Loe raamatut: «Kein Wissen ohne Glaube»
Copyright © Claudius Verlag, München 2016
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Umschlaggestaltung: Mario Moths, Marl
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016
ISBN: 978-3-532-60012-2
INHALT
Cover
Titel
Impressum
Einleitung
1. Das Ding an sich oder was ist Wahrheit?
2. Verstandesdenken oder warum wir eine übergeordnete Wirklichkeit nicht begreifen können
3. Zeit und Raum oder wie wir eine Realität definieren, die nur relativ ist
4. Wie Weltanschauungen entstehen oder warum man sich für eine bestimmte Sicht der Dinge entscheidet
5. Glaube ist Vertrauen oder wann wird eine Aussage wahr?
6. Charakterfragen oder was unseren Glauben bestimmt
7. Das Darüberstehende oder wie man glaubt, was nicht zu verstehen ist
8. Die Sprache der Religionen oder wie man das Unbeschreibliche in Worte fasst
9. Die Pervertierung des Glaubens oder wie leicht man manipuliert werden kann
10. Extremformen des Glaubens oder wo das Unmenschliche seinen Platz hat
11. Der Glaubenssprung oder wie man zu einer emotionalen Sicht der Dinge gelangt
12. Gesunder Glaube oder leben religiöse Menschen länger und gesünder?
13. Aberglaube oder was ist dran an Astrologie, Horoskopen und Glaskugeln?
14. Über Fehlbarkeit und Versuchungen oder wie Utopisten Glaubwürdigkeit herzaubern
15. Schöne neue Welt oder wo sitzt bei einem Computer das Bewusstsein?
16. Ein Resümee zum Schluss
Anhang
Literatur
Register
Buchempfehlungen
Einleitung
Zu glauben ist schwer, nichts zu glauben ist unmöglich.
Victor Hugo
Im Jahr 2013 brachte das Magazin Der Spiegel in einer Sonderausgabe eine Übersicht über Religion und Glauben. Wer das Inhaltsverzeichnis der Ausgabe las, hatte das Gefühl, sich in einem Supermarkt zu befinden. In bunten Spalten (Regalen) gab es Angebote mit den Aufschriften: Christentum, Islam, Buddhismus, Judentum, Katholizismus, Protestantismus, Freikirchen, ganzheitliche Astrologie. Und natürlich Esoterik in allen Variationen. Der interessierte Leser konnte auswählen, welche Sparte seinen Bedürfnissen am meisten entsprach. Glaube als Mitnahmeartikel. Es fehlte nur der „Warenkorb“.
Aber was ist überhaupt Glaube?
Der Begriff Glaube umfasst vieles und lässt sich nicht allein auf religiöse oder weltanschauliche Ansichten reduzieren – auch in der Wissenschaft gibt es unzählige „gesicherte Fakten“, die nie bewiesen werden konnten und lediglich auf dem Konsens einer Gemeinde von Fachgelehrten beruhen. Zudem fällt auf, wenn wir in die Wissenschaftsgeschichte schauen, dass Objektivität ein zeitabhängiger Begriff ist. Was gestern „objektiv richtig“ war, kann heute falsch sein. Ein Dilemma, das dem Glauben Raum gibt und ihm gewissermaßen Tor und Tür öffnet. Auch politischen Programmen und Entscheidungen liegen, was man sich kaum bewusst macht, oft nur geglaubte und nicht beweisbare Inhalte zugrunde. In diesem Sinne ist es gar nicht so abwegig, wenn Parlamentsdiskussionen – überspitzt formuliert – bisweilen wie Glaubenskriege erscheinen, die gern mit viel Rhetorik und Aggression ausgetragen werden.
Solche Beobachtungen werfen die Frage auf, ob ein Mensch überhaupt ohne Glauben leben kann. Was geschähe, stützte er sich allein auf gesichertes Wissen? Wäre er da nicht wie ein Roboter, der in unvorhergesehenen Situationen völlig hilflos ist?
Der Mensch reagiert anders. Er wird versuchen, sich dem Unbekannten anzunähern, und diese Suche nach einer Neuorientierung führt fast zwangsläufig zu Glaubensinhalten. Der Grund: Unsere Wissensbasis allein ist einfach zu dürftig, um für alle Lebenssituationen Bewältigungsstrategien und Sicherheit zu bieten. Mehr noch: Unser Wissen steht zu unserem Unwissen in einer Relation, die in Ziffern ausgedrückt eine verschwindend kleine Zahl ergeben würde.
Was wiederum die Frage aufwirft, wie weit wir mithilfe von Erfahrung und Wissenschaft eigentlich in die Erkenntnis von Wahrheiten eindringen können. Es gibt Grenzen, wo das gesicherte Wissen aufhört und der Glaube beginnt, doch es gibt sogar Wissenschaften, die diesem Bereich begrenzten Verstehens zuzuordnen sind wie Quantenmechanik und Chaostheorie. „Wer sich nur auf den Verstand verlässt, kommt aus dem Elementaren nicht heraus“, hat der dänische Philosoph Sören Kierkegaard es einmal auf den Punkt gebracht.
Die Grenzen, die unserem Wissen und Verstehen gesetzt werden, sind nicht allein rational, sondern auch kognitiv bedingt, denn unser neuronal arbeitendes Gehirn entstand während der Evolution als Instrument der Selbsterhaltung, nicht der Welterkenntnis. Und möglicherweise sind unserem Verstehen sogar Grenzen gesetzt, die nie überschritten werden können.
Ein schier unerschöpfliches Thema, doch es ist nicht unbedingt das, woran wir zuerst denken, wenn das Stichwort „Glaube“ fällt. Die weltanschaulich-religiöse Sicht, um die es hier vor allem geht, wird nicht weniger kontrovers diskutiert als die Grenzen der Wissenschaft. Nicht zuletzt die Frage, was man sich unter Gott und einem Weiterleben nach dem Tod vorzustellen hat. Gerade in diesem Zusammenhang holt man gerne die wissenschaftliche Keule hervor. Erst seit beispielsweise die ersten Nahtoderfahrungen publiziert wurden, ist man bereit, Dinge zuzulassen, die sich unserem Begreifen entziehen und allen scheinbaren Gewissheiten widersprechen.
Bilder für das Unbekannte zu finden, das sich jenseits unserer Erkenntnis in nicht einsehbaren Wirklichkeiten verbirgt – das leistet der Glaube. Die uns bekannten Religionsstifter befassten sich alle mit diesem nicht Fassbaren, schufen Modelle, die Anhänger fanden und die die Welt veränderten.
Es bildete sich der Begriff „Transzendenz“ heraus.
Transzendenz kann jedoch nicht erkannt, sondern bloß erahnt werden. Sie ist nur in Bildern und Gleichnissen beschreibbar, sagte einst der Physiker Werner Heisenberg, der sich viel mit dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion beschäftigte. Was indes nicht heißt, dass dahinter keine echte Wirklichkeit verborgen ist. Ihm verdanken wir ebenfalls das folgende, ebenso launige wie weise Zitat: „Der erste Trunk aus dem Becher der Naturwissenschaft macht atheistisch, aber auf dem Grunde des Bechers wartet Gott.“
Was glauben Sie?
Lassen Sie sich ein auf eine spannende Reise in den Grenzbereich zwischen Wissen und Glauben.
1. Das Ding an sich oder was ist Wahrheit?
Albert Einstein im Jenseits: Gott gewährt ihm einen Wunsch. Einstein will nur eines: die Weltformel. Gott schreibt sie für ihn auf. Einstein strahlt. Doch dann verfinstert sich sein Gesicht: „Die ist ja voller Fehler.“ Und was sagt Gott? Er lächelt.
Zeit-Magazin, Dez. 2010
Was ist „Wahrheit“? Zunächst sind das die Erfahrungen, die wir täglich im Umgang mit der Welt machen, also die von uns erkennbaren und nachprüfbaren Naturgesetze. Mathematische Formeln und Gesetze liefern Ergebnisse und Strukturen, deren Richtigkeit von jedem mathematisch Vorgebildeten nachgeprüft werden kann. Die Wissenschaft zeigt uns Zusammenhänge, die die Welt erklären und uns in den Stand versetzen, sie nach unseren Wünschen zu gestalten und zu manipulieren. All diese Wahrheiten sind für uns begreifbar, sie besitzen Formen, die in unser Verständnis integrierbar sind. Es handelt sich gewissermaßen um in Form gegossene Realitäten, die wir uns geistig aneignen können.
Doch jenseits dieser für uns fassbaren Realität gibt es eine übergeordnete Wirklichkeit. Es ist die Gesamtheit all dessen, was in unsere erkennbare Wirklichkeit hineinstrahlt – all jene nicht begreifbaren und unbekannten Fakten, die aber die Ursache für begreifbare Vorgänge sind. Mit anderen Worten: Es ist die Wirklichkeit jenseits unserer Vorstellungskraft und jenseits unseres Bewusstseins – es sind die letzten Ursachen unserer Existenz.
Die Wahrheit besteht demnach aus einem Teil des von uns Erkennbaren und aus einem Teil, der als Transzendenz sich unseren Erkenntnissen verbirgt.
Das Problem mit den letzten Fragen
Der Oxforder Evolutionsbiologe Richard Dawkins erregte in 2006 Aufsehen mit seinem Bestseller Der Gotteswahn. Darin schreibt er, dass es keine Beweise für die Aussagen der Religionen gebe. Die Gläubigen würden nur glauben, weil sie es von Autoritäten wie Priestern und Eltern oder aus heiligen Schriften so übernommen hätten. Unter Hinweis auf die vielen Entartungen in Gestalt fundamentalistischer Religionsgruppen hält Dawkins es sogar für schädlich, an etwas zu glauben, das man nicht begründen kann. Zwar räumt er ein, dass man die Nichtexistenz eines Schöpfers nicht beweisen könne, aber das Gegenteil eben auch nicht.
Damit entfällt für ihn jede Berechtigung für eine Religion.
Kein Wunder, dass diese Thesen in religiösen Kreisen Befremden auslösten. Einige Theologen weigerten sich rundweg, sie überhaupt zu diskutieren. Dawkins fege mit einer Handbewegung eine jahrtausendalte Kulturgeschichte der Menschheit zur Seite, wetterten sie, und stelle sich selbst als den neuen Papst der Aufklärung in den Mittelpunkt. Nach Meinung vieler eine unzulässige Vereinfachung und Intoleranz gegenüber den Gläubigen aller Religionen.
Der Idee einer objektiven Wissenschaft, die Dawkins zu vertreten vorgibt, würden seine Aussagen nicht genügen, kritisierten andere Wissenschaftler wie der Biologe Rupert Sheldrake, der dazu in seinem Bestseller Der Wissenschaftswahn Stellung bezogen hat. Viele Forscher, meint er, würden an Dogmen festhalten, die längst überholt seien, und vieles basiere auf nicht beweisbaren Annahmen.
In einem hat Dawkins allerdings recht: Wenn wir alle Erkenntnis auf den Verstand und die Logik reduzieren und keine weiteren Erkenntisformen zulassen, bleiben religiöse Inhalte Spekulationen ohne Beweis.
Seit es Menschen gibt, wird versucht, den letzten Fragen unserer Existenz auf den Grund zu gehen. Die Antworten könnten unterschiedlicher nicht sein – schon in den verschiedenen Religionen herrscht statt Einigkeit Vielfalt. Die Atheisten erklären die Welt als materiell und natürlich, und die fundamentalistischen Evolutionisten führen alles Sein auf den Zufall zurück. Gott, Götter, Zufall, das Nichts – alles wird uns angeboten zur Erklärung der Welt.
Wenn wir das, was diese Welt und das Universum entstehen ließ und zusammenhält, als übergeordnete Wirklichkeit bezeichnen, dann gilt: Wir können nicht in diese Überwirklichkeit hineinschauen und müssen akzeptieren, dass es offenbar keine gesicherte Antwort auf die letzten Fragen des Seins gibt. Auch nicht seitens der Naturwissenschaft, die hier ebenfalls passen muss.
Das Dilemma der Naturwissenschaft
Diese Grenzen sind überall zu „besichtigen“. Entweder wird das Naturverhalten unbegreiflich (Quantenphysik), unberechenbar (Chaostheorie) oder unüberwindbar (Prädikatenlogik der Mathematik).
Die Quantenphysik hat es mit Phänomenen zu tun, die mit unserer Verstandeslogik nicht eingeordnet werden können, wie zum Beispiel die Dualität des Lichts oder das Verhalten verschränkter Elementarteilchen. Der Quantenphysiker Richard Feynman, der 1965 den Nobelpreis erhielt, prägte sogar über seine eigene Zunft den Satz: „Ich denke, man kann davon ausgehen, dass niemand die Quantenphysik versteht.“
Die Chaostheorie wiederum zeigt die Grenzen des Berechenbaren auf, und die Manifestationen sind mannigfaltig. So kam zum Beispiel der Mathematiker Henri Poincaré, ein Cousin des aus der Zeit des Ersten Weltkriegs bekannten französischen Staatspräsidenten Raymond Poincaré, zu der Erkenntnis, dass es prinzipiell unmöglich sei, das zeitliche Verhalten von drei der gegenseitigen Gravitation ausgesetzten Himmelskörpern mathematisch vorauszuberechnen. Die Mathematik gebe es einfach nicht her.
Dabei waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Mathematiker davon überzeugt, dass jede mathematisch sinnvolle Frage grundsätzlich beantwortet werden könne. Bezeichnend ist die Aussage des großen Göttinger Mathematikers David Hilbert, der 1900 auf einem Kongress in Paris den Satz formulierte: „In der Mathematik gibt es kein Ignorabimus“, was so viel heißt, dass die Mathematik alles beweisen und beantworten könne, was mathematisch sinnvoll sei.
Nur wenige Jahrzehnte später hingegen zeigte der Mathematiker Kurt Gödel, dass es in einer hinreichend komplexen mathematischen Disziplin durchaus Aussagen geben kann, die weder beweisbar noch widerlegbar sind. Damit war die Hilbert’sche Aussage als Utopie entlarvt worden und vom Tisch. Mehr zu den verschiedenen Phänomenen und den dazugehörigen Thesen findet sich im Anhang.
Das Kant’sche „Ding an sich“
„Denn es ist gewiss kein den Sinnen bekannter Gegenstand der Natur, von dem man sagen könnte, man habe ihn durch Beobachtung oder Vernunft jemals erschöpft, wenn es auch ein Wassertropfen, ein Sandkorn oder etwas noch Einfacheres wäre; so unermesslich ist die Mannigfaltigkeit desjenigen, was die Natur in ihren geringsten Teilen einem so eingeschränkten Verstande, wie der menschliche ist, zur Auflösung darbietet“, konstatierte vor über zweihundert Jahren der Philosoph Immanuel Kant und beschrieb damit die nicht überschreitbaren Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit. Dahinter erst liege das „Ding an sich“, wie er es nannte. Kant zufolge können wir diese Grenzen deshalb nicht transzendieren, weil wir subjektive Erkenntnisformen unzulässigerweise auf das zu erkennende Objekt übertragen. Durch diese subjektive Beeinflussung des Erkennenden aber werde, so der Philosoph, objektives Erkennen unmöglich. Interessanterweise deckt sich diese Auffassung mit dem, was später die Quantentheorie lehrte: die Subjektivität im Messvorgang, der ja ebenfalls eine Art des Erkennens ist.
2. Verstandesdenken oder warum wir eine übergeordnete Wirklichkeit nicht begreifen können
Unsere wissenschaftliche Erkenntnis hat kaum die Oberfläche ihrer komplexen Ganzheit angekratzt, unser Wissen steht zu unserem Unwissen in einer Relation, deren Ausdruck astronomische Ziffern erfordern würde.
Konrad Lorenz
Dass die übergeordnete Wirklichkeit sich unserem Begreifen entzieht, lässt Wissenschaftler aller Disziplinen nicht ruhen, und man hofft darauf, eines Tages den Stein des Weisen zu finden.
Aber wird die Wissenschaft trotz aller Fortschritte je in der Lage sein, alle Fragen zu beantworten? Oder gibt es Grenzen, die wir grundsätzlich und prinzipiell nicht überschreiten können?
Da sind zunächst die rational bedingten Grenzen, die aus unserer raumzeitlichen Wahrnehmung resultieren und außerräumliche oder außerzeitliche Erkenntnisse nicht zulassen. Hinzu kommen Begrenztheiten unseres Gehirns, denn dieses produziert reduzierte Bilder und damit auch reduzierte Wahrheiten. Unser neuronal fundiertes Denkvermögen erlaubt es nur, in bestimmten, vorgegebenen Mustern die Welt zu begreifen. Diese Muster sind wie Werkzeuge. Mit einem Werkzeug kann man viele Arbeitsprozesse erledigen, aber vermutlich nicht alle.
Raumzeitliche und andere Begrenzungen
Die Grundelemente unsers Denkens sind Erfahrungen und Bilder, die komplexe Zusammenhänge in reduzierter Form zeigen und uns erst befähigen, komplizierte Wahrheiten einzusehen. Selbst bei mathematischen Formeln ist zum Verständnis ein Vorstellungsvermögen vorausgesetzt, das sich letztlich an räumlichen Bildern orientiert.
Bilder wiederum sind stets an Raum und Zeit gebunden. Ohne das sind sie nicht denkbar, wie bereits Immanuel Kant erkannte, als er Raum und Zeit als A-priori-Voraussetzungen für Denkprozesse definierte.
Gibt es überhaupt eine Welt ohne Zeit und Raum?
Wir wissen, dass in den schwarzen Löchern des Weltraums die Zeit steht, also nicht existiert. Auch Photonen, die Elementarteilchen des Lichts, rasen ohne Zeit durch den Raum. Und wäre eine Welt ohne Raum und Zeit das, was die Religionen Ewigkeit nennen? Wir wissen es nicht. Und selbst wenn es so wäre, könnten wir diese Form des Seins nicht in Bilder fassen und damit nicht begreifen.
Wenn Raum und Zeit genauso wie Energie und Materie die formbildenden Elemente des Universums und damit unseres Denkens sind, können wir dieses raumzeitliche Gerüst nicht verlassen. Nicht nur das: Da die übergeordnete Wirklichkeit nicht an Raum und Zeit gebunden ist, ist sie für uns rational auch nicht einsehbar und damit fotografisch nicht beschreibbar.
Der zweite Grund für die Nichterkennbarkeit übergeordneter Wahrheiten hat mit unserem Gehirn zu tun, das schon evolutionsbedingt nicht angelegt ist als Instrument zur Welterkenntnis. Biologisch betrachtet, arbeitet es wie ein Tiergehirn, wenngleich wesentlich komplexer. Ein Beispiel: Im Gegensatz zum Menschen, der problemlos das Schachspielen erlernt, kann man das einem Hund nie und nimmer beibringen, weil es seine neuronalen Fähigkeiten übersteigt. Und da unser Gehirn zumindest vom Prinzip her ähnlich konzipiert ist, stellt sich natürlich die Frage, ob auch für uns neuronal bedingte kognitive Grenzen existieren.
Eine nähere Betrachtung, wie das überhaupt funktioniert mit dem Aufnehmen der uns umgebenden Wirklichkeit, schafft hier Klarheit.
Wir nehmen die Dinge um uns herum mittels sensorischer Signale auf, die wiederum neuronale Reize im Gehirn auslösen. Die Gesamtheit aller Reize formt dann ein Bild dessen, was wir aufgenommen haben, doch ist das noch keine Realität. Diese wird über energetische Reize auf unser Gehirn abgebildet, und von den gespeicherten Bildern schließen wir am Ende auf die Realität.
Über die Bilder hinaus speichern wir zeitabhängige Vorgänge, die wie Filmsequenzen oder Filmausschnitte wirken – sie sind das, was wir als Erfahrungen bezeichnen, und zusammen mit den Bildern stellen sie den Urgrund unseres Verständnisses von der Welt dar. Allerdings sind wir stets versucht, die Realität mit diesen neuronal gespeicherten Bildern und Erfahrungen zu identifizieren, was ein Trugschluss ist. Wir verwechseln sie bloß damit, denn die Realität geht weit über unser Verständnis hinaus.
Deshalb ist es sinnlos, wenn wir die Wahrheit auf unsere Verständnisebene herunterzubrechen versuchen und das, was wir dann verstehen, als absolute Wahrheit betrachten.
Kant hat sich in seiner Kritik der reinen Vernunft ebenfalls mit dieser Problematik beschäftigt und gelangte zu der Erkenntnis, dass man sich dem „Ding an sich“ zwar mithilfe der Sinnesorgane und der Vernunft annähern könne, es jedoch nie voll zu erfassen vermöge.
Uexkülls Seifenblase
Die neuronale Begrenztheit unserer Erkenntnisfähigkeit hat aus biologischer Sicht als Erster um 1900 der baltische Baron Jakob Johann von Uexküll beschrieben. Auch er stellte fest, dass uns in unserer Wahrnehmung keine objektive, sondern eine subjektive Welt umgibt. Martin Heidegger nannte Uexküll, der zweimal für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde, „einen der scharfsinnigsten Biologen unserer Zeit“.
Aus biologischer Sicht versuchte er zu begründen, dass wir auf unsere Sinneserfahrungen angewiesen sind und daher nur ein Modell der Welt in unserem Kopf haben. In seiner Schrift Umwelt und Innenwelt der Tiere heißt es, dass sich jedes Tier aus seinen sensorischen Fähigkeiten heraus, die ihm aufgrund seiner Genetik gegeben sind, eine Umwelt schafft, die ausschließlich auf seine eigenen Bedürfnisse zugeschnitten ist und nicht mehr als einen kleinen Ausschnitt der Gesamtrealität darstellt.
Bekannt wurde sein Beispiel mit der Zecke:
Sie hängt regungslos an der Spitze eines Astes in einer Waldlichtung. Ihr ist durch ihre Lage die Möglichkeit gegeben, auf ein vorbeilaufendes Säugetier zu fallen. Aus der übergroßen Welt, die die Zecke umgibt, leuchten drei Reize wie Lichtsignale aus dem Dunkel hervor und dienen der Zecke als Wegweiser, die sie mit Sicherheit zum Ziel führen.
Das erste Signal ist der Geruch von Buttersäure, den alle Säugetiere durch den Schweiß abgeben – sobald die Zecke ihn wahrnimmt, lässt sie sich fallen. Das zweite Signal ist der Tastsinn, der anzeigt, ob sie auf die Erde oder auf ein Säugetier gefallen ist, und das dritte ist die Fähigkeit, Wärme wahrzunehmen, was es ihr ermöglicht, sich auf einem Säugetier die wärmste Stelle auszusuchen.
Ähnlich steigen bei uns aus Erfahrungen resultierende Reize „aus dem Dunkel hervor“. Sie sind die Orientierungspunkte zur Vermessung der Welt, die Haltepunkte, an denen wir unser Weltbild aufhängen. Für die Zecke besteht die Welt allein aus den für sie verstehbaren Reizen. Alles darüber Hinausgehende ist für sie nicht existent. Auch für uns reduziert sich die Welt auf die erfahrbaren Reize, auf die Erfahrungswelt also. Was jenseits davon ist, bleibt ausgeschaltet.
Man stelle sich vor, wir könnten Wärmestrahlen „sehen“, aber kein Licht und keine Akustik wahrnehmen. Oder wir wären in der Lage, wie die Insekten mit Fühlern die Welt zu ergründen. Unsere Bilder wären völlig verschieden von denen, die wir jetzt besitzen – es wäre eine völlig andere Welt. Das zeigt, dass unsere Wahrnehmung im Verhältnis steht zu unserer Fähigkeit, sensorische Signale aufzunehmen und zu verarbeiten.
Mit anderen Worten: Die jeweilige Umwelt wird von uns selbst geschaffen.
Uexküll verglich die jeden Menschen umgebende Umwelt mit einer Seifenblase, die man im Leben mit sich herumträgt. „Sie ist mit uns verbunden und wir mit ihr. Innerhalb dieser Seifenblase geht für jeden von uns die Sonne auf und unter, und diese Sonnen sind sehr verschieden.“ Über den Anblick einer Buche bei einem Waldspaziergang hat er etwa geschrieben:
Dies ist nicht eine Buche, sondern meine Buche, die ich in allen Einzelheiten in meinen Sinnesempfindungen aufgebaut habe. Was ich von ihr sehe, höre oder taste, sind nicht Eigenschaften, die ausschließlich der Buche zu eigen sind, sondern es sind die von mir hinausverlegten Merkmale meiner Sinnesorgane.
Fassen wir zusammen: Es gibt zwei wesentliche Begrenzungen im Erkenntnisprozess. Zum einen unsere raumzeitliche Einengung, die es uns nicht erlaubt, das Korsett raumzeitlichen Denkens zu verlassen – zum anderen unser neuronal bedingtes Denkvermögen, das uns insofern beschränkt, als es uns die Welt nur in bestimmten, vorgegebenen Mustern begreifen lässt.