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Loe raamatut: «Der Mondstein», lehekülg 28

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»Vollkommen, Herr Murthwaite! Ich gestehe jedoch, daß ich der rationellen Erklärung der Schwierigkeit, welche ich vorhin die Ehre hatte, Ihnen vorzulegen, mit einiger Ungeduld entgegensehe.«

Herr Murthwaite lächelte. »Das ist,« sagte er, »die von allen Schwierigkeiten am leichtesten zu überwindende. Erlauben Sie mir damit zu beginnen, Ihre Darlegung des Falles als eine vollkommen correcte zu bezeichnen. Die Indier wußten unzweifelhaft nicht, was Herr Franklin mit dem Diamanten gethan hatte, denn wir finden, daß sie den ersten Fehler in der ersten Nacht nach Herrn Blake’s Ankunft in dem Hause seiner Tante begehen.«

»Ihren ersten Fehler?« wiederholte ich.

»Gewiß! Den Fehler, sich bei ihrem Herumlungern vor der Terrasse von Gabriel Betteredge überraschen zu lassen. Indessen hatten sie das Verdienst, ihren Fehler einzusehen, denn, wie Sie wieder richtig bemerken, kamen sie, obgleich sie volle Zeit dazu gehabt hätten, wochenlang nachher nicht wieder nach dem Hause.«

»Und warum, Herr Murthwaite? Das möcht ich eben wissen! Warum?«

»Weil kein Indier sich jemals einer unnöthigen Gefahr aussetzt. Die von Ihnen selbst in Oberst Herncastle’s Testament aufgenommene Clausel belehrte sie, daß der Mondstein an Fräulein Verinder’s Geburtstag in ihr unbeschränktes Eigenthum übergehen solle; nicht wahr? Nun wohl. Sagen Sie selbst, was war der sicherste Weg für Leute in der Lage der Indier? Sollten sie sich des Diamanten zu bemächtigen suchen, so lange sich derselbe unter der Obhut des Herrn Franklin Blake befand, der bereits gezeigt hatte, daß er ihnen auf die Spur zu kommen und sie zu überlisten wußte? Oder sollten sie nicht lieber warten, bis sich der Diamant in den Händen eines jungen Mädchens befände, die ihre unschuldige Freude daran haben würde, den kostbaren Edelstein bei jeder möglichen Gelegenheit zu tragen? Vielleicht verlangen sie einen Beweis der Richtigkeit meiner Behauptung. In dem Benehmen der Indier selbst müssen Sie diesen Beweis finden. Nachdem sie wochenlang gewartet hatten, erschienen sie an Fräulein Verinder’s Geburtstag wieder vor dem Hause, und sie fanden sich für die Präcision ihrer geduldigen Berechnung durch den Anblick des Mondsteins an der Brust von Fräulein Verinder belohnt. Als ich später an jenem Abend die Geschichte des Obersten und des Diamanten erfuhr, war ich so durchdrungen von den Gefahren, in denen Herr Franklin Blake geschwebt hatte – sie hätten ihn ohne Zweifel angegriffen, wenn er nicht zufälligerweise in Begleitung anderer Leute nach Lady Verinders Hause zurückgeritten wäre – und so fest überzeugt, daß noch schlimmere Gefahren Fräulein Verinder’s harrten, daß ich den Rath gab, den Plan des Obersten zur Ausführung zu bringen und die Identität des Edelsteins durch Zerschneiden in verschiedene kleine Theile zu vernichten. Wie das merkwürdige Verschwinden desselben in jener Nacht meinen Rath unnütz machte und die indische Verschwörung entscheidend durchkreuzte und wie jede fernere Thätigkeit der Indier am nächsten Tage durch ihre Verhaftung als Vagabunden gelähmt wurde, das Alles wissen sie so gut wie ich. Hier schließt der erste Art der Verschwörung. Bevor wir zu dem zweiten Akt übergehen, erlaube ich mir die Frage, ob ich Ihre Schwierigkeit in einer für einen practischen Mann befriedigenden Weise gelöst habe?«

Es war unmöglich zu bestreiten, daß ihm das, Dank seiner überlegenen Kenntniß des indischen Charakters und Dank der Möglichkeit, in der er sich befunden hatte, seit Herncastle’s Tod nicht an hundert andere Testamente denken zu müssen, vollkommen gelungen war.

»So weit wäre also die Sache klar,« fing Herr Murthwaite wieder an. »Die erste Chance, die sich den Indiern dargeboten hatte, sich. des Diamanten zu bemächtigen, war an dem Tage für sie verloren, wo sie in Frizinghall ins Gefängniß gebracht wurden. Wann bot sich ihnen nun eine zweite Chance? Die zweite Chance bot sich ihnen, wie ich zu beweisen im Stande bin, während sie noch im Gefängniß saßen.«

Er zog seine Brieftasche hervor und öffnete dieselbe an einer bestimmten Stelle, bevor er fortfuhr.

»Ich hielt mich zu jener Zeit bei Freunden in Frizinghall auf. Einen oder zwei Tage bevor die Indier ihrer Haft entlassen wurden (ich glaube, es war an einem Montag), kam der Director des Gefängnisses mit einem Briefe zu mir. Derselbe war für die Indier von einer Mrs. Macann abgegeben, bei welcher sie logirt hatten, und war Tags zuvor auf gewöhnlichem Wege durch die Post nach Mrs. Macann Hause befördert worden. Die Gefängnißbeamten hatten bemerkt, daß der Poststempel »Lambeth« lautete und daß die äußere Adresse, wiewohl in correctem Englisch geschrieben, doch eine von der gewöhnlichen Art zu adressiren sonderbar abweichende Gestalt hatte. Beim Eröffnen hatten sie den Brief in einer fremden Sprache geschrieben gefunden, welche sie mit Recht für hindostanisch hielten. An mich wandten sie sich natürlich, um eine Uebersetzung des Briefes von mir zu erbitten. Ich trug eine Abschrift des Originals und meiner Uebersetzung in meine Brieftasche ein und hier haben Sie sie beide.«

Er überreichte mir die offene Brieftasche. Die Copie begann mit der Adresse des Briefes. Sie war in einem fortlaufenden Satze ohne jede Interpunktion geschrieben, wie folgt: »An die drei indischen Männer welche bei der Dame mit Namen Macann in Frizinghall in Yorkshire wohnen.« Darauf folgten indische Lettern und endlich die englische Uebersetzung in folgenden mysteriösen Worten:

»Im Namen des Beherrschers der Nacht, dessen Sitz auf der Antilope ist, dessen Arme die vier Enden der Welt umschlingen.

»Brüder, wendet Euer Antlitz nach Süden und kommt zu mir nach der Straße vielen Geräusches, welche hinabführt zu dem schlammigen Fluß.

»Die Ursache ist folgende:

»Meine eigenen Augen haben ihn gesehen.«

Damit schloß der Brief, ohne Datum oder Unterzeichnung. Ich gab ihn Herrn Murthwaite zurück und gestand, daß dieses sonderbare Specimen indischer Correspondenz mir einigermaßen unverständlich sei.

»Den ersten Satz kann ich Ihnen erklären,« sagte er; »und die Erklärung des Uebrigen finden Sie in dem weiteren Verhalten der Indier. Der Gott des Monds wird in der indischen Mythologie als eine vierarmige auf einer Antilope sitzende Gottheit dargestellt und einer seiner Titel ist: Beherrscher der Nacht. Hier haben wir also schon etwas, das einer indirecten Bezugnahme auf den Mondstein nicht übel ähnlich sieht. Sehen wir nun zu, was die Indier thaten, nachdem die Gefängnißbeamten ihnen den Brief übergeben hatten. An demselben Tage wo sie freigelassen wurden, gingen sie ohne Weiteres nach der Eisenbahnstation und nahmen dort Plätze für den ersten Zug, der nach London ging. Wir bedauerten es in Frizinghall Alle, daß ihre Schritte nicht im Geheimen beobachtet würden. Aber nachdem Lady Verinder den Beamten, der geheimen Polizei entlassen und jeder ferneren Untersuchung über die Ursache des Verlustes des Diamanten Einhalt gethan hatte, durfte sich Niemand anders anmaßen, in der Sache zu handeln. Den Indiern stand bei ihrer Absicht, nach London zu gehen, nichts im Wege, und so reisten sie dahin. Was war die nächste Nachricht, die wir von ihnen erhielten, Herr Bruff?«

»Sie belästigten Herrn Luker,« erwiderte ich, »durch Herumlungern vor seinem Hause in Lambeth.«

»Haben Sie den Bericht über Herrn Luker’s Erscheinen vor dem Polizeirichter gelesen?«

»Ja.«

»Im Laufe seiner Angaben nahm er, wie Sie sich erinnern werden, auf einen fremden von ihm engagirten Arbeiter Bezug, den er eben auf den Verdacht eines versuchten Diebstahls hin entlassen habe, und von dem er gleichfalls argwöhnte, daß er möglicherweise mit den Indiern, welche ihn belästigt hatten, Unter einer Decke stecke. Der Schluß von diesen Angaben auf den Schreiber des Briefes, der sie eben beschäftigt hat, und auf den Schatz in Herrn Lukers Besitz welchen der Arbeiter zu stehlen versucht hatte, ist leicht genug.«

Der Schluß war, wie ich mich anzuerkennen beeilte, zu klar, um besonders hervorgehoben werden zu müssen. Ich hatte niemals daran gezweifelt, daß der Mondstein zu der Zeit, von welcher Herr Murthwaite sprach, seinen Weg in Herrn Luker’s Hände gefunden habe. Das Einzige, was mir dabei unklar geblieben, war, wie die Indier diesen Umstand erfahren hatten? Auch diese Frage, nach meiner Meinung die schwerst zu beantwortende, hatte jetzt, wie alle übrigen, ihre befriedigende Antwort gefunden. Obgleich Jurist, fing ich an einzusehen, daß ich mich blindlings der Führung des Herrn Murthwaite durch das Labyrinth anvertrauen könne, durch das er mich schon bis hierher geleitet hatte. Ich machte ihm darüber mein Compliment, das er seinerseits sehr graziös aufnahm.

»Sie müssen mir aber auch Ihrerseits mit einer Mittheilung an die Hand gehen, bevor wir fortfahren,« sagte er. Irgend Jemand muß den Mondstein von Yorkshire nach London gebracht haben und Jemand muß Geld darauf geborgt haben oder er würde nie in Herrn Luker’s Besitz gelangt sein. Ist in Betreff dieser Person irgend etwas entdeckt worden.«

»Nichts, daß ich wüßte!«

»Ein Gerücht wollte, wenn ich nicht irre, Herrn Godfrey Ablewhite mit der Sache in Verbindung bringen. Wie ich höre, ist er ein renommierter Philantrop, was zu nächst einmal gegen ihn spricht.«

Ich stimmte Herrn Murthwaite darin von ganzem Herzen bei. Gleichzeitig aber fühlte ich mich verpflichtet, ihm – ohne wie ich wohl kaum zu sagen brauche, Fräulein Verinder’s Namen zu nennen – mitzutheilen, daß Herr Godfrey Ablewhite in einer über jeden Zweifel erhabenen Weise von allem Verdacht gereinigt sei.

»Nun wohl,« sagte Herr Murthwaite ruhig, »überlassen wir es der Zeit, die Sache aufzuklären. Indessen müssen wir wieder zu den Indiern zurückkehren. Ihre Reise nach London schloß einfach damit, daß sie abermals eine Niederlage erlitten, die Vereitelung ihrer zweiten Chance, sich des Diamanten zu bemächtigen, verdankt man, glaub’ ich, vor Allem der schlauen Umsicht des Herrn Luker, – der nicht umsonst eine hervorragende Persönlichkeit in dem uralten und gedeihlichen Stande der Wucherer ist! Durch die prompte Entlassung des fraglichen Arbeiters beraubte er die Indier des Beistands, welchen ihr Verbündeter ihnen dadurch geleistet hätte, daß er ihnen den Eintritt in’s Haus verschafft haben würde. Durch den raschen Transport des Mondsteins nach dem Gewölbe seines Banquiers überraschte er die Verschwörer, bevor sie sich aus einen neuen Plan zu seiner Beraubung hätten vorbereiten können. Wie die Indier dann zu einer Kunde von diesem Transport gelangten, und was sie unternahmen, um in den Besitz des Empfangscheins des Banquiers zu gelangen, das sind zu kürzlich geschehene Dinge, als daß es nöthig wäre, dabei länger zu verweilen. Es genüge uns, zu constatiren, daß sie jetzt wissen, daß der Mondstein sich, in dem Gewölbe eines Banquiers unter der allgemeinen Bezeichnung eines kostbaren Juwels deponirt, zum zweiten Mal an einer für sie unerreichbaren Stelle befinde. Und jetzt, Herr Bruff, wo ist die dritte Chance der Indien sich des Diamanten zu bemächtigen, und wann wird dieselbe eintreten?«

In dem Augenblick, wo er diese Frage aussprach, ward mir endlich der Zweck des Besuchs des Indiers auf meinem Bureau klar!

»Ich habe es!« rief ich aus, »die Indier nehmen es für ausgemacht an, wie wir es auch thun, daß der Mondstein verpfändet ist, und suchen nun ohne Zweifel zu erfahren, wann das Pfand frühestens wieder ausgelöst werden kann, weil dieser Zeitpunkt auch der früheste ist, in welchem der Diamant aus dem sichern Gewahrsam der Bank wieder entfernt werden kann.«

»Ich habe Ihnen ja gesagt, Herr Bruff, daß Sie es selbst herausfinden würden, wenn ich Sie auf die rechte Spur führte. In einem Jahre, von dem Tage an, wo der Mondstein verpfändet worden ist, werden die Indier ihre dritte Chance auszubeuten versuchen. Aus Herrn Luker’s eigenem Munde haben sie erfahren, wie lange sie noch warten müssen, und Ihre Autorität ist ihnen Gewähr dafür, daß Herr Luker ihnen die Wahrheit gesagt hat. Wie sollen wir, nach einer wahren Annahme, die ungefähre Zeit bestimmen, wo der Diamant seinen Weg in die Hände des Geldverleihers fand?«

»Soweit ich sehe, gegen Ende des verflossenen Juni,« antwortete ich.

»Und jetzt schreiben wir 1848. Nun wohl. Wenn die unbekannte Person, welche den Mondstein verpfändet hat, ihn nach Verlauf eines Jahres wieder auslösen kann, so wird der Edelstein gegen Ende Juni 1849 sich wieder im Besitz dieser Person befinden. Ich werde um jene Zeit Tausende von Meilen von England und englischen Nachrichten entfernt sein. Aber für Sie möchte es sich der Mühe lohnen, sich dieses Datum zu merken und sich so einzurichten, daß Sie um jene Zeit in London sind.«

»Glauben Sie denn, daß sich dann etwas Entscheidendes ereignen wird?« sagte ich.

»Ich kann Ihnen nur sagen,« antwortete er, »daß ich mich unter den wildesten Fanatikern Central-Asiens für sicherer halten werde, als ich es nach meiner Ueberzeugung wäre, wenn ich mit dem Mondstein in der Tasche aus der Bank träte. Die Indier sind zweimal überlistet worden, Herr Bruff Ich glaube ganz gewiß, daß sie sich nicht zum dritten Mal werden überlisten lassen.«

Das waren die letzten Worte, die er über diesen Gegenstand sprach. Der Kaffee wurde serviert und die Tafel aufgehoben, die Gäste zerstreuten sich im Zimmer und wir Beiden gingen zu den Damen hinauf.

Ich notierte mir das Datum und es ist vielleicht nicht überflüssig meine Erzählung hier mit der Wiederholung dieser Notiz zu schließen:

»Juni 1849. Gegen Ende des Monats Nachrichten von den Indiern erwarten.«

Nachdem ich das gethan habe, überreiche ich die Feder, welche ich zu führen keinen weiteren Anspruch habe, dem mir zunächst folgenden Berichterstatter.

Dritte Erzählung

Von Franklin Blake
Erstes Capitel

Im Frühjahr 1849 war ich auf einer Reise im Orient begriffen und hatte grade meine Reisepläne, wie ich sie einige Monate vorher gefaßt und meinem Advocaten und meinem Banquier in London mitgetheilt hatte, geändert.

Diese Veränderung nöthigte mich, einen meiner Diener abzusenden, um meine Rimessen bei dem englischen Consul in einer gewissen Stadt, welche nach meinem neuen Reiseplan nicht mehr zu einer meiner Stationen gehörte, in Empfang zu nehmen. Der Mann sollte mich in einem bestimmten Zeitpunkt an einem verabredeten Platz treffen.

Ein Unfall, an dem er unschuldig war, nöthigte ihn zu einem Aufschub seiner Rückreise. Eine Woche lang warteten ich und meine Leute in einem Lager am Rande einer Wüste. Nach Verlauf dieser Zeit trat der vermißte Mann mit dem Gelde und Briefen in mein Zelt.

»Ich fürchte, ich bringe Ihnen schlimme Nachrichten Herr,« sagte er, indem er auf einen Brief mit einem Trauerrande deutete, dessen Adresse von der Hand des Herrn Bruff herrührte.

Ich kenne in solchen Fällen nichts Unerträglicheres als Ungewißheit. Der Brief mit dem Trauerrand war der erste, den ich öffnete.

Derselbe benachrichtigte mich, daß mein Vater gestorben und daß ich der Erbe seines großen Vermögens sei. Der Reichthum, welcher mir so in den Schoß gefallen war, brachte seine Verantwortlichkeit mit sich und Herr Bruff bat mich dringend, ohne Zeitverlust nach England zurückzukehren.

Am nächsten Morgen mit Tagesanbruch war ich auf dem Heimwege nach meinem Vaterlande.

Das von meinem alten Freund Betteredge zur Zeit meiner Abreise von England von mir entworfene Bild ist, glaube ich, etwas karikirt. Er hat in seiner komischen Weise eine von den vielen satyrischen Aeußerungen seiner jungen Herrin über meine ausländische Erziehung ernsthaft genommen und hat sich selbst glauben gemacht, daß er jene verschiedenen Seiten meines Charakters, die französische, englische und deutsche, über deren Entdeckung meine geistreiche Cousine zu scherzen pflegte und die außer in der Phantasie unsers guten Betteredge gar nicht existirten, auch wirklich beobachtet habe.

Aber abgesehen davon muß ich gestehen, daß er nur die Wahrheit gesagt hat, indem er mich als durch Rachel’s Behandlung in’s Herz getroffen darstellte und erzählte, daß ich England in dem ersten furchtbaren Schmerz über die bitterste Enttäuschung meines Lebens verlassen habe.

Ich ging mit dem Entschluß auf Reisen, sie, wenn Veränderung und Abwesenheit mir helfen könnten, zu vergessen. Nach meiner Ueberzeugung beruht die Behauptung, daß Veränderung und Abwesenheit einem Menschen unter diesen Umständen nicht helfen, auf einer falschen Auffassung der menschlichen Natur; sie zwingen ihn, seine Aufmerksamkeit anderen Gegenständen als den ausschließlichen Betrachtungen seines eigenen Kummers zuzuwenden. Ich habe Rachel nie vergessen, aber der Schmerz der Erinnerung verlor nach und nach seinen bittersten Stachel in dem Verhältniß, wie Zeit, Entfernung und neue Eindrücke immer wirksamer zwischen Rachel und mich traten.

Von dem Augenblick aber, wo ich meine Schritte wieder der Heimath zu lenkte, fing das Heilmittel, das bis dahin so energisch gewirkt hatte, an, seine Kraft zu verlieren. Je mehr ich mich dem von ihr bewohnten Lande und der Aussicht näherte, sie wiederzusehen, desto unwiderstehlicher fing ihr Einfluß auf mich sich wieder geltend zu machen an. Als ich England verließ, war sie die letzte Person, deren Namen ich mich entschlossen haben würde, über die Lippen zu bringen. Bei meiner Rückkehr nach England war sie die Erste, nach welcher ich mich erkundigte, als ich Herrn Bruff wieder sah.

Er setzte mich natürlich von allem Dem, was während meiner Abwesenheit vorgefallen war, mit andern Worten von Allem in Kenntniß, was hier in Fortsetzung von Betteredge’s Erzählung berichtet worden ist, mit Ausnahme eines einzigen Umstandes. Herr Bruff hielt sich zu jener Zeit nicht für berechtigt, mir die Motive mitzutheilen, unter deren geheimem Einfluß Rachel und Godfrey Ablewhite beiderseits ihr einander gegebenes Heirathsversprechen zurückgenommen hatten. Ich belästigte ihn nicht mit Fragen über diesen delicaten Gegenstand. Es war mir Trost genug, nachdem anfänglich meine Eifersucht durch die Nachricht erweckt worden war, daß sie daran gedacht habe, Godfrey’s Weib zu werden, zu hören, daß sie sich durch weiteres Nachdenken von der jähen Raschheit ihres Entschlusses überzeugt und sich selbst wieder von dieser Verbindung losgemacht hatte.

Nachdem ich von dem Vergangenen unterrichtet war, bezogen sich meine nächsten Erkundigungen nach Rachel natürlich auf die Gegenwart. Unter wessen Obhut war sie gestellt worden, nachdem sie Herrn Bruffs Haus verlassen hatte, und wo lebte sie jetzt?

Sie lebte unter der Obhut einer verwittweten Schwester des verstorbenen Sir Verinder, einer Miß Merridew, welche die Executoren ihrer Mutter ersucht hatten, als Vormünderin zu fungieren und welche dieses Amt übernommen hatte. Nach den mir gemachten Mittheilungen kamen sie vortrefflich mit einander aus und wohnten jetzt, während der Saison, in Mrs. Merridews Haus auf Portland-Place.

Eine halbe Stunde nach Empfang dieser Nachricht war ich aus dem Wege nach Portland-Place, ohne daß ich den Muth gehabt hätte, Herrn Bruff meine Absicht mitzutheilen!

Der Diener, welcher mir die Thür öffnete, war nicht sicher ob Fräulein Verinder zu Hause sei oder nicht. ich schickte ihn mit meiner Karte, als dem geeignetsten Mittel Gewißheit zu erlangen, hinauf. Der Diener kam zurück und meldete mir mit einem undurchdringlichen Ausdruck des Gesichts, daß Fräulein Verinder nicht zu Hause sei.

Bei anderen Menschen würde ich vielleicht eine absichtliche Verleugnung geargwöhnt haben, aber bei Rachel war es unmöglich. Ich hinterließ die Bestellung, daß ich um 6 Uhr Abends meinen Besuch wiederholen würde.

Um 6 Uhr wurde mir zum zweiten Mal die Antwort, daß Fräulein Verinder nicht zu Hause sei. Hatte sie irgend eine Bestellung für mich zurückgelassen? Nein. Hatte Fräulein Verinder meine Karte nicht bekommen? Allerdings.

Jetzt drängte sich der Schluß, daß Rachel mich nicht sehen wolle, zu entschieden auf, als daß ich ihn hätte zurückdrängen können.

Meinerseits konnte ich mich nicht entschließen, mich auf diese Weise behandeln zu lassen, ohne wenigstens den Versuch zu machen die Ursache dieses Benehmens zu entdecken. Ich schickte zu Mrs. Merridew hinauf und ließ sie um die Gefälligkeit bitten, mich zu irgend einer ihr convenirenden Zeit empfangen zu wollen.

Mrs. Merridew erklärte sich sofort bereit, meinen Wunsch zu gewähren. Ich wurde in ein behagliches kleines Wohnzimmer geführt und befand mich einer behaglichen kleinen ältlichen Dame gegenüber. Sie war freundlich genug, mir ihr großes Bedauern und ihre Ueberraschung über die mir von Rachel widerfahrene Behandlung auszusprechen. Gleichwohl war sie nicht in der Lage, mir irgend eine Erklärung zu geben oder eine Pression auf Rachel in einer Angelegenheit zu üben, welche mit einer Frage ganz persönlicher Gefühle zusammenzuhängen scheine, das sagte sie mit einer unermüdlich höflichen Geduld immer und immer wieder und das war Alles, was ich von Mrs. Merridews zu erlangen vermochte.

Meine letzte Chance war, Rachel zu schreiben. Am nächsten Tage brachte ihr mein Diener einen Brief mit der strikten Ordre, auf Antwort zu warten.

Die Antwort kam und bestand buchstäblich in einer Zeile.

»Fräulein Verinder bedauert, jede Correspondenz mit Herrn Franklin Blake ablehnen zu müssen.«

Je inniger ich sie liebte, mit desto tieferer Entrüstung fühlte ich die mir in dieser Antwort angethane Insulte. Noch ehe ich meine Fassung wiedergewonnen hatte, trat Herr Bruff zu mir ins Zimmer, um mit mir über Geschäfte zu reden. Ich lehnte die geschäftliche Besprechung sofort ab und legte ihm den ganzen Fall vor. Er zeigte sich eben so unfähig mir einen Aufschluß zu geben, wie Mrs. Merridew. Ich fragte ihn, ob etwa verläumderische Gerüchte über mich Rachel zu Ohren gekommen seien; ob sie, so lange sie unter Herrn Bruff’s Dach gewohnt hätte, je von mir gesprochen habe? Niemals. Ob sie sich während meiner langen Abwesenheit nicht einmal erkundigt habe, ob ich noch am Leben oder todt sei? Niemals war eine derartige Frage über ihre Lippen gekommen.

Ich zog den Brief aus meiner Brieftasche, welchen die arme Lady Verinder mir von Frizinghall aus an dem Tage geschrieben hatte, an welchem ich ihr Haus in Yorkshire verließ, und lenkte Herrn Bruffs Aufmerksamkeit auf die folgenden beiden Sätze in demselben:

»Der schätzbare Beistand, den Du bei der Untersuchung nach dem verlorenen Edelstein geleistet hast, erscheint Rachel in ihrem gegenwärtigen furchtbaren Gemüthszustand noch als eine unverzeihliche Beleidigung. Durch Dein ungestümes Vorgehen in dieser Angelegenheit hast Du die Last der Angst, die sie zu tragen gehabt, vermehrt, indem Du durch Deine Thätigkeit ihr Geheimniß mit einer Entdeckung bedroht hast.« —

»Ist es möglich,« fragte ich, »daß die hier geschilderten Gefühle gegen mich noch jetzt in ihrer ganzen Bitterkeit fortdauern?«

Herr Bruff sah unabsichtlich zerstreut aus.

»Wenn Sie auf eine Antwort bestehen,« sagte er, »so muß ich bekennen, daß ich Ihnen keine andere Erklärung von Fräulein Rachel’s Benehmen zu geben weiß.«

Ich klingelte und beorderte meinen Diener, meinen Koffer zu packen und mir ein Coursbuch zu verschaffen Herr Bruff fragte mich erstaunt, was ich wolle.

»Ich will mit dem nächsten Zuge nach Yorkshire,« antwortete ich.

»Und zu welchem Zweck, wenn ich fragen darf?«

»Herr Bruff, der Beistand, den ich unschuldiger Weise bei der Untersuchung über den Verlust des Diamanten geleistet habe, war vor ungefähr einem Jahre in Rachel’s Augen eine unverzeihliche Beleidigung und erscheint ihr noch heute so. Das ist eine für mich unerträgliche Lage! Ich bin entschlossen, das Geheimnis, ihres gegen ihre Mutter beobachteten Schweigens und ihrer Feindschaft gegen mich aufzuklären. Wenn es mit Zeit, Mühe und Geld zu bewerkstelligen ist, so will ich den Dieb des Mondsteins herausbringen.«

«Der würdige alte Herr versuchte Einwendungen zu machen, mich zur Vernunft zu bringen, kurz seine Pflicht gegen mich zu thun. Ich war taub gegen alle seine Vorstellungen. Keine Gewalt auf Erden würde in jenem Augenblick meinen Entschluß haben erschüttern können.

»Ich werde,« fuhr ich fort, »die Untersuchung an dem Punkte wieder aufnehmen, wo ich sie habe fallen lassen; und ich werde sie Schritt für Schritt weiter verfolgen, bis ich an die Gegenwart gelange. In der Beweiskette, wie sie bei meiner Abreise vorlag, fehlen Glieder, welche Gabriel Betteredge liefern kann. Und zu ihm will ich gehen!«

Gegen Sonnen-Untergang stand ich an jenem Abend wieder auf der wohlbekannten Terrasse und blickte auf das friedliche alte Landhaus. Der Erste, der mir an dem verödeten Platze begegnete, war der Gärtner. Er hatte Betteredge vor einer Stunde verlassen, wo er sich in gewohnter Weise auf dem Hofe hinter dem Hause gesonnt hatte. Der Ort war mir wohlbekannt und ich erklärte, ihn selbst dort aufsuchen zu wollen.

Ich ging auf den altbekannten Wegen um das Haus und blickte durch das offene Thor auf den Hof.

Da saß er, der liebe alte Freund jener glücklichen Tage, die nie wiederkehren sollten, in dem alten Winke! in dem alten Lehnstuhl, seine Pfeife im Munde, seinen Robinson Crusoe auf dem Schoße, mit seinen beiden Hunden, die zu seinen beiden Seiten schlummerten!

So wie ich stand warfen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne meinen Schatten gerade vor mich hin. Sei es, daß die Hunde denselben erkannten, oder daß ihr scharfer Geruch sie meine Nähe spüren ließ: sie sprangen knurrend auf. Auch der Alte wurde aufmerksam, beruhigte die Thiere mit einem Wort und hielt dann die Hand vor seine schwachgewordenen Augen und blickte forschend nach der Gestalt am Thor.

Meine eigenen Augen waren voll Thränen ich mußte einen Augenblick warten, bevor ich es wagen konnte, mit ihm zu reden.

Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
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Ilmumiskuupäev Litres'is:
04 detsember 2019
Objętość:
780 lk 1 illustratsioon
Õiguste omanik:
Public Domain

Selle raamatuga loetakse