Bildungswertschöpfung

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1 Strukturwandel der Arbeit und der Bildung

Für den Zeitraum der letzten dreißig bis vierzig Jahre konstatiert die Forschung grundlegende Veränderungen in Wirtschaft und Arbeitswelt. Dieses Kapitel beleuchtet einige Punkte, die für die berufsorientierte Weiterbildung wichtig sind (Abb. 1.1).

Abb. 1.1: Kontexte der berufsorientierten Weiterbildung


Die nachstehenden Stichworte deuten die Tragweite der Veränderungen an:

–Arbeitsverhältnisse unter Marktdruck: Unternehmen agieren an globalen Märkten, Wirtschaftsstandorte stehen im Wettbewerb. Arbeitsverhältnisse und Personalressourcen werden daher intensiver bewirtschaftet. Die Ideologie der »unternehmerischen Arbeitskraft« zeugt vom Bestreben, auch die subjektiven Leistungsressourcen der Beschäftigten zu mobilisieren (Kapitel 1.1).

–Arbeitsmarkt – Deregulierung und ihre Folgen: Flexibilisierung und grenzüberschreitende Öffnung des Arbeitsmarkts lösen auch gegenläufige Kräfte aus. Neue Qualifikationshierarchien und soziale Segmentierungen begrenzen die Beschäftigungschancen; wer über geringe Chancen verfügt, gerät in den Fokus der »aktivierenden« Arbeitsmarktpolitik (Kapitel 1.2).

–Bildungssystem im Fokus der Politik: Bildungsreformen zielen auf mehr Kohärenz. Sie bereiten den Boden für international einheitliche Regulierungen (»Bologna«, »Kopenhagen«), für die standardisierte Leistungsmessung und den Wettbewerb der Bildungsstandorte. Dies trägt jedoch wenig bei zur Chancengleichheit in der beruflichen Bildung (Kapitel 1.3).

Im Folgenden werden wichtige Veränderungen und ihre Folgen thesenartig referiert und eingeordnet. Dabei ziehen wir Erkenntnisse der Arbeits- und Industriesoziologie, der Arbeitsmarkt- und der Bildungsforschung bei und fragen nach ihrer Bedeutung für die berufsorientierte Weiterbildung.

1.1 Arbeitsverhältnisse unter Marktdruck

Arbeitsverhältnisse im Unternehmen, berufliche Funktionen, Anforderungsprofile und die Identität der Arbeitskraft sind seit jeher wichtige Bezugspunkte für die berufsorientierte Weiterbildung. Sie verändern sich unter dem Einfluss der wirtschaftlichen Globalisierung und des (Standort-)Wettbewerbs. Unternehmen richten ihre Geschäftsprozesse auf globale Märkte aus und stellen ihre Führungs- und Personalwirtschaftskonzepte um. So, wie Unternehmen stärker »vom Markt her geführt« werden, so wird auch die Arbeitskraft stärker an den Markt angebunden. Sie ist gehalten, selber für marktgerechte Leistungsfähigkeit zu sorgen, eine Grundausstattung an Qualifikation, Motivation und Gesundheit mitzubringen und den persönlichen »Auftritt« zu pflegen. Der Strukturwandel der Arbeit hat zur Folge, dass die Anforderungen an die Arbeitskräfte steigen oder zumindest vielfältiger werden. Es erweitern sich sowohl betriebliche und arbeitsprozessbezogene Qualifizierungsbedarfe als auch individuelle Qualifizierungsbedürfnisse. Beides steigert die Nachfrage nach Angeboten der Weiterbildung – und verändert die gesamte Ökonomie der Arbeitskräftereproduktion. Zu erhalten sind neben den physischen und psychischen Leistungsressourcen auch die Wissensressourcen, die beruflichen Kompetenzen und die sozialen Unterstützungsnetze.

Bewirtschaftung von Arbeitsverhältnis und Arbeitskraft

Die Ausrichtung aller Geschäftsaktivitäten am (Welt-)Markt erzwingt interne Reorganisationen und Effizienzsteigerung. Sie beherrschen das Geschehen in privatwirtschaftlichen genauso wie in öffentlich-rechtlichen Unternehmen. ­Diese positionieren sich auf internationalisierten Märkten und passen ihre internen Strukturen laufend an: Die Kernprozesse von der Beschaffung bis zum Absatz, aber auch unterstützende Prozesse werden hinsichtlich ihrer Effektivität, ihres Kosten- und Wertbeitrags optimiert.

Durch die Wahl von Standorten und Kooperationen optimieren Unternehmen Beschaffung und Absatz, und sie sichern sich den Zugriff auf Wissen und andere Ressourcen. Da jedoch erworbene Vorteile an den Märkten nie unbestritten bleiben, werden strategische Ausrichtung und interne Reorganisation zur Daueraufgabe, und es entsteht ständiger Anpassungsdruck bei den Arbeitsprozessen (»permanente Reorganisation«, Sauer 2010, 561f.).

Dabei verändern sich Arbeitsbedingungen und Personaleinsatz. Berufliche Funktionsfelder mit ihren Abgrenzungen und Schnittstellen werden neu definiert und entlang der Prozesskette reorganisiert; Arbeitsabläufe werden vernetzt und erfordern breiteres Wissen; das – zahlenmäßig reduzierte – Personal wird in fachlicher, organisatorischer, zeitlicher und räumlicher Hinsicht flexibel eingesetzt, intensiv genutzt und kostenmäßig optimiert (Döhl, Kratzer & Sauer 2000). Höhere Effektivität stellt sich aber nur ein, wenn sämtliche Stellen im Unternehmen Ergebnisverantwortung übernehmen, was voraussetzt, dass sie über die nötigen Prozesskenntnisse und Gestaltungsspielräume verfügen (Marrs 2010). Dies gilt selbst für sogenannt »einfache Arbeiten« in Industrie und Gewerbe (Zeller, Richter & Dauser 2004). Modernes Management setzt daher auf indirekte Führung, kombiniert mit materiellen oder immateriellen Anreizen, welche die subjektiven Leistungsressourcen der Arbeitskraft – Motivation, Verantwortungsgefühl, Loyalität, Problemlösungsfähigkeit, Kreativität – für den betrieblichen Leistungsprozess erschließen. Entsprechend verändern sich die Inhalte der berufsorientierten Weiterbildung, auch der Personalweiterbildung.

Dies alles trifft die Institution des Arbeitsverhältnisses im Kern. Das Management holt den Markt gezielt in die Geschäfts- und Arbeitsprozesse hinein (Dörre 2003). War das Arbeitsverhältnis nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er-Jahre zumindest in den Kernbereichen der Wirtschaft durch arbeitsgesetzliche und tarifvertragliche Regelungen vor kurzfristigen Marktschwankungen geschützt, gewinnen seither Elemente einer »Marktsteuerung« an Bedeutung. Es sind dies:

–Leistungsaufträge, auslastungsabhängige Arbeitszeiten, leistungs- und ertragsabhängige Lohnbestandteile;

–Konkurrenz zwischen Arbeitsteams, Outsourcing von Supportleistungen, direkter Einbezug des Kunden in den Auftragsprozess;

–befristete Anstellungen und Personalausleihe, Subunternehmertum, Lockerung von gesetzlichen und gesamtarbeitsvertraglichen Schutzbestimmungen.

Politische Deregulierungsinitiativen schaffen die erforderlichen Spielräume für die »flexible« Gestaltung der Arbeitsverhältnisse, für das Personalmanagement und die unternehmerische Arbeitspolitik (Döhl, Kratzer & Sauer 2000; DGFP 2005, 18f.; Pardini & Schöni 2003). Ihr Ziel ist es, Humanressourcen intensiv zu bewirtschaften, Arbeitgeberrisiken zu minimieren, z. B. durch die Ausgliederung von vermindert Leistungsfähigen, Kranken, Älteren, und das vom Unternehmen benötigte passende Personal möglichst kostengünstig bereitzustellen (Schöni 2006a). Auch Weiterbildungsmaßnahmen werden vermehrt nach Kriterien der Personalbewirtschaftung gesteuert.

Marktanbindung der Arbeitskraft – und ihres Umfelds

Die Arbeitskraft wird wieder stärker zur Ware, die Nachfrageschwankungen und Beschäftigungsrisiken unterliegt. Sie muss sich auf dem Arbeitsmarkt bewegen und ihre Leistungsvorzüge aktiv vermarkten. Wer in der unsteten Erwerbsarbeit mit Leistungsdruck, gesundheitlichem Verschleiß und prekären Anstellungsbedingungen zurechtkommen soll, muss vermehrt auf Ressourcen und Dienstleistungen des familiären und sozialen Umfelds zurückgreifen (Abb. 1.2): auf emotionale Unterstützung, auf Support beim Outfit, auf Betreuung und Pflege, auf Zweiteinkommen, auf bezahlte und unbezahlte Care-Arbeit, auf sozialstaatliche Leistungen.

Abb. 1.2: Marktsteuerung des Arbeitsverhältnisses und Nutzung sozialer Ressourcen


Familiäre, soziale und gemeinwirtschaftliche Ressourcen werden »unentgeltlich« genutzt, um das Arbeitsverhältnis zu stützen. Der Wandel der Erwerbsarbeit berührt somit auch die Versorgungsarbeit, und zwar für breite Bevölkerungsgruppen. In ihrer klassischen Analyse sprechen die Soziologen H. Pongratz und G. G. Voß bereits in den 1990er-Jahren von einer «Verbetrieblichung» des sozialen Umfelds der Arbeitskraft (Voß & Pongratz 1998), was die ungleiche geschlechtliche Arbeitsteilung zementiert. Dieser Trend spitzt sich mit der Ausbreitung irregulärer, nicht existenzsichernder Arbeitsverhältnisse eher zu.

»Unternehmerische« Arbeitskraft, ungleiche Entwicklungschancen

Mit der Neuordnung und Marktanbindung des Arbeitsverhältnisses ändern die Erwartungen an die Arbeitskraft. Wurden noch bis vor wenigen Jahrzehnten vor allem berufliche Perfektion, Zuverlässigkeit, Loyalität und die vorbehaltlose Umsetzung betrieblicher Anweisungen erwartet (und im besten Fall mit sicherer Beschäftigung honoriert), so sind inzwischen Fähigkeiten der Selbstorganisation, Initiative, Problemlösefähigkeit und Kundenorientierung stärker gefragt. Auf solche Ressourcen hat der Betrieb nicht ohne Weiteres Zugriff, sie müssen vom arbeitenden Subjekt in eigener Initiative gepflegt, mobilisiert und in den Dienst der beruflichen Aufgabe gestellt werden. Um dies zu erreichen, setzt die Personalführung immaterielle Anreize und andere »Motivationshilfen« ein.

 

Es findet somit eine kognitive und affektive Subjektivierung der Arbeitsleistung (Moldaschl 2003; Rau 2005) statt, die im Konzept der unternehmerischen Arbeitskraft ihren Ausdruck findet (Voß 2001; Schöni 2000). Diese ist zur Leitfigur des Managements geworden und passt zum flexibilisierten Arbeitsverhältnis.[2] Die unternehmerische Arbeitskraft steht für die erfolgreiche Kombination zweier Aspekte von Subjektivierung: der Selbstunterwerfung im Arbeitsprozess und der erfolgreichen Nutzung individueller Leistungspotenziale am Arbeitsmarkt. Die unternehmerische Arbeitskraft nutzt beides. Sie stellt ihr Leistungsvermögen dem Arbeit- oder Auftraggeber befristet zur Verfügung; dieser erhält so Zugriff auf hoch entwickelte Leistungsressourcen; sie sucht danach ein nächstes Arbeitsumfeld, erweitert ihr »Portfolio« und steigert ihren Marktwert.

In der Figur der unternehmerischen Arbeitskraft findet die »Subjektivierung« der Arbeitstätigkeit ihren verdichteten Ausdruck, was sich in den Qualifizierungsperspektiven niederschlägt. Qualifizierung wird zum persönlichen Anliegen, zur individuellen »Investition« und Selbstkapitalisierung (Wrana 2006, 9f.), die sich am Arbeitsmarkt in Einkommenszuwachs und Laufbahnschritten auszahlt – sich zuweilen aber auch als Fehlinvestition erweist. Ganz im Sinne dieser Subjektivierung richten viele Firmen ihre Personalpolitik explizit darauf aus, die »Arbeitsmarktfähigkeit« der Angestellten zu fördern; diese sollen im Gegenzug auf die Forderung nach Beschäftigungssicherheit verzichten. Studien zeigen indessen, dass weniger qualifizierte Personalgruppen von wirksamen Förderungsmaßnahmen sehr oft ausgeschlossen werden (Raeder & Grote 2003; 2007).

Da Beschäftigte mit Qualifikation, Leistungsfähigkeit, Gesundheit, sozialer und materieller Absicherung sehr unterschiedlich »ausgestattet« sind, verfügen sie über ungleiche Spielräume für Qualifizierungsaktivitäten: Hoch Qualifizierte, die frühzeitig gelernt haben, ihre Bildungsbiografie zu planen und ihr Portfolio zu bewirtschaften, suchen gezielt flexible Arbeitsverhältnisse und nutzen Entwicklungschancen, insbesondere wenn sie sich sozial und familiär nicht verpflichtet sehen. Weniger Qualifizierte verbleiben dagegen oft in konventionellen Arbeitsverhältnissen, für die geringe Qualifizierungschancen, betrieblich verordnete Flexibilisierung, Leistungsverdichtung und Entlassungsrisiken typisch sind. Der daraus erwachsende Druck ist umso höher, je größer die soziale und familiäre Verpflichtung dieser Personen ist.

Die ungleiche Verteilung beruflicher Entwicklungschancen und Ressourcen bildet sich in der Nachfrage nach berufsorientierter Weiterbildung ab. Wer in der Lage ist, seine Laufbahn zu optimieren, beansprucht Angebote des oberen Preissegments, die individualisiertes Lernen, gute Vernetzungsmöglichkeiten und prestigeträchtige Zertifikate bieten. Wer dagegen von Erwerbsrisiken bedroht oder arbeitslos ist, durchläuft mit größerer Wahrscheinlichkeit zugewiesene arbeitsmarktbezogene Maßnahmen (Nachholbildung, Bewerbungstrainings) oder bemüht sich um die Validierung nichtformaler Kompetenzen. Anbieterstrategien, Angebotsstrukturen und Finanzierungsmechanismen der Weiterbildungsbranche bestimmen darüber, mit welchen Angeboten die Nachfrage gedeckt wird (vgl. Kapitel 2).

1.2 Arbeitsmarkt – Deregulierung und ihre Folgen

Mit dem Wandel der Arbeitsverhältnisse und des Personaleinsatzes in den Unternehmen verändern sich auch Nachfrage und Angebot an Arbeitskräften, es verändert sich somit die Struktur des Arbeitsmarktes. Tradierte berufsständische Zugangsregelungen sind gelockert, Unternehmen richten ihren Rekrutierungsfokus auf neue, teils branchenfremde Berufe und Qualifikationsprofile. Es kommt zu Verschiebungen in der Hierarchie und im Arbeitsmarktwert von Bildungsabschlüssen. Zu beobachten sind zum einen die Öffnung von Teilarbeitsmärkten für neue Qualifikationsgruppen, zum anderen aber neue Segmentierungen als Folge von neuen berufsständischen Abgrenzungen und selektiver Personalpolitik der Unternehmen. Diese Veränderungen strukturieren die Nachfrage nach Weiterbildung, etwa hinsichtlich der Themen, Kompetenzen, Bildungsabschlüsse und Anschlussmöglichkeiten.

Öffnung der Arbeitsmärkte

Die Neuordnung beruflicher Funktionen und die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse in den Unternehmen finden ihren Niederschlag in der Nachfrage nach und im Angebot an beruflichen Profilen am Arbeitsmarkt (Dostal 2007). Das nachgefragte »berufsförmig geformte Arbeitsvermögen« (Brater 2010, 806) verändert seine Zusammensetzung: Schwindende Beschäftigungsbereiche in Industrie oder Dienstleistungen verlieren am Arbeitsmarkt an Bedeutung; Teilarbeitsmärkte entfallen, wenn die Einsatzbereiche bisher getrennter Berufs- und Qualifikationsgruppen sich zu überschnei­den beginnen oder wenn tradierte Berufsrollen z. B. in Hightech-Branchen ihre Konturen verlieren; der Zugang zu beruflichen Positionen wird erleichtert, weil Firmen vermehrt auf »Quereinsteiger/innen« setzen. Bisher berufsständisch und/oder hoheitlich regulierte Teilarbeitsmärkte werden grenzüberschreitend geöffnet, beispielsweise wurde die Berufsausübung für freie Berufe zwischen der EU und der Schweiz abgestimmt.

Damit erweitern sich die Zugangsmöglichkeiten der Arbeitskräfte zum Arbeitsmarkt, und die Unternehmen erhalten vielfältigere Rekrutierungsmöglichkeiten. Der Arbeitsmarktwert von Berufs- und Qualifikationsgruppen pendelt sich aber oft erst über längere Zeiträume ein, beispielsweise erst nachdem neue Curricula in der Berufsbildung etabliert sind, der Quereinstieg in berufliche Positionen anerkannt ist oder bestehende Berufsgruppen neue Funktionen übernommen haben. Mit der Öffnung ehemals regulierter Beschäftigungsbereiche und Rekrutierungspraktiken entsteht für die Beschäftigten eine neue Herausforderung: ein marktgängiges, von Arbeitgebern künftig nachgefragtes Kompetenzportfolio zu finden und den für den Kompetenzerhalt im Beruf erforderlichen Weg selber zu definieren – mit allen Unwägbarkeiten, die dies am Arbeitsmarkt mit sich bringt (Hall 2007). Mehr Transparenz am Weiterbildungsmarkt, die Anschlussmöglichkeiten, aber auch Chancen und Risiken eines Weiterbildungsentscheids sichtbar macht, wäre daher umso wichtiger.

Neue Qualifikationsordnungen, neue Inflexibilitäten

Öffnung und Deregulierung rufen jedoch auch ordnende, standardisierende Kräfte und Regulierungen wieder auf den Plan. Bei der Personalrekrutierung gewinnen in den letzten Jahrzehnten formalisierte und international zertifizierte Qualifikationsstufen und Kompetenzprofile stark an Bedeutung, so z. B. in der medizinisch-therapeutischen Versorgung, in Marketing- oder kaufmännischen Funktionen, im Personalwesen oder beim Ausbildungsfachpersonal. Die Stufen der Berufsbildung[3] sind nicht mehr vorrangig durch die Tiefe des Fachwissens und durch Praxis­expertise im Berufsfeld definiert, sondern zunehmend durch formale Kompetenzniveaus und Ordnungskriterien, die vom Ausbildungssystem und institutionellen Anbietern vorgegeben werden. Das dadurch bescheinigte Kompetenzniveau gibt dem Arbeitgeber berufsübergreifend Anhaltspunkte für die Einschätzung der Leistungsvoraussetzungen der Person, über die Eignung im Einsatzbereich sagt es jedoch wenig aus.

Die neuen Qualifikationsordnungen beeinflussen die Funktionsweise der (deregulierten) Arbeitsmärkte in ambivalenter Weise. Zum einen können sie eine genauere Abstimmung zwischen Angebot und Nachfrage an Teilarbeitsmärkten ermöglichen, was rekrutierenden Unternehmen zugute kommt, ebenso Arbeitsuchenden, die sich «arbeitskraftunternehmerisch» verhalten. Zum anderen können differenzierte Abstufungen den Rekrutierungsprozess jedoch erschweren, weil sie Erwartungen an eine genaue Passung des Qualifikationsprofils wecken, während die Eignung für einen Einsatzbereich möglicherweise von ganz anderen Faktoren abhängt. Dies kann die Flexibilität der Arbeitsmarktfunktionen einschränken (vgl. Kapitel 3.1). Auch im Zeitalter geregelter, zertifizierter Qualifikation muss sich der Arbeitsmarktwert von Ausbildungsabschlüssen aufgrund der tatsächlichen Verwertbarkeit in Beruf und Betrieb erweisen.

Segmentierung und soziale Selektivität

Deregulierte Arbeitsmärkte tendieren nicht notwendigerweise zum Ausgleich von strukturellen Schranken und Benachteiligungen. Segmentierende und sozial selektive Funktionen bleiben oft erhalten, sie können durch differenzierte Qualifikationsordnungen sogar noch verstärkt werden. Diese ersetzen zwar überkommene berufsständische Berechtigungen durch »leistungsbasierte« (sofern ein Bildungsabschluss ein tauglicher Leistungsindikator sein kann) und sind insofern gesellschaftlich legitimer. Sie verbessern aber nicht die Chancen jener Gruppen, die in ihrer Erwerbslaufbahn die Pflege des eigenen »Kompetenzportfolios« nicht habitualisiert haben, die Qualifikationsstufen mit höherem Arbeitsmarktwert gar nicht erreichen und durch das Selektionsraster fallen. Dies gilt beispiels­- weise für

–Berufsleute, deren Fachqualifikation durch technische Innovation oder durch den Wandel im Berufsfeld entwertet wird und die gezwungen sind, in weniger qualifizierte Tätigkeiten außerhalb des erlernten Berufs zu wechseln;

–Geringqualifizierte, die langjährig »einfache« Tätigkeiten ohne Ent­wick­lungs­möglichkeiten verrichten, leicht ersetzbar sind und oft in Prekär­arbeitsbereiche abgedrängt werden;

–Langzeitarbeitslose, Migrantinnen und Migranten, die wegen Nichtanerkennung ihres Abschlusses, wegen wirtschaftlicher Restrukturierung oder Diskriminierung kaum Zugang zu einer Berufs- oder Bildungslaufbahn finden.

Wenn sich die neuen Segmentierungslinien verfestigen, stößt die Flexibilität des Arbeitsmarktes somit erneut an Grenzen. Die Arbeitsmarktpolitik reagiert auf solche Schranken und Risiken mit sogenannten aktivierenden Maßnahmen, deren Ziel es ist, die Arbeitsmarktfähigkeit von »Problemgruppen« zu verbessern unter Androhung finanzieller und sozialversicherungsrechtlicher Sanktionen (Magnin 2005). Aktivierende Maßnahmen ermöglichen im positiven Fall individuelle Übertritte in stabilere Erwerbsbereiche. Sie lassen jedoch die Problemzonen des Arbeitsmarkts – Beschäftigung ohne Entwicklungsperspektive, Tieflohnbereich, Dequalifizierungstrend – unangetastet. Darüber hinaus stimulieren sie die Nachfrage nach einseitig adaptiver Weiterbildung und beeinflussen so den Einsatz staatlicher Mittel in der Weiterbildungsförderung (Winkler 2007). Dies verstärkt die Segmentierung im Weiterbildungsangebot (vgl. Kapitel 3.4).