Loe raamatut: «Inmitten der Heide»
Werner Hetzschold
Inmitten der Heide
Erzählung
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Impressum neobooks
1
©HeRaS Verlag, Rainer Schulz, Berlin 2021
www.herasverlag.de
Layout Buchdeckel Rainer Schulz, unter Verwendung eines Gemäldes
von Franz Schreyer: „Winterabend am Moorbruch“
ISBN 978-3-95914-234-2
Flach, fast eben ist die Landschaft. Nur im Süden unterbrochen von winzigen Hügeln. Sandige Flächen nehmen viel Raum ein. Sie verfügen kaum über Wasser, sind wenig fruchtbar, nicht für den Ackerbau geeignet. Karge Weiden nehmen ausgedehnte Areale ein, dicht bewachsen mit purpur blühender Heide, hin und wieder von verschwiegenen Mooren bedeckt, die Geheimnisse hüten. Die weißen Stämme der Birken beleben die purpur blühende Heide, vermitteln ihr einen Anstrich von Sehnsucht und Weite nach unbekannten Fernen. Buchen und Eichen beleben das Landschaftsbild. Erlen und Eschen signalisieren die Moore. Die karge Heide beleben Streuobstwiesen, vermitteln einen Zauber von Romantik. Die Niederlausitzer Heidelandschaft beansprucht wenig Raum. Inmitten dieser Idylle träumt Stupozke. 1231 wird es erstmalig im „Urkundenbuch des Klosters Dobrilugk und seiner Besitzungen“ als eines seiner Besitzungen genannt. Sehr dünn besiedelt ist die Region der Niederlausitzer Heidelandschaft, kann nur wenige Menschen ernähren. Vorwiegend gehören die Menschen der sozialen Schicht der Häusler (Kleinstbauern mit eigenem Haus, aber nur wenig Grundbesitz) an, nur wenige sind Landwirte.
1888 wird Otto als Sohn des Häuslers Thomas Bruch in Jordan, Schlesien, geboren. Die Familie lebt in zwei kleinen Kammern im Hauses des Bruders seines Vaters. In einer steht ein Kachelofen. Thomas ist verpflichtet, überall und zu jeder Tageszeit dem Onkel dienstbar zu sein. Er verdient sein Brot und das für seine Familie als Waldarbeiter. Wie alle seine Vorfahren. Keiner in der Sippe weiß, seit wann sie in der Niederlausitzer Heidelandschaft leben. Wie viele andere Familien auch.
Liese, ihr Taufname lautet Louise, entstammt auch einer Häusler Familie. Obwohl Liese, wie sie im Dorf genannt wird, zwei Jahre jünger ist als Otto, besuchen sie gemeinsam eine Klasse in der Dorfschule. Diese Form des Schulwesens ist üblich auf den Dörfern. Die Kinder in Jordan unterrichtet ein vielseitig interessierter Lehrer. Er lehrt sie die Liebe zur Heimat in einem eigens von ihm ins Leben gerufenen Faches, das nach dem offiziellen Unterricht stattfindet. Nach einer kurzen Pause setzt er seine Lehrtätigkeit fort. Das Fach nennt er „Geschichten über die Heimat“, an dem alle Kinder freiwillig teilnehmen können. So auch Otto und Liese. Die Kinder erfahren in vielen Geschichten vieles aus der Geschichte, aus der Vergangenheit der Region der Niederlausitzer Heidelandschaft. Das ist sehr spannend, vor allem weil der Lehrer ein so vorzüglicher Geschichten-Erzähler ist. Eine Abstellkammer im Schulhaus verwandelt er in ein Museum.
Nach der Konfirmation verbleibt Otto im Dorf. Wie der Vater arbeitet er im Wald. Liese geht in Stellung. In Wikow beginnt sie als Dienstmädchen in den Haushalten des Pfarrers und des Postdirektors. Glücklich ist Liese, lernt sie doch die große, weite Welt kennen.
Im Haushalt des Herrn Pfarrers wird sie mit ihrem korrekten Vorname angesprochen. Er sagt: „Fräulein Luise, meine Ehefrau händigt dir den Einkaufszettel aus. Alles auf dem Zettel Stehende kaufst du ein. Nichts darfst du vergessen. Alles ist wichtig. Meine Frau wird dir das Fahrrad geben, damit die Einkäufe leichter transportiert werden können.“
Louise antwortet laut und deutlich: „Ich gehe mit dem Fahrrad zu Fuß. Es ist sicherer.“
„Das ist sehr vernünftig“, erwidert der Herr Pfarrer, „denn in Wikow herrscht reger Verkehr. Nicht zu vergleichen mit dem in Jordan.“
Louise fühlt sich sehr wohl im Hause des Herrn Pfarrers. Im Herbst des zweiten Jahres informiert sie der Herr Pfarrer, dass sich ihre Wege trennen. „Meine Familie und ich verlassen Wikow. Ich werde versetzt. In den Norden. Es tut mir leid, dass ich dich nicht in meinen Diensten behalten kann. Dein Führungszeugnis kannst du einsehen. Mit dem Herrn Postdirektor habe ich vereinbart, dass du in seinem Haushalt eine Anstellung findest.“
Nach ihrem 18. Geburtstag endet die Stellung im Haushalt des Herrn Postdirektors. Mit vorzüglichen Zeugnissen kehrt Louise nach Jordan zurück und wird wieder zur Liese. Dort begegnet sie erneut Otto.
Eines Tages bringt Thomas Bruch die Nachricht nach Hause, dass Kohle auch zwischen Stupozke und Zeleny Gózd entdeckt wurde. „Das wird Veränderungen mit sich bringen!“
Er erzählt: „Genau erinnere ich mich daran, was für eine Aufregung herrschte, als gesagt wurde, dass viel Kohle rund um Bukowc, Głupsk, Wjesko, Kósćerjow und Zeleny Gózd liegt. Gleich tauchten Vertreter einer Bergbau-Gesellschaft mit viel Geld auf. Alles Land kauften sie von den Bauern und den Häuslern. Die Bauern und die Häusler freuten sich über das viele Geld, das ihnen für das dürre, magere, unfruchtbare Land und für die nassen, feuchten, sumpfigen Wiesen ausgehändigt wurde. Ich kann mich entsinnen, es wurde erzählt, dass Bauern, aber auch Häusler bei diesen Geschäften alles verloren. Mit dem vielen Geld in der Tasche feierten sie. Schnaps und Bier tranken sie im Überfluss, bis zur Bewusstlosigkeit. Als sie irgendwann mit schwerem Kopf irgendwo erwachten, stellten sie den Verlust des Geldes fest. So wurde aus einem Bauern ein Tagelöhner. Solche Schicksale gibt es zu allen Zeiten.“
Thomas Bruch holt tief Luft. Dann fährt er fort: „Alles Land gehört der Bergbau-Gesellschaft. Die Wälder werden gerodet. Viel Arbeit gibt es. Das nunmehr kahle Land wird aufgerissen. Fremde werden in die Niederlausitz geholt, auch in die Niederlausitzer Heidelandschaft. Viele bleiben.“
Bis 1908 verdient Otto als Waldarbeiter sein tägliches Brot, dann wird dem intelligenten jungen Mann ein Angebot gemacht, dem er nicht widerstehen kann. Er wird zum Lokomotivführer ausgebildet, fährt künftig eine der Grubenbahnen, erhält einen festen Arbeitsvertrag als Bergmann auf Lebenszeit, verbunden mit allen Rechten und Pflichten. Neben einer Bergmannsrente und Bergmannsgeld gehören 300 Zentner Kohle gratis pro Jahr dazu und der Bergmannsschnaps, von allen Kumpel-Tod genannt. Der Kumpel-Tod ist ein klarer Trinkbrandwein, geschmacklos, mit einem Alkoholgehalt von 33 Prozent. Alle lieben diesen Trinkbranntwein, benutzen ihn neben Wodka, Korn und den unterschiedlichsten Früchten zur Herstellung von Likör. Der junge Bergmann Otto ist jetzt in der Lage eine eigene Familie zu gründen. Zärtlich nennt er seine Liese: „Mein kleines, schwarzes Luder!“ Bewusst wählt er diesen Namen, denn Liese hat schwarze Haare, feurige dunkel-braune Augen und einen olivfarbenen Teint. Für Otto ist Liese das schönste und begehrenswerteste Mädchen weit und breit. Er hält um ihre Hand an. Noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges heiraten sie. 1914 ist Liese schwanger. Fritz heißt der Erstgeborene, Heinz der fünf Jahre jüngere zweite Sohn.
Nach dem Ersten Weltkrieg kaufen sie ein Handtuchfeld im Oberdorf von Stupozke. Südlich grenzt ihr Besitz an die Tschischerascher Berge, eingerahmt vom Hochwald, vor dem der Zollweg von Schlesien im Osten kommend sich nach Westen in Richtung Lubuš hinzieht. In Richtung Norden führt der Weg ins Unterdorf, ins Hauptdorf von Stupozke. Dort befinden sich die Bauernhöfe, die Kirche, die Gaststätte mit Tanzsaal, der Schmied. Auf diesem Handtuchfeld im Oberdorf gleich neben der Straße nach Plesow, einem breiten, zerfurchten Sandweg, errichten Otto und Liese ihr Haus. Alle im Dorf ansässigen Gewerke beteiligen sich am Hausbau. Zunächst wird die Baugrube, der künftige Keller ausgehoben. Als Werkzeug dienen Spaten, Schaufeln, Eimer und Winden. Über den mit Steinplatten abgedeckten Keller wird das Gebäude in Ziegelbauweise Stein um Stein hochgezogen. Der im Herbst 1927 abgeschlossene Rohbau bleibt über die Wintermonate bis zum nächsten Frühling Frost, Schnee, Kälte überlassen.
Im Sommer des folgenden Jahres beziehen Liese und Otto ihr Haus im Oberdorf unmittelbar vor dem Zollweg und dem Hochwald. Der Erwerb des Grundstückes und der Bau des Hauses hat alle Ersparnisse aufgebraucht. Kredite bei Banken nehmen sie nicht auf. Sie misstrauen diesen Institutionen. Die eigene Familie ist verlässlicher.
Als Hausfrau konzentriert Liese ihre volle Aufmerksamkeit auf Haus, Grundstück und ihre Kinder; Fritz heißt der Erstgeborene, Heinz der Fünfjahre jüngere zweite Sohn. Im Dreischichtsystem ist Otto als Lokomotivführer der Grubenbahn im Einsatz.
Nach dem Umzug von Liese und Otto nach Stupozke verbleibt Fritz bei den Großeltern in Jordan. Dort beendet er die Schule, um anschließend eine Ausbildung als Kaufmann in der Stadt aufzunehmen, in der einst seine Mutter als Dienstmädchen sich ihren Lebensunterhalt erwarb. Nie wieder wird Fritz zurückkehren. Seine Mutter ist stolz auf ihren Großen. Ein kluger Kopf ist er. Luise erwartet, dass ein guter Geschäftsmann aus ihm wird. Hätte sie die finanziellen Mittel, könnte sie ihm den Weg zu einer Höheren Schule ebnen, ihn studieren lassen. Wie der Herr Postdirektor und der Herr Pfarrer könnte ihr Großer ein feiner Herr werden. Das Zeug dazu hat er. Dessen ist sich Luise sicher. Nur ungerecht ist die Welt. Sie kann das Schulgeld nicht aufbringen. Alles Vermögen hat das Haus verschlungen. Der jüngere, zweite Sohn besucht die Schule in Stupozke.
Unmittelbar hinter dem Haus befindet sich der Auslauf für das Geflügel, für Hühner und Enten. Auf diesem Gelände errichtet Otto auch die Holzfeime, fein säuberlich und akkurat gestapelt. Otto sagt immer: „Wenn die Holzfeime ordentlich aufgeschichtet sind, kann auf ihnen getanzt werden.“ Hinter dem Geflügelauslauf legt sich Liese einen kleinen Blumengarten an und einen großen Gemüsegarten.
Alle Grundstücke im Oberdorf verfügen über keine Kanalisation. Der Abfluss ist sehr störanfällig, für Abwaschwasser ungeeignet. Schnell ist er verstopft. Deshalb wird alles Wasser in Eimern in den Garten getragen. Unmittelbar am Zaun zu den Feldern wird das Schmutz-Wasser ausgeschüttet, versickert schnell in der Erde.
Liese und Otto sind mit dem Tagebau aufgewachsen, haben das Entstehen der Gruben, die Rodung der Wälder, die Vernichtung der Heidelandschaft, die Abraumhalden, das Verschwinden des Grundwassers, die Verpestung der Luft, die Verschmutzung einer ganzen Region, die Zuwanderung vieler Menschen bewusst erlebt. Aber sie wissen auch, dass der Bergbau den Menschen Wohlstand, ein gesichertes Einkommen bringt.
Liese sitzt auf ihrem Küchenstuhl, starrt aus dem Küchenfenster, weint. Vor ihr auf dem Tisch liegt ein Brief, daneben ein Briefumschlag, äußerlich erkennbar als amtliches Schreiben. Immer wieder greift sie nach dem Brief, liest, schüttelt den Kopf, schreit in die Stille der Küche: „Das kann nicht wahr sein! Das darf nicht wahr sein! Ich will meinen Fritz zurück!“ Sie will sich die bittere Wahrheit nicht eingestehen. „Ich will meinen Fritz zurück!“, schluchzt sie. Liese hält die Hand vor den Mund, um die Klage, den tiefen Schmerz, die Trauer zu unterdrücken. Sie will ihre Gefühle vor den Nachbarn verbergen. Sie spricht mit sich selbst: „Mein Junge ist tot. Mein intelligenter, kluger, strebsamer Junge ist nicht mehr! Meine Hoffnungen, meine Sehnsüchte werden sich nicht erfüllen. Mein Fritz sah blendend aus, war vornehm, ehrgeizig, hatte eine Zukunft als Kaufmann vor sich. Er war anders als Otto und Heinz. Die beiden sind Handwerker, verstehen etwas von ihrem Fach, können eine Familie ernähren, aber mein Fritz war gelernter Kaufmann, hatte es schon weit gebracht in Erfurt. Ob seine Frau benachrichtigt worden ist? Ich muss Kontakt mit Erfurt aufnehmen!
Vor dem Gartentor sitzt Opa Otto, der Ehemann von Liese, auf seiner Bank und dengelt die Sense, raucht dabei genüsslich seinen Stumpen, als Lieses Stimme ihn aus seinen Gedanken reißt.
„Die Russen kommen!“ Es ist kein Gerücht. Die Russen kommen tatsächlich. Selbst die, die bisher nicht nachgedacht haben, werden nachdenklich. Vermutlich glauben sie auch nicht mehr an den Endsieg, der ihnen versprochen wurde. Selbst die Überzeugten scheinen zu zweifeln. Sie sind leiser geworden. Liese misstraut den offiziellen Nachrichten, die gedruckt vor ihr liegen als Zeitung oder im Rundfunk verkündet werden. Seit dem Tod ihres Sohnes Fritz hat Liese den Glauben verloren. An keine Botschaft, ganz gleich wer sie verkündet, glaubt sie. Die Nachbarn erzählen sich unter vorgehaltener Hand, dass in den Feldern in unmittelbarer Nähe des Dorfes Tote gefunden worden seien. Keiner weiß, wer die Toten sind, zumindest sind sie nicht aus dem Dorf oder aus den Nachbardörfern. Wahrscheinlich sind es Flüchtlinge.
„Die Russen kommen!“ Es ist die Wahrheit. Liese ist klar, es hat keinen Sinn, es hat keinen Zweck, das Tor zu verriegeln. Ein verschlossenes Tor hält die nicht zurück, zieht sie eher an. Da Liese um den Zustand des Tores fürchtet, wenn sie es schließt, lässt sie es weit offen stehen.
„Wir haben nichts zu verbergen“, sagt sie zur Nachbarin. „Umso offener, umso sicherer“, fährt Liese in ihrer Rede fort. „Umso gastfreundlicher sie empfangen werden, umso freundlicher werden sie zu uns sein. Ich kann mich auch irren. Ich lasse mich von dem Gedanken leiten, dass der Besiegte dem Sieger ausgeliefert ist. Das ist ein Naturgesetz, möchte ich sagen. Und dagegen kann ich mich nicht auflehnen. Ich kann nur versuchen, das Beste aus der Situation zu machen.“
Die Nachbarin flüstert. Die Angst zittert in ihrer Stimme. „Sie kommen!“, kreischt sie, flieht von der Straße, sucht Zuflucht im Haus.
Liese zieht sich auch zurück. Hinter der Gardine lauernd, verfolgt sie das Geschehen auf der Straße.
„Sie kommen auch zu uns“, meldet sie. Otto muss sich setzen.
„Bis jetzt haben wir alles überlebt.“ Liese versteht ihn kaum.
„Auch diesen Besuch werden wir überleben“, sagt Liese. „Sie sehen wie Menschen aus. Du bleibst hier, Otto!“, befiehlt sie mit fester Stimme. „Ich gehe ihnen entgegen.“
Vor der geöffneten Haustür erwartet sie die Besucher. Sekunden werden zur Ewigkeit. Sie vernimmt Schritte. Ihr Herz pocht. Deutlich hört sie ihren Herzschlag. Nur kurz zuckt sie zusammen, als vier Männer um die Ecke biegen. Sie reißt sich zusammen, zaubert ein frisches, freundliches Lächeln auf ihr müdes Gesicht.
„Sie bekommen Einquartierung!“, sagt ein blonder Hüne in gutem Deutsch.
Wie ein Untermensch sieht der nicht aus, denkt Liese, eher wie die Edelgermanen, die die Braunen züchten wollten. So muss Armin der Cherusker ausgesehen haben. Nur dass der Armin einen langen Bart und wehende blonde Locken gehabt hatte! Zumindest auf den vielen Bildern! Liese erinnert sich an die Abbildungen, an die Geschichten aus ihrer Jugendzeit.
„Folgen Sie mir bitte ins Haus!“ Liese fallen die vielen Höflichkeitsfloskeln ein, die sie sich bei den Herrschaften angeeignet hatte, um würdig im Haushalt des Pfarrers und des Postdirektors repräsentieren zu können. Repräsentieren – das war auch so ein Wort, das sie damals in ihren Wortschatz aufnahm. Später in ihrer Ehe war dieser Ausdruck in Vergessenheit geraten. „Otto, wir haben Besuch!“
Beim Anblick der vier Männer erhebt sich Otto.
„Otto, schneide bitte Brot. Die Herren haben bestimmt Hunger.“ Und zu den Männern gewandt: „Bitte nehmen Sie Platz.“
Otto traut seinen Ohren kaum. Liese hat zu ihm bitte gesagt. Er kann sich nicht daran erinnern, dass Liese jemals bitte zu ihm gesagt hätte. Liese verfügt eben über feine Manieren, wenn sie nur will. Kein Wunder bei dieser Ausbildung!
„Ich decke nur rasch ein“, sagt Liese mit liebenswertem Lächeln und huscht in die Küche. Die Tür lässt sie offen. Sie will beobachtet werden und gleichzeitig beobachten. Eine geschlossene Tür könnte als Abgrenzung, Ausgrenzung gedeutet werden. Mit schnellen Fingern bereitet Liese einen geschmackvollen Wurstteller zu. Das Auge isst mit. Das ist eine Erkenntnis, die sie im Haushalt des Pfarrers und des Postdirektors gewinnen konnte. Und diese Erkenntnis setzt sie dort um, wo es ihr geraten scheint. Liese passt sich immer der Situation an, macht das Beste aus jeder Situation. Sie hat etwas gegen das Heldentum. Es bringt nichts ein. Zumindest nichts für die kleinen Leute. Die kleinen Leute haben nur unter Helden zu leiden. Diese Erfahrung machte sie immer wieder in ihrem Leben. Liese spielt die Wirtin, tafelt auf.
„Dem Gast das Beste“, sagt sie und besteht darauf, dass der Dolmetscher ihre Worte übersetzt. Mit sichtlichem Behagen langen die vier Männer zu, genießen das duftende Brot, von Liese gebacken.
Der Dolmetscher sagt: „Wir wünschen das Zimmer zu sehen, in dem die Offiziere schlafen.“
Liese führt sie in die Stube nebenan. Die Männer blicken sich im Raum um. Für Liese völlig unerwartet, beginnt der Offizier mit den dunklen, schwermütigen Augen und den kurz geschnittenen schwarzen Haaren laut zu schimpfen, zeigt dabei auf die Metalltafel mit der eingravierten Büste eines Soldaten. Die Veränderung des Mannes von einem Moment zum anderen kann sich Liese nicht erklären. Minuten zuvor hat er friedlich und zufrieden am Tisch gesessen. Jetzt ist er wütend, redet mit Händen und Füßen. Obwohl Liese kein Wort versteht, erahnt sie den Inhalt seiner Worte. Eindeutig sind seine Gesten. Ihr wird heiß und kalt wie bei einem Wechselbad. Sie sieht schon das Unglück über sie und Otto hereinbrechen.
Der Dolmetscher sagt: „Ihr seid Faschisten! Ihr müsst bestraft werden!“ Dabei zeigt er auf die Gedenktafel, die sie zur Erinnerung an ihren Fritz aufgestellt haben. Die Gedenktafel mit den markanten Gesichtszügen eines Edelariers wurde zugeschickt als Auszeichnung und Trost, weil ihr Fritz den Heldentod für Führer und Vaterland gestorben war. Wie ihr Fritz gestorben war und wo, wurde nicht erwähnt, nur dass er ehrenvoll und tapfer gekämpft habe. Seine Briefe stimmten traurig wie die Sehnsucht, die sich nicht erfüllte. Seinen letzten Brief schrieb er vor Stalingrad. Er war ein Schrei der Verzweiflung: Wir verlaufen uns in endloser Weite und werden nicht wieder nach Hause finden. Der Tod ließ ihn nicht wieder nach Hause finden. Hitler wollte auch den letzten Winkel der Welt germanisieren.
„Wir sind keine Faschisten“, sagt Liese. „Uns wurde die Tafel geschickt, weil unser Sohn gefallen ist, weil mein Fritz im Krieg geblieben ist, weil wir selbst Opfer des Krieges sind. Verstehen Sie? Übersetzen Sie das bitte!“
Andächtig lauscht Liese den Worten des Dolmetschers, die sie nicht versteht. Sie spürt, wie der Schweiß ihr den Rücken herabläuft. Sie fühlt sich elend, einsam und verlassen, will laut schreien, um sich von dem Druck zu befreien, der auf ihrer Seele lastet. Tränen steigen ihr in die Augen. Sie bemerkt, wie der Offizier mit den dunklen, schwermütigen Augen und den kurz geschnittenen schwarzen Haaren auf die Gedenktafel zugeht. Seine Hände umschließen sie. Er zögert. Dann geht er auf Liese zu, drückt ihr die Erinnerungstafel in die Hand.
Der Dolmetscher sagt: „Der Hauptmann möchte die Erinnerungstafel an Ihren Sohn nicht im Zimmer haben. Seine Familie wurde von den Faschisten umgebracht. Unser Hauptmann ist Jude,“ fügt der Dolmetscher nach einer kleinen Pause hinzu.
2
Auf seinem Braunen sitzt Heinz, hält die Zügel straff in der Hand. Er hätte sich bei den Lastkraftwagen wohler gefühlt, aber da er vom Dorf kommt, wird er zur Kavallerie abkommandiert. Sein Schwager, aus einem Bauernhof stammend, in dem auch Pferde gehalten werden, verschlägt es in den Fuhrpark. Er repariert sicherlich irgendeinen Lastwagen, während Heinz auf dem Rücken seines Konikpferdes durch die weite russische Steppe reitet. Alle sagen zu diesem unermesslich weiten, unüberschaubaren Land Russland, obwohl es offiziell Sowjetunion heißt.
Der junge Mann ist nicht glücklich. Er friert. Er bildet sich ein, hier im Herbst ist es kälter als in Deutschland, kälter als in der Lausitz, kälter als in der Dolna Łužyca. Keine Menschenseele weit und breit! Weit verstreut liegen die Dörfer. Arm sind die Menschen, besitzen kaum Vieh. Sein Pferd hört auf den Namen Konik. So nennen die polnischen Bauern diese Pferde, die sehr widerstandsfähig, geradezu robust sind, sich in der Landwirtschaft als sehr arbeitsame, sehr belastbare, sehr genügsame, als äußerst friedfertige Arbeitstiere bewährt haben. Sie sollen ausgesprochen widerstandsfähig gegenüber Kälte sein, ertragen gelassen extreme Temperaturschwankungen. Sein Brauner gehört nicht zu den Braunen, wie sie zu finden sind in den Dörfern seiner Heimat. Dieses Pferd ist gedrungener gebaut, wirkt kräftiger, untersetzter, hat ein struppiges Fell, ist vertraut mit den Sümpfen, den endlosen Wäldern, den Feldern, der grenzenlosen Steppe. Ruhigen Schrittes durchquert sein Konik die unermessliche Weite. Viel hat er über diese Pferde-Rasse gehört. Sie soll von den asiatischen, von den mongolischen Wildpferden abstammen, die in Europa als das Przewalski-Pferd bekannt sind. Nikolai Michailowitsch Przewalski, so hat sich Heinz kundig gemacht, diente als Offizier in der Kaiserlich-Russischen Armee, machte sich später als Forschungsreisender einen Namen, beschrieb die nach ihm benannten Wildpferde. Heute hat die Wissenschaft herausgefunden, dass das Przewalski-Pferd wie die Tarpan-Pferde sind, die aus der Gegend um Botai in Nordkasachstan abstammen, das die Menschen vor vielen Jahrtausenden in den süd-russischen Steppen domestiziert haben. Die Botais, die Przewalski-Pferde und die Tarpane sind sicher wie die wild lebenden Mustangs Nachkommen verwilderter Hauspferde oder Mischlinge zwischen Wildpferd und Hauspferd. Noch vor 12000 Jahren während der letzten Eiszeit soll es in Nord-Amerika Wildpferde gegeben haben, sicher auch in Europa. Nur schwer kann sich das Heinz vorstellen, aber die Wissenschaftler müssen es ja wissen. Es sind ja kluge, studierte Leute. Sogar seine Mutter ist davon überzeugt. Immer erwähnt sie, was für kluge, angesehene, gebildete Leute der Herr Pfarrer und der Herr Postdirektor waren. Zu diesen Kreisen wirst du nie gehören, mein Heinz. Immer wieder hat er diese Litanei zu hören bekommen.
Endlos und eintönig ist die Steppe. Ein Land ohne Grenzen. Hinter dem Horizont taucht wieder Steppe auf. Nicht freiwillig verläuft er sich in dieser Ewigkeit. Dann nach vielen Nächten erblickt er am Horizont Wälder. Er reitet und reitet. Mitunter durchschneiden Wege die sumpfigen Wälder. Ungewohnt, unheimlich sind ihm diese Wege. Er weiß nicht, wohin sie führen, er weiß nicht, wo sie enden, ob sie überhaupt irgendwo, irgendwann, irgendwie enden. Die Wege ähneln nicht denen, die er kennt. Er kennt Wege aus Sand, die festgetreten, festgefahren sind, einen sicheren Schritt und Tritt ermöglichen. Das hier sind andere Wege, nicht vergleichbar mit den Pfaden und Fuhrwegen durch die Dolna Łužyca. Knüppeldämme durchkreuzen die morastigen Wälder. Sein stolzer Fuchs war auf einem solchen Weg gescheitert, brach sich ein Bein, als er auf einem morschen Balken abrutschte. Sein Fuchs war ein großes, schlankes, ausdauerndes Pferd gewesen, das auf seinen Hafer bestand. Die Natur hatte seinen Fuchs als jungen, temperamentvollen Hengst auserwählt. Sein Stammbaum war in vielen Gestüten registriert. Als seine Leistungen das Mittelmaß nicht überschreiten, wird er zum Wallach degradiert. Für die Teilnahme an Pferderennen reicht die von ihm erzielte Geschwindigkeit nicht aus. Als der Krieg ausbricht, wird er gemustert, für tauglich befunden und an die Front geschickt, gemeinsam mit Heinz. Das gebrochene Bein beschert ihm den Gnadenschuss. Heinz lässt seinen rechten Arm in der Steppe zurück. „Hans im Glück!“, sagten seine Kameraden zum Abschied. Für einen Einarmigen hat die Kriegsmaschine keine Verwendung.
Keine Ahnung hat Heinz, dass die Lausitz eingeteilt ist in die Niederlausitz, in die Oberlausitz und in das Lausitzer Gebirge. Keiner weiß so recht, wie viele Menschen, wie viele Stämme, wie viele unterschiedliche Bevölkerungsgruppen in dieser kargen Landschaft mit den undurchdringlichen Wäldern im Verlaufe der vielen Jahrtausende versucht haben sich eine Existenz aufzubauen. Die Wissenschaftler haben herausgefunden, so glauben sie, dass während der viele Jahrhunderte andauernden Völkerwanderung zahlreiche slawische Stämme gezwungen waren ihre Heimat zwischen den Flüssen Oder und Dnepr aufzugeben. Sie zogen in die ihnen offenstehende Region zwischen Ostsee und Erzgebirge. So ließen sie sich auch in der Lausitz nieder. Von nicht wenigen sorbischen Stämmen ist die Rede, an deren Spitze Sorben-Fürsten die Macht ausübten. Erinnert sei an den Markgrafen Gero, der gegen die Slawen Krieg führte, um deren Gebietsansprüche zu beschränken. Zu einem Trinkgelage lud der Markgraf Gero viele sorbische Fürsten ein. Als die Fürsten mit ihren Gefolgsleuten sich zur Ruhe begeben hatten, ließ sie der Markgraf abschlachten, um deren Aufstände wirkungsvoll zu beenden. Um das Land kontrollieren zu können, veranlasste er, dass sorbische Befestigungsanlagen zu Burgen umgebaut wurden, dass Klöster und Bistümer sich entfalten konnten.
Einst grenzten an die Lausitz die Mark Brandenburg. Das deutsche Wort Grenze hat seinen Ursprung in den slawischen Sprachen, denn das slawische/kyrillische Vграница Graniza/Granica entwickelte sich zum deutschen Wort Grenze. Zagranica heißt hinter der Grenze, bedeutet Ausland. Es ist erstaunlich, wie sich die Sprachen gegenseitig befruchten, zu Wortschöpfungen beitragen. Das Ausland repräsentierten Staaten wie das Herzogtum Schlesien, das Königreich Böhmen, die Mark Brandenburg, der meissnische und der sächsische Kreis. In seinem Werk „Wanderung durch die Mark Brandenburg“ durchstreift Fontane planlos und ziellos das Land, will sich mit den Regionen vertraut machen, aus denen seine Ahnen kamen, soweit eine Rekonstruktion realisierbar ist. Die in den Urkunden genannten Dörfer besucht er, die Besitzungen von Rittergeschlechtern und Adelsfamilien, die in fast jedem Dorf ansässig waren, nimmt Kirchen und Klöster in Augenschein. Er reist nicht nur durch Deutschland, sondern überall dorthin, wohin die Spuren seiner Ahnen ihm den Weg weisen. In Schillers Räubern ist von den undurchdringlichen böhmischen Wäldern die Rede. Überall finden sich Bezugspunkte zur Lausitz, dem Grenzland zwischen einer Fülle von Kulturen. Immer wieder wechselte die Lausitz ihrer Herren. Sie verschwanden zwischen den Deckeln der Geschichtsbüchern, werden von der Wissenschaft hervorgekramt, zu neuem Leben erweckt, wenn es dafür einen Anlass gibt. Laubwälder bedeckten die Lausitz. Vor allem waren es Buchen und Eichen. Die Entscheidungsträger aus dem Westen des Deutschen Reiches lockten viele Siedler in das Lausitzer Land, um einen Bevölkerungsausgleich zu den Slawen zu schaffen. Viel wurde versprochen. Das ist eine der vielen Strategien, die die Führungselite nutzt, um ihre Ziele realisieren zu können. Die neu geschaffenen Siedlungen trugen hoffnungsvolle Namen wie Frauendorf, Friedersdorf, Neuwiese, Bärwalde, Buchwalde, Burg, Burghammer, Grünewald, Guteborn, Zeißig. Viele kleine Feudal-Sitze prägten das Landschaftsbild. In den feuchten Niederungen wurden Wasserburgen gegründet und auf Hügeln Befestigungsanlagen errichtet. Diese Befestigungsanlagen bekamen Namen wie Turmhügel. Holz als Baumaterial wurde dringend benötigt. Der Raub-Abbau ließ einen folgenschweren Kahlschlag zurück. Da im Mittelalter die Technik des Aufforstens unbekannt war, verbuschte das Land. Das war die Geburtsstunde der Heide.
„Es gibt nur gesunde Luft“, stellten die Einwanderer fest, ganz gleich, aus welcher Himmelsrichtung sie kamen.
Immer mehr Holz wurde benötigt. Die kargen Landböden waren bald ausgelaugt. Die Bevölkerung verließ ihre Gehöfte. Die Heide wich Buschland. Namen von Orten wie Wüstermarke und Sorge blieben im Gedächtnis, sind Zeugnis dieser Zeiten der Not, der Entbehrungen, der Katastrophen. Die Besitzer der Lausitz wechselten die Namen je nach der politischen Situation. Fürstentümer wurden territorialer Bestandteil eines Nationalstaates. Die Lausitz wechselte von Böhmen zu Sachsen und zu Brandenburg-Preußen. Die Preußische Agrar-Reform veränderte das Landschaftsbild. Die ausgelaugten, trockenen Heide-Flächen wurden mit der anspruchslosen Kiefer bewaldet. Viele Bäche, Wasser-Rinnsale, Sümpfe und Teiche wurden trockengelegt und begradigt. Die landwirtschaftliche Nutzung der preußischen Entscheidungsträger beeinflusste das ökologische System zu Ungunsten der Umwelt.
An Stoporsk und an die Nachbargemeinde Zeleny Gozd denkt Heinz, an seine Ahnen, vertreten durch Otto und Louise und durch Oma Anna und deren Brüder. Fuß hatten sie gefasst in dem Grenzgebiet am äußersten westlichen Zipfel Schlesiens. Zeleny Gozd gehörte zum Königreich Preußen, zur Provinz Schlesien, zum Regierungsbezirk Liegnitz, zum Landkreis Wojerecy. Die südliche Grenze zwischen Sachsen und Preußen bildete der Zollweg. Stoporzk war der südlichste Zipfel Preußens, südlich des Zollweges begann Sachsen. Östlich nur wenige hundert Meter entfernt stand das Zollhaus, die Tribut fordernde Grenze zu Schlesien. Die Familien-Geschichte beginnt mit Otto und Louise Bruch, mit ihrem Hausbau auf eigenem Grund und Boden.
Stolz blickt Louise aus dem Fenster. Die Fenster sind neu. Das Haus ist neu. Alle im Dorf nennen sie Liese. Sie hat sich daran gewöhnen müssen. Beim Herrn Postdirektor und beim Herrn Pfarrer hieß sie Luise. Auf ihrem Taufschein ist amtlich die französische Schreibweise vermerkt, die aber Liese nie verwendet. Als sie ihren Otto heiratet, hat er es bereits bis zum Lokomotivführer gebracht. Es existieren Fotos, auf denen Otto und sein Heizer gemeinsam auf der Grubenbahn abgebildet sind. Deutlich sind die weißen Handschuhe zu erkennen, die Otto im Dienst trägt. Alle Maschinenteile funkeln im Sonnenlicht. Kohlenstaub auf den Geräten wird nicht geduldet. Alles blinkt vor Sauberkeit. Wie viele junge Männer aus der Heide lässt sich Otto von der Bergbaugesellschaft anwerben, die die Braunkohlevorkommen abbauen will, die unmittelbar unter der Erdoberfläche sich weiträumig ausbreiten, wie die Ingenieure herausgefunden haben. Als Holzfäller verdingen sich die jungen Männer, die aus den umliegenden Dörfern kommen. Die Wälder werden gerodet. Gewinnbringend, so glauben die Bauern, verkaufen sie ihre Felder und Wiesen an das Bergbauunternehmen. Die Landschaft verändert sich. Schienen werden verlegt. Dringend werden Arbeitskräfte benötigt. Die Dörfer wachsen, wachsen zusammen, bilden große Gemeinden, stadtähnliche Siedlungen. Dörfler, selbst Bauern werden zu Bergleuten. Otto gehört zu ihnen.