Geschichte


Foto Ursi Schnyder-Mahr

Dr. iur. Walter Hauser, geboren 1957 und aufge­wachsen im Kanton Glarus. Der Ex-Kantonsrichter war auch ­journalistisch tätig, u. a. als Redaktor bei der Sonntagszeitung sowie beim SonntagsBlick. Er ist Gründer und Präsident der Anna-Göldi-Stiftung, die sich gegen Justiz- und Behördenwillkür engagiert und 2017 das Anna Göldi Mu­­seum in Glarus eröffnete.

Im Limmat Verlag sind mehrere Sachbücher des Autors lie­­ferbar: Hoffen auf Aufklärung: Ungelöste Morde in der Schweiz zwischen Verfolgung und Verjährung (2018), Stadt in Flammen: Der Brand von Glarus im Jahre 1861 (2011) und Bitterkeit und Tränen: Szenen der Auswanderung aus dem Tal der Linth und die Ausschaffung des heimatlosen ­Samuel Fässler nach Amerika (1995).

Walter Hauser

Anna Göldi – geliebt, verteufelt, enthauptet

Der letzte Hexen­prozess und die Entdämonisierung der Frau

Limmat Verlag

Zürich

Vorwort

Da die zweite Ausgabe meines Anna-Göldi-Buches im Jahr 2020 ausverkauft war, wurde der Wunsch an mich herangetragen, es zu überarbeiten und grünes Licht für einen Neudruck zu geben. Ich machte mich an die Aufgabe, realisierte indes bald, dass ich einen entscheidenden Schritt weiter gehen wollte. Ich gab mir deshalb ein Jahr Zeit, um ein ganz neues Anna-Göldi-Buch zu schreiben. Heute liegt es vor. Es basiert zwar auf der «alten» Ausgabe, unterscheidet sich aber deutlich davon durch neue Inhalte, eine andere Gliederung und eine andere Aufmachung.

Die erste Ausgabe meines Sachbuches stammt aus dem Jahr 2007 und trägt den Titel Der Justizmord an Anna Göldi. Diese Ausgabe wurde sechs Jahre später aktualisiert und erweitert durch die Rehabilitierung von Anna Göldi, die 2008 vom Glarner Kantonsparlament beschlossen worden war. Darum erschien das überarbeitete Buch im Jahr 2013 unter dem Titel Anna Göldi – Hinrichtung und Rehabilitierung.

Seit der Erstausgabe vor bald 15 Jahren konnte ich neue Er­­kenntnisse gewinnen. Dazu trugen auch die unzäh­ligen spannenden Begegnungen und Diskussionen im 2017 eröff­neten Anna Göldi Museum in Glarus bei. Weil ich den Fall heute mit anderen Augen sehe als im Jahr 2007, habe ich den gesamten Text umgeschrieben, setze andere thematische Schwerpunkte und ziehe daraus neue Schlussfolgerungen.

Im vorliegenden Anna-Göldi-Buch spielt der damals be­­rühm­­te Churer Priester und Teufelsaustreiber Johann Joseph Gassner eine wichtige Rolle. Für ihn waren unfassbare Krank­heitsbilder, wie sie etwa beim angeblich nadelspeien­den Kind beschrieben wurden, typische Phänomene von Teufelsbe­sessenheit. Die von ihm entfachte Satans-Hysterie befeuerte die drei mutmasslich letzten Hexenprozesse: 1775 im süddeutschen Kempten, 1779 im bündnerischen Tinizong und 1782 in Glarus. Zwischen diesen drei Prozessen gibt es deutliche Unterschiede, aber auch interessante Gemeinsamkeiten.

Mehr als nur ein Nebenaspekt: Der Anna-Göldi-Hexenprozess wurde zu einem der allerersten grossen Whistleblowing-Fälle in Europa. Die öffentliche Debatte, welche die Publikation geheimer Prozessdokumente entfachte, hatte eine heilsame Wirkung. Sie ebnete den Weg zu einer vom Dä­­­monenglauben befreiten Strafjustiz und besiegelte das Ende der Hexenverfolgung, die in erster Linie eine Frauenver­fol­gung war. Was heute fast schon vergessen ist: Während Jahrhunderten wurden Frauen im christlichen Europa als «Maleficae» kriminalisiert und dämonisiert, als Übeltäterinnen und natürliche Verbündete des Teufels.

Der Fall Anna Göldi ist historisch auch dank der Aktenlage von herausragender Bedeutung. Die Dokumente sind einzigartig, weil nie zuvor oder danach behördliche Willkür bei einem Hexenprozess derart minutiös protokolliert wurde und erhalten blieb – Schwarz auf Weiss ein amtliches Zeugnis für die damals herrschende Arroganz der Macht.

Als Jurist und promovierter Prozessrechtler möchte ich die zeitgeschichtlichen und rechtlichen Zusammenhänge des Göldi-Prozesses aufzeigen. Und als Journalist und Buchautor ist es mir ein Anliegen, auch die dramatische Schicksalsge­schichte von Anna Göldi zu vermitteln. Entsprechend habe ich die Erzählstruktur des Buches und eine chronologische Abfolge der Kapitel gewählt.

Im ersten Teil widme ich mich dem Leben von Anna Göldi sowie den Hintergründen der letzten Hexenprozesse und bringe sie in Zusammenhang mit dem von Johann Joseph Gassner neu entfachten Teufelsglauben. Im Mittelteil behandle ich die spannenden Aspekte der Enthüllung geheimer Akten zum Göldi-Fall, namentlich durch Whistleblower Johann Melchior Kubli, bis hin zum Originaltagebuch des damals aktiven Journalisten Heinrich Ludwig Lehmann, das 2020 nach Glarus zurückgekommen ist. Im dritten Teil des Buches beleuchte ich die epochalen Folgen des Göldi-Prozesses, der in einer Zeit des Aufbruchs in die Moderne stattfand. Im abschliessenden Kapitel über die Rehabilitierung von Anna Göldi spanne ich einen Bogen zur heutigen Zeit.

Ich bilde mir nicht ein, das Mysterium um einen der berühmtesten Prozesse der schweizerischen Justizgeschichte restlos aufklären zu können. Das Buch soll im Gegenteil zu weiteren Forschungen anspornen. Der Justizfall Anna Göldi ist eine Geschichte im Wandel. Sie ist nie zu Ende geschrie­ben, gibt neue Rätsel auf und bringt immer wieder Überraschendes ans Licht. Eine Geschichte, die bewegt, aufrüttelt und polari­siert – bis heute.

Einleitung – Das Schicksal von Anna Göldi

Anna Göldi – 1782 öffentlich hingerichtet und 2008 offiziell rehabilitiert – ist heute eine der bekanntesten Frauen der Schweizer Geschichte. Ihr Name hat grosse Strahlkraft, die Magd wurde weit über die Landesgrenzen hinaus zum Symbol für die Opfer von Willkür und Machtmissbrauch.

Das war nicht immer so: Kaum eine andere Figur der Schweizer Geschichte wurde so übel beschimpft und belei­digt wie Anna Göldi – als verruchte Dirne, Vergifterin, mörderische Person, letzte Hexe, Schlange und Werkzeug des Teufels.

Doch wer war sie wirklich? Wer war die Frau, die Steckna­deln in den Magen von Annamiggeli Tschudi gezaubert und das Kind danach mit «übernatürlicher Kraft» geheilt haben soll – und die 1782 vom evangelischen Rat in Glarus zum Tod verurteilt wurde?

Der im Februar 1782 in der Zürcher Zeitung publizierte polizeiliche Steckbrief gibt knapp Auskunft über das Ausse­hen der Frau aus Sennwald: gross, bleiches Gesicht, schwarze Haare.

Der deutsche Journalist Heinrich Ludwig Lehmann, der damals in Glarus recherchierte, schilderte die 48-Jährige als «verwelkende Schönheit», «wohl gewachsen» und «ziemlich gebildet».

Ihr Lebenslauf bezeugt: Anna Göldi muss eine selbstbe­wusste und starke Frau gewesen sein. Geliebt und gehasst, immer wieder auf der Flucht und in Angst vor dem Zugriff der Straf- und Sittenbehörden. Ihre letzte Flucht wurde 1781 ausgelöst durch Gerüchte um eine aussereheliche Beziehung mit ihrem Dienstherrn.

Doch obwohl Anna Göldi als «fremde Person» aus der zürcherischen Herrschaft Sax völlig auf sich allein gestellt war, hätte sie um ein Haar das Unmögliche geschafft. Fast die Hälf­­te der über sechzig Glarner Richter stimmte für ihren Freispruch.

Nach der Enthauptung von Anna Göldi im Juni 1782 überschlugen sich die Ereignisse. Deutsche Journalisten machten den Hexenprozess zum medialen Ereignis und äusserten massive Kritik daran, dass eine Frau wegen zauberischer Handlungen enthauptet worden war.

Bald darauf und für fast hundert Jahre war die Magd aus Sennwald jedoch kein Thema mehr. Das dramatische Schicksal einer einfachen Frau passte nicht ins Bild einer Schweiz, die lieber eidgenössisches Heldentum zelebrierte. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückte der letzte Hexenprozess wieder ins öffentliche Blickfeld – Anna Göldi wurde als historische Frauenfigur entdeckt.

Heute wissen wir: Der Anna-Göldi-Prozess besiegelte nicht nur das Ende der neuzeitlichen Hexenverfolgung im christlichen Europa, dank Whistleblower Johann Melchior Kubli wurde er zum Wegbereiter für eine von Hexen und Dämonen befreite Strafjustiz und förderte den Wandel zum schweizerischen Rechtsstaat des 19. Jahrhunderts.

 

Für Anna Göldi war es ein Martyrium. Beklemmend daran: Was ihr in einem Teufelskreis von Liebe, Verleumdung und Hass widerfuhr, ist rund zweihundertvierzig Jahre nach ihrem Tod noch immer brandaktuell.

Teil 1 – Der Hexenwahn und die Abgründe des Göldi-Dramas

Kapitel 1 – Hass und Gewalt zur ­Rettung des Christentums

Religiös begründete Gewalt gegen Frauen bringen wir häufig mit dem finsteren Aberglauben im Mittelalter oder mit islamistisch diktierten Ländern in Verbindung. Tatsache ist aber: Die Verfolgung, Folterung und Tötung von «Hexen» war auch während der Neuzeit schreckliche Realität – mitten im christlichen Europa.

Dreihundert Jahre lang tobte der Hexenwahn sowohl in katholischen als auch in protestantischen Gebieten und forderte zehntausende Opfer. Unschuldige Menschen wurden von zumeist weltlichen Gerichten mit dem Segen der Kirche gefoltert und mit dem Feuertod bestraft. Es war eine der grössten von Menschen verursachten Katastrophen im christlichen Abendland.

Zwar hatten Hexenprozesse schon früher stattgefunden, der Beginn der systematischen Verfolgung lässt sich aber auf die Zeit nach 1486 datieren, als der sogenannte Hexenhammer publiziert wurde, ein besonders fatales Machwerk. Das Buch mit dem eigentlichen Titel Malleus maleficarum war die ideologische Legitimation für den Hexenwahn, es wurde vom Elsässer Domi­ni­kanerpater Heinrich Kramer verfasst. Der Mann, der sich Henricus Institoris nannte, wurde um 1430 geboren und starb 1505. Seinem Werk prominent vorange­stellt war die Hexenbulle von Papst Innozenz VIII., der Kramer zum Inquisitor für Oberdeutschland ernannt hatte. Zu dieser Region wurde damals auch die heutige Deutschschweiz gezählt.

Bis jetzt ist der Hexenhammer eines der frauenfeindlichs­ten und blutrünstigsten Werke der Weltliteratur. Weil das Buch in lateinischer Sprache verfasst war, konnte es in der ganzen westlichen Welt gelesen werden und fand enorme Verbreitung. Das Werk – eine eigentliche «Bibel der Hexenjäger» – erschien bis zum 17. Jahrhundert in fast dreissig Auflagen und belegt einen Spitzenplatz in der Liste der ewigen Bestseller.

Der Dominikanerpater Heinrich Kramer schuf mit seinem Hexendogma allerdings keine völlig neue Lehre. Er berief sich auf christliche Vorbilder wie Augustinus (354–430) oder Thomas von Aquin (1225–1274) und baute seinen Frauenhass auch auf biblische Geschichten auf – zum Beispiel jene von Eva, die im Paradies Adam zum Sündenfall verführte.

Neu am Hexenhammer waren der explizite Aufruf zur Gewalt und die Fokussierung auf das weibliche Geschlecht. Wie schon der Buchtitel wörtlich verdeutlicht, hatte Kramer nicht etwa Männer, «malefici», im Visier, sondern «maleficae», also eindeutig Frauen, die im Hexenhammer als Übeltäterinnen, Verführerinnen und Unholdinnen gebrandmarkt wurden. Laut Kramer waren Frauen minderwertige Wesen; sie hätten wenig Verstand und seien deshalb empfänglicher für die Verlockungen des Teufels. Sein Buch erklärte Frauen pauschal zum «Übel der Natur», zur «begehrenswerten Katastrophe» und warf ihnen Defizite im Glauben vor. Die Minderwertigkeit der Frau be­­gründete er mit einer eigenwilligen Ableitung des lateinischen Wortes «femina» aus «fides» (Glaube) und «minus» (weniger).

Nach Kramer waren Hexen keine Fantasieprodukte dunklen Aberglaubens, sondern existierten real. Sie konnten, so seine Theorie, sich in Tiere verwandeln, auf Besen durch die Lüfte fliegen und vor allem – das war sein Angelpunkt – mithilfe Satans Schaden anrichten. Sie waren schuld an allem Bösen auf der Welt, an Hungersnöten, Naturkatastrophen und Seuchen. Kramer geisselte im Buch angebliche Vorboten einer gigantischen Verschwörung gegen Gott und die christliche Menschheit. Und er lieferte eine praktische Anleitung, wie Hexen unschädlich gemacht und ausgerottet werden sollten.

Höhepunkt des Hexenwahns in Mitteleuropa bildete der Dreissigjährige Krieg (1618–1648), als Religionskriege, Un­wet­ter­katastrophen und Hungersnöte Europa erschüt­terten. In dieser Schreckenszeit breitete sich der Hexenwahn wie eine Pandemie aus. Die Hexenverfolgung war längst nicht mehr nur eine Sache der Katholiken, auch in refor­mierten Gegenden gingen die Behörden unerbittlich gegen Magie und Zauberei vor. Die Reformatoren Martin Luther (1483–1546) und Johannes Calvin (1509–1564) waren berüchtigt dafür, dass sie Hexenprozesse einsetzten, um die Menschen zum «rechten Glauben» zu bekehren. Es war eine Eskalation der Gewalt, hervorgerufen von einer Mischung aus Volksaberglauben und religiösem Fanatismus.

Dem neuzeitlichen Hexenwahn in Europa fielen schät­zungs­weise siebzigtauschend Menschen zum Opfer. Die Zahl wurde in den vergangenen Jahren relativiert und nach unten korrigiert, bringt aber ohnehin das wahre Ausmass der Tragödie nicht zum Ausdruck. Denn die Hexenprozesse rissen eine Vielzahl von Menschen ins Elend, die in keiner Statistik und in keinem Protokoll aufgeführt sind: Freunde und Verwandte der Angeschuldigten, die ebenfalls endlose Verhö­re über sich ergehen lassen und Todesängste ausstehen mussten. So gesehen waren weit mehr Menschen als offiziell ange­geben betroffen.

Nach dem Denunziationsprinzip konnte jede Person jede andere beschuldigen, im Bund mit dem Teufel zu stehen. Ein einzelner Fall konnte einen Rattenschwanz weiterer Klagen nach sich ziehen. In schwierigen Zeiten wurden schnell Sün­denböcke ausfindig gemacht und dem weltlichen Richter aus­ge­liefert. Dieser hatte das Verfahren von Amtes wegen einzu­leiten und mit aller Schärfe durchzugreifen.

Da Hexerei als ein besonders schlimmes Delikt galt, als «crimen magiae», war das Verfahren besonders grausam. Wer leugnete, wurde so lange gefoltert, bis ein Geständnis vorlag. Es ist naheliegend, dass auf diese Weise jedes gewünschte Be­­­weisergebnis zustande kam. Schuldige hatten gegen die Gesetze Gottes verstossen und demzufolge nur eines verdient: den Tod auf dem Scheiterhaufen.

Obschon auch Kinder und Männer Opfer der Hexenverfol­gung wurden, waren davon zu etwa achtzig Prozent Frauen betroffen. Deshalb wurde im Zusammenhang mit der europäischen Hexenverfolgung auch schon der Begriff «Frauen-Holocaust» verwendet. Das ist jedoch abwegig und gefährlich: Vergleiche mit dem Völkermord an den Juden bergen die Gefahr, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegenein­ander ausgespielt und kleingeredet werden.

Zuzustimmen ist hingegen der modernen Genderforschung, die von einem gezielt gegen das weibliche Geschlecht gerich­teten Massenmord spricht, von einem Femizid. Das bestätigen auch seriös geschätzte Opferzahlen. Die christlich abendlän­dische Hexenverfolgung war in erster Linie eine Frauenverfolgung.

Zwar war die Hexenverfolgung der Neuzeit umstritten und stiess auch in kirchlichen Kreisen auf Widerstand. Bedeu­tende Persönlichkeiten meldeten sich kritisch zu Wort, so etwa der protestantische Theologe Anton Praetorius (1560 bis 1613), der Jesuitenpater Friedrich Spee (1591–1635), Verfasser der Cautio criminalis, und der Jurist Christian Thomasius (1655–1728). Diese ächteten in ihren Schriften die auf Folter und Geständniszwang beruhenden Gerichtsverfahren, die tausende un­­schuldi­ge Menschen, vor allem Frauen, in den Tod trieben.

Doch Spee, Praetorius, Thomasius und weitere hatten einen schweren Stand. Sie galten als Abtrünnige vom wahren Christenglauben. Ihre Gegner warfen ihnen vor, das Christentum im Kampf gegen das Böse zu schwächen und die «Partei Satans» zu stärken. Eine breite Phalanx von Anhängern dieser Glaubensrichtung hielt an der Botschaft des Hexenham­mers fest und erklärte den Kampf, ja den Krieg gegen den Teufel zum Kardinalauftrag der christlichen Menschheit, um diese vor dem Untergang zu retten.

Der Hexenhammer, der Kriminalkodex gegen die Frauen, war das berühmteste, aber nur eines von zahlreichen Werken der Neuzeit, die den Hexenwahn anheizten. Grossen Einfluss hatten die Juristen Jean Bodin (1530–1596) und Benedikt Carpzov (1595–1666), die beide als Hexentheoretiker und Teufelsbanner auf sich aufmerksam machten. Der Leipziger Jurist Carpzov verfasste die Practica nova, auch «protestantischer Hexenhammer» genannt. Der französische Staatstheo­retiker Jean Bodin machte gezielt Stimmung gegen das weibliche Geschlecht und rief in seinem Werk De la Démonomanie des Sorciers zum bedingungslosen Kampf gegen Hexen auf. Beide propagierten ein rigides Strafprozessrecht, ausgehend von einem machtvollen Herrschaftsstaat. Da Hexerei und Teu­felspakt eine Realität seien, müssten sie als Sonderverbrechen behandelt und mit ausserordentlichen Mitteln be­­kämpft werden. Konkret hiess das: Der Staat hat das Recht und die Pflicht, Hexen im höheren Interesse, zum Schutz der Allgemeinheit, zu foltern und zu töten.

Keineswegs so ausgleichend und mildernd, wie oft dar­­gestellt, wirkte sich die 1532 erlassene, nach Kaiser Karl V. benannte Constitutio Criminalis Carolina (CCC) aus. Zwar trieb das Gesetzeswerk die Rechtsvereinheitlichung im deutschen Reich voran, das in Hunderte von Territorien mit ebenso vielen Rechtsordnungen aufgesplittert war. Zudem machte die CCC – anders als der Hexenhammer – zwischen den Geschlechtern keinen Unterschied und stellte nicht die Hexerei unter Strafe, sondern die «schadensstiftende Zauberei». Unheilvoll wirkte es sich jedoch aus, dass für die Ermittlung der Wahrheit das In­quisitionsverfahren propagiert wurde, was sadistischen Methoden Tür und Tor öffnete. Die Prozessma­ximen waren Denunzi­ation, Folter, Geheimjustiz, Geständniszwang – auf Hexen­­prozesse wie zuge­schnit­ten.

Auch wenn die eidgenössischen Orte Wert auf eigenstän­dige Rechtssetzung legten, beeinflussten die Werke von Heinrich Kramer, Jean Bodin, Benedikt Carpzov die Rechtslandschaft unseres Landes. Der Verfasser des Hexenhammers war als päpstlicher Inquisitor von Oberdeutschland vor allem im Raum Bodensee, Konstanz und Basel aktiv und brüstete sich am Ende seines Lebens damit, über zweihundert Hexenpro­zesse erfolgreich zum Abschluss gebracht zu haben.

Etwa zehn Prozent der europäischen Hexenprozesse fand hierzulande statt, ein beachtlicher Teil. Etwa sechs- bis sie­bentausend Menschen dürften auf dem Territorium der heutigen Schweiz der Hexenjustiz zum Opfer gefallen sein. Das Wallis, Freiburg, die Waadt sowie die Innerschweiz und das Bündnerland waren Epizentren der Hexenverfolgung.

Die Hysterie fand erst ein Ende, als im Zeitalter der Aufklärung die menschliche Vernunft den Glauben an Hexen und Teufel verdrängte. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts gab es in Europa praktisch keine Hexenprozesse mehr. Doch befeuert durch den Churer Priester und Exorzisten Johann Joseph Gassner flackerte in den Siebzigerjahren des 18. Jahrhunderts der Glaube an den Teufel nochmals auf und brachte, dreihundert Jahre nach der Publikation des Hexenham­mers, die letzte Verfolgungswelle ins Rollen.