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Loe raamatut: «Die Frau in Weiss», lehekülg 45

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XI

Die Todtenschau wurde aus gewissen Localgründen, welche bei dem Leichenbeschauer und den städtischen Behörden ins Gewicht fielen, beeilt. Dieselbe fand am Nachmittage des folgenden Tages statt. Ich war nothwendigerweise unter den Zeugen, welche für die Untersuchung vorgeladen wurden.

Mein Erstes am nächsten Morgen war, nach der Post zu gehen und den Brief zu fordern, den ich von Mariannen erwartete. Kein Wechsel der Verhältnisse, so außerordentlich derselbe auch sein mochte, konnte die eine große Sorge, die auf meinem Herzen lag, während ich von London abwesend war, in den Hintergrund drängen. Der Brief mit der Frühpost, welcher mir die einzige Sicherheit war, daß sich während meiner Abwesenheit kein Unfall ereignet hatte, war zugleich das ausschließliche Interesse, mit welchem mein Tag begann.

Zu meiner Beruhigung fand ich Mariannens Brief an mich auf der Post.

Es hatte sich Nichts ereignet – sie waren Beide so wohl und sicher, wie zur Zeit, da ich sie verlassen. Laura schickte mir ihren Gruß und bat mich, sie einen Tag vor meiner Rückkehr von derselben in Kenntniß zu setzen. Ihre Schwester fügte, um mir diesen Wunsch zu erklären, hinzu, daß sie »beinah einen Sovereign« aus ihrem eigenen Verdienste erspart habe und daß sie sich das Privilegium erbeten, das kleine Diner, das meine Heimkehr feiern sollte, selbst zu bestellen und anzuordnen. Ich las diese häuslichen kleinen Mittheilungen im hellen Morgenlichte mit der furchtbaren lebendigen Erinnerung an Das, was sich gestern Abend zugetragen hatte. Die Nothwendigkeit, Laura vor einer plötzlichen Kenntniß der Wahrheit zu schützen, war die erste Betrachtung, welche dieser Brief mir ins Gedächtniß rief. Ich schrieb augenblicklich an Marianne und erzählte ihr Alles, was vorgefallen, indem ich sie so allmälich und sorgsam wie möglich auf die Nachricht vorbereitete und sie warnte, Laura um keinen Preis während meiner Abwesenheit ein Zeitungsblatt in die Hände fallen zu lassen. Irgend einem anderen, weniger muthigen und weniger zuverlässigen Weibe gegenüber, hätte ich wohl gezögert, so ohne Rückhalt die ganze Wahrheit zu enthüllen. Aber Mariannen war ich es schuldig, meinen früheren Erfahrungen in Bezug auf sie treu zu bleiben und ihr zu vertrauen, wie ich mir selbst vertraute.

Mein Brief wurde nothwendigerweise ein langer, und er beschäftigte mich bis zu dem Augenblicke, wo ich nach der Todtenschau aufbrechen mußte.

Der gerichtlichen Untersuchung legten sich manche Verwickelungen und Schwierigkeiten in den Weg. Außer der Untersuchung über die Art und Weise, wie der Verstorbene seinen Tod gefunden, gab es ernste Fragen in Bezug auf die Ursache des Feuers, die Wegnahme der Schlüssel und die Anwesenheit des Fremden in der Sacristei zur Zeit, wo das Feuer ausbrach, zu lösen. Selbst die Identification des todten Mannes hatte noch nicht stattgefunden. Der hülflose Zustand des Dieners hatte die Polizei abgehalten, sein angebliches Erkennen seines Herrn als maßgebend anzunehmen. Sie hatte in der Nacht nach Knowlesbury geschickt, um sich Zeugen zu verschaffen, die mit Sir Percival Glyde’s persönlichem Aussehen genau bekannt waren, und hatte frühmorgens Boten nach Blackwater Park abgesandt. Diese Maßregeln setzten den Leichenbeschauer und die Geschworenen in den Stand, die Frage über die Identität zu lösen und die Richtigkeit der Behauptung des Dieners zu bestätigen, welches Zeugniß dann durch die Entdeckung gewisser Thatsachen, durch die Aussage competenter Zeugen und eine Untersuchung der Uhr des Verstorbenen noch bekräftigt wurde, welche Letztere inwendig Sir Percival Glyde’s Namen und Wappen trug.

Die nächsten Nachfragen bezogen sich auf das Feuer.

Der Diener, ich und der Knabe, welcher gehört hatte, wie in der Sacristei ein Licht angemacht worden, waren die ersten Zeugen, welche aufgerufen wurden. Der Knabe machte seine Angabe klar genug; aber des Dieners Geist hatte sich noch nicht von dem Schlage erholt, der ihn betroffen – es war augenscheinlich, daß er nicht im Stande war, den Zweck der Untersuchung zu fördern und erhielt derselbe daher Befehl, abzutreten.

Zu meiner Erleichterung währte mein Verhör nicht lange. Ich hatte den Verstorbenen nicht gekannt; hatte ihn nie gesehen; hatte von seiner Anwesenheit in Alt-Welmingham Nichts gewußt und war nicht zugegen gewesen, als man den Körper in der Sacristei gefunden. Alles, was ich beweisen konnte, war, daß ich in die Wohnung des Küsters getreten, um mich nach dem Wege zu erkundigen; daß ich von ihm von dem Verluste der Schlüssel gehört; daß ich ihn nach der Kirche begleitet, um ihm alle Hülfe zu leisten, die in meiner Macht war; daß ich das Feuer gesehen; daß ich gehört, wie im Innern der Sacristei Jemand, der mir unbekannt war, vergebens das Schloß zu öffnen versuchte; und daß ich gethan, was ich gekonnt – aus blosen Menschlichkeitsgründen – um den Mann zu retten. Andere Zeugen, welche mit dem Verstorbenen bekannt gewesen, wurden befragt, ob sie das Geheimniß seiner angeblichen Wegnahme der Schlüssel und seiner Anwesenheit in dem brennenden Zimmer erklären könnten. Aber der Leichenbeschauer nahm es natürlicherweise für ausgemacht an, daß ich als Fremder in der Nachbarschaft und für Sir Percival Glyde nicht im Stande sein würde, irgendwie Zeugniß über diese beiden Punkte abzulegen.

Mein Verfahren, nachdem mein förmliches Verhör vorüber war, schien mir vollkommen klar. Ich fühlte mich nicht berufen, mich zu einer freiwilligen Angabe meiner persönlichen Ueberzeugungen zu erbieten; erstens, weil dies keinem praktischen Zwecke dienen konnte, jetzt da jeder Beweis für meine Muthmaßungen mit dem Kirchenbuche verbrannt war; zweitens, weil ich meine Ansicht nicht auf verständliche Weise hätte auseinandersetzen können, ohne die ganze Geschichte von dem Complotte zu enthüllen und ohne wahrscheinlich auf den Leichenbeschauer und die Geschworenen denselben unbefriedigenden Eindruck zu machen, den ich bereits auf Mr. Kyrle gemacht hatte.

In diesen Blättern jedoch und nach einem so langen Zeitraume brauchen solche Berücksichtigungen die freie Mittheilung meiner Ansichten nicht länger zu hindern. Ich will daher, ehe meine Feder sich wieder mit anderen Ereignissen beschäftigt, kurz andeuten, auf welche Weise meine eigene Ueberzeugung mir die Wegnahme der Schlüssel, das Ausbrechen des Feuers und den Tod des Mannes erklärt.

Die Nachricht, daß ich wider Erwarten auf Bürgschaft frei gelassen, trieb, wie ich mir denke, Sir Percival auf seine letzten Hülfsmittel zurück. Der Angriff gegen mich auf der Landstraße war das eine derselben, und die Beseitigung jeden thatsächlichen Beweises seines Verbrechens, durch die Vernichtung des Blattes im Kirchenbuche, auf dem die Fälschung begangen, war das zweite und sicherste von beiden. Falls ich keinen geschriebenen Auszug aus dem Kirchenbuche beibringen konnte, damit derselbe mit der beschworenen Abschrift in Knowlesbury verglichen würde, so hatte ich keinen entschiedenen Beweis gegen ihn und konnte ihm daher nicht damit drohen, ihn durch Bloßstellung zu Grunde richten zu wollen. Alles, dessen er für seinen Zweck bedurfte, war, daß er ungesehen in die Sacristei gelangte, daß er das Blatt aus dem Kirchenbuche risse und dann die Sacristei ebenso unbemerkt, wie er sie betreten, wieder verließe.

Nach dieser Voraussetzung ist leicht zu begreifen, warum er bis Einbruch der Nacht wartete und warum er die Abwesenheit des Küsters benutzte, um sich die Schlüssel zu verschaffen. Er war gezwungen, ein Licht anzumachen, um das betreffende Kirchenbuch zu finden, und die gewöhnlichste Vorsicht erforderte, daß er die Thür von innen verschloß, für den Fall, daß irgend ein neugieriger Fremder oder etwa ich ihn zu stören käme, falls ich zufällig in der Nähe war.

Ich kann nicht glauben, daß es irgendwie in seiner Absicht gelegen, die Vernichtung des Kirchenbuches im Lichte eines Unfalles erscheinen zu lassen, indem er die Sacristei vorsätzlich in Brand steckte. Die blose Möglichkeit, daß schnelle Hülfe kommen und die Bücher etwa gar gerettet würden, mußte nach kurzer Ueberlegung genügt haben, um ihn den Gedanken wieder aufgeben zu lassen. Wenn ich an die Masse leicht entzündbarer Gegenstände in der Sacristei denke – an das Stroh, die Papiere, die Packkisten, das trockene Holz und die wurmstichigen alten Schränke– so deuten alle Wahrscheinlichkeiten meiner Ansicht nach darauf hin, daß das Feuer die Folge eines Unfalles war, den er entweder mit seinen Zündhölzchen oder seinem Lichte gehabt hatte.

Sein erster Impuls war unter diesen Umständen ohne Zweifel der, die Flammen zu löschen, und der zweite, da ihm dies mißlang (und er mit dem Zustande des Schlosses unbekannt war) der Versuch, durch die Thür, durch die er gekommen, zu entfliehen. Als ich ihm zugerufen, mußten die Flammen sich über die Thür, welche in die Kirche führte, erstreckt haben, zu deren beiden Seiten die Schränke standen und um welche herum die brennbaren Gegenstände lagen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er, als er durch die innere Thür zu entfliehen versucht, von dem Rauche (und den Flammen (die keinen Ausweg aus dem Zimmer fanden) überwältigt worden. Er mußte in seiner Todesohnmacht – gerade in dem Augenblicke, wo ich auf das Dach gesprungen war und das Fenster einschlug – auf der Stelle hingesunken sein, an der man ihn fand. Selbst falls es uns später gelungen wäre, in die Kirche zu dringen und die Thür von der Seite zu sprengen, so mußte der Verzug doch schon tödtlich gewesen sein. Er konnte zu der Zeit längst nicht mehr zu retten sein. Wir hätten den Flammen nur freien Eingang in die Kirche gestattet, welche jetzt gerettet war, die aber in jenem Falle das Schicksal der Sacristei getheilt haben würde. Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß er schon, ehe wir noch in der leeren Hütte anlangten und mit aller Gewalt arbeiteten, um den Balken zu lösen, todt gewesen sein mußte.

Dies ist die nächste Annäherung an eine Erklärung, die ich mir über ein Resultat zu machen im Stande bin, das eine sichtbare Thatsache war. Wie ich sie beschrieben habe, so trugen sich draußen die Ereignisse vor unsern Augen zu. Und so, wie ich es erzählt habe, wurde seine Leiche gefunden.

Die Leichenschau wurde auf einen Tag vertagt; denn es war Nichts entdeckt worden, was das Auge des Gesetzes als genügende Erklärung der geheimnißvollen Umstände des Falles hätte anerkennen können.

Man kam überein, noch mehr Zeugen zu vernehmen und den Rechtsanwalt des Verstorbenen aus London zu verschreiben. Auch wurde ein Arzt beauftragt, über den geistigen Zustand des Dieners zu berichten, da derselbe augenblicklich unfähig schien, irgendwie Zeugniß von Wichtigkeit abzulegen. Er konnte blos auf eine geistesabwesende Art und Weise wiederholen, daß er am Abende des Feuers Befehl erhalten, in dem Nebenwege zu warten, und daß er weiter von Nichts wisse, außer daß der Verstorbene ganz gewiß sein ehemaliger Herr sei.

Meine eigene Ueberzeugung ging dahin, daß man ihn (ohne schuldiges Mitwissen von seiner Seite) dazu gebraucht hatte, sich von der Abwesenheit des Küsters zu überzeugen und dann im Nebenwege (doch außer Gesichtsweite von der Sacristei) zu warten, um für den Fall, wo ich dem Angriffe auf der Landstraße entginge und hier mit Sir Percival zusammenträfe, seinem Herrn Beistand zu leisten. Ich muß jedoch hinzufügen, daß des Mannes eigene Aussage diese meine Ansicht nie bestätigt hat. Der ärztliche Bericht über ihn lautete dahin, daß das Wenige, was er an Geistesfähigkeit besitze, ernstlich erschüttert sei; in der vertagten Untersuchung wurde nichts Befriedigendes aus ihm herausgebracht, und soviel ich weiß, ist er bis auf diesen Tag noch nicht wieder hergestellt.

Ich kehrte geistig und körperlich so erschöpft und durch Alles, was ich durchgemacht, so geschwächt und niedergedrückt zum Gasthofe in Welmingham zurück, daß ich nicht im Stande war, die Unterhaltung über die Leichenschau und die trivialen Fragen zu ertragen, welche die Gäste im Kaffeezimmer an mich richteten. Ich zog mich nach meinem frugalen Mittagsmahle auf mein schlichtes Dachstübchen zurück, um mir etwas Ruhe zu gönnen und ungestört an Laura und Marianne denken zu können.

Falls ich ein reicherer Mann gewesen, so wäre ich nach London gefahren, um mich noch diesen Abend durch den Anblick der beiden lieben Angesichter zu erquicken. Aber ich war verpflichtet, bei der vertagten Untersuchung zu erscheinen und doppelt verpflichtet vor der Behörde in Knowlesbury, der für mich geleisteten Bürgschaft nachzukommen. Unser bescheidenes Kapital hatte bereits ohnedies gelitten, und die zweifelhafte Zukunft – jetzt zweifelhafter denn je – ließ mich fürchten, dasselbe unnöthigerweise noch zu verringern, wenn es selbst nur die unbedeutende Ausgabe einer doppelten Eisenbahnfahrt zweiter Klasse war.

Den nächsten Tag – den, welcher unmittelbar dem Tage der Leichenschau folgte – hatte ich zu meiner eigenen Verfügung. Ich begann den Morgen, indem ich mir erst wieder den regelmäßigen Bericht von Mariannen auf der Post abholte. Ich fand denselben wie gewöhnlich vor, und er war durchweg mit frohen Lebensgeistern geschrieben. Ich las den Brief voll Dankbarkeit durch und machte mich dann auf den Weg nach Alt-Welmingham, um den Schauplatz des Feuers beim Tageslicht in Augenschein zu nehmen.

Welche Veränderungen fielen mir, dort angelangt, ins Auge!

Durch alle Wege unserer unerfaßlichen Welt geht das Triviale mit dem Furchtbaren Hand in Hand. Die Ironie der Verhältnisse schont keine Katastrophe der Sterblichkeit. Als ich bei der Kirche anlangte, war der zertrampelte Zustand des Begräbnißplatzes die einzige ernste Spur, welche von dem Feuer und dem Tode noch zurückgeblieben. Ein roher Bretterverschlag war vor dem Eingange der Sacristei errichtet. Bereits waren grobe Carricaturen auf denselben gezeichnet, und die Dorfkinder schrieen und balgten sich um das beste Guckloch, um in die Brandstätte zu schauen. An der Stelle, wo ich den Hülferuf aus dem brennenden Zimmer gehört, an der Stelle, wo der von Entsetzen ergriffene Diener auf seine Knie gesunken, kratzte jetzt eine geschäftige Hühnerfamilie nach Regenwürmern – und auf dem Boden zu meinen Füßen, wo die Thür mit ihrer grauenvollen Last gelegen, stand das Mittagsmahl eines Arbeiters in einer gelben Schüssel in ein Tuch gebunden, und sein treuer Hund, welcher es bewachte, bellte mich an, als ich der Stelle zu nahe kam. Der alte Küster, welcher in Müßigkeit dem langsamen Anfange der Ausbesserungen zuschaute, hatte jetzt nur ein Interesse, über das er schwatzen konnte – daß er selbst nämlich nach diesem Unfalle allem Tadel entginge. Eines der Dorfweiber, deren weißes, wildes Gesicht sich mir als ein Bild des Entsetzens gezeigt, als wir den Balken heruntergerissen, stand jetzt kichernd – ein Bild der Nichtigkeit – mit einer anderen Frau beim Waschkübel. Es giebt nichts Ernstes in der Sterblichkeit! Selbst bei Salomo in all’ seiner Glorie lauerten in jeder Falte seiner Gewänder, in jedem Winkel seines Palastes die Elemente des Verächtlichen.

Als ich den Ort verließ, dachte ich – nicht zum ersten Male – daran, wie für jetzt wenigstens alle Hoffnung darauf, Laura’s Identität zu behaupten, durch Sir Percival’s Tod über den Haufen geworfen war. Er war todt – und mit ihm die Aussicht, auf die ich meine größten Hoffnungen gebaut hatte.

Konnte ich das Mißlingen meiner Bemühungen aus keinem besseren Gesichtspunkte ansehen?

Gesetzt, er wäre am Leben geblieben – würde diese Veränderung der Verhältnisse den Erfolg verändert haben? Hätte ich – selbst um Laura’s willen – meine Entdeckung als eine verkaufbare Waare benutzen können, nachdem ich gesehen, daß der Raub der Rechte Anderer das Wesen von Sir Percival’s Verbrechen ausmachte? Hätte ich ihm den Preis meines Schweigens für sein Bekenntniß des Complotts bieten können, wenn die Wirkung dieses Schweigens die sein mußte, dem rechtmäßigen Erben sein Besitzthum und dem rechtmäßigen Eigenthümer seinen Namen vorzuenthalten? Unmöglich! Falls Sir Percival am Leben geblieben, so lag es nicht in meiner Macht, die Entdeckung, von der ich (in meiner Unkenntniß der wahren Natur des Geheimnisses) so viel gehofft hatte, zu verschweigen oder bekannt zu machen, wie ich es eben zur Behauptung der Rechte Laura’s nöthig erachtet hätte. Nach den allergewöhnlichsten Regeln der Redlichkeit und Ehre hätte ich sofort zu dem Fremden gehen müssen, dessen Erbrecht Jener sich angemaßt – ich hätte meinem Siege in dem Augenblick, wo ich ihn gewonnen, entsagen müssen, indem ich die Entdeckung ohne Vorbehalt in die Hände dieses Fremden gab – und ich hätte abermals all’ den Schwierigkeiten entgegentreten müssen, die sich zwischen mir und dem einen Zwecke meines Lebens erhoben – gerade wie ich auch jetzt noch im Innersten meines Herzens entschlossen war, denselben entgegenzutreten!

Ich kehrte mit ruhigerem Gemüthe nach Welmingham zurück, indem ich mich über mich selbst und meinen Entschluß sicherer fühlte, als ich noch bisher gethan.

Auf meinem Wege nach dem Gasthofe ging ich an dem einen Ende des Platzes vorbei, in welchem Mrs. Catherick wohnte. Sollte ich nach dem Hause zurückgehen und noch einen Versuch machen, sie zu sehen? Nein. Jene Nachricht von Sir Percival’s Tode, welche die letzte Nachricht war, die sie zu hören erwartete, mußte längst zu ihr gedrungen sein. Das ganze Verfahren bei der Leichenschau war in  dem Intelligenzblatte des betreffenden Tages beschrieben worden: ich hatte ihr Nichts zu erzählen, was sie nicht bereits wußte. Mein Interesse, sie zum Sprechen zu bewegen, hatte abgenommen. Ich gedachte des heimlichen Hasses, der sich in ihrem Gesichte aussprach, als sie sagte: »Es giebt keine Nachrichten über Sir Percival, auf die ich nicht vorbereitet wäre – ausgenommen die Nachricht seines Todes.« Ich gedachte des lauernden Blickes, mit dem sie nach diesen Worten beim Scheiden meine Gestalt betrachtete. Ein Instinct tief in meinem Herzen, von dem ich fühlte, daß er ein wahrer sei, machte mir den Gedanken, sie wiederzusehen, im höchsten Grade zuwider – ich wandte mich von dem Platze ab und ging geradezu nach dem Gasthofe zurück.

Einige Stunden später, als ich allein im Gastzimmer saß, überbrachte mir der Kellner einen Brief. Derselbe war an mich adressirt und, wie man mir sagte, gerade vor Dunkelwerden, ehe das Gas angezündet gewesen, von einer Frau abgegeben worden. Sie hatte Nichts gesagt und war schon wieder fortgegangen, ehe man noch Zeit gehabt, zu ihr zu sprechen oder zu bemerken, wer sie sei.

Ich öffnete den Brief. Derselbe war weder datirt noch unterzeichnet, und die Handschrift war sichtbar verstellt. Doch ehe ich noch den ersten Satz zu Ende gelesen, wußte ich, wer der Schreiber sei. Mrs. Catherick.

Der Brief lautete folgendermaßen. – Ich schreibe ihn Wort für Wort ab:

Mrs. Catherick’s Aussage

Sir, Sie sind nicht wiedergekommen, wie Sie sagten, daß Sie thun würden. Einerlei. Ich habe die Nachricht erfahren und schreibe, um Ihnen Dies zu sagen. Sahen Sie irgend etwas Besonderes in meinem Gesichte, als Sie mich verließen? Ich dachte in meinem eignen Herzen, ob wohl der Augenblick seines Unterganges gekommen und ob Sie etwa das dazu erwählte Werkzeug seien. Sie waren es – und Sie haben diesen Untergang herbeigeführt.

Sie waren schwach genug, wie man sagt, zu versuchen, sein Leben zu retten. Wäre Ihnen Dies gelungen, so hätte ich Sie als meinen Feind betrachtet. Jetzt, da es Ihnen fehlschlug, sehe ich Sie als meinen Freund an. Ihre Nachforschungen trieben ihn in seiner Angst Nachts nach der Sacristei; Ihre Nachforschungen haben ohne Ihr Mitwissen meinem Hasse von dreiundzwanzig Jahren gedient und meine Rache vollzogen. Ich danke Ihnen, Sir, wider Ihren Willen.

Dem Manne, der Dies gethan, schuldige ich Etwas. Wie kann ich meine Schuld bezahlen? Wäre ich noch ein junges Weib, da könnte ich sagen: »Kommen Sie! Umarmen Sie mich und küssen Sie mich, wenn Sie wollen.« Ich wäre Ihnen gut genug gewesen, um selbst so weit zu gehen; und Sie wären auf meine Aufforderung eingegangen, Sir – das wären Sie – vor zwanzig Jahren! Aber jetzt bin ich eine alte Frau. Nun! Ich kann meine Schuld bezahlen, indem ich Ihrer Neugier Genüge thue. Sie waren, als Sie zu mir kamen, sehr neugierig, gewisse Privatangelegenheiten von mir zu erfahren – Sachen, hinter die Sie mit all’ Ihrer Schlauheit nicht kommen könnten ohne meine Hülfe – Sachen, die Sie selbst jetzt noch nicht entdeckt haben. Sie sollen sie erfahren. Ihre Neugier soll befriedigt werden. Ich will keine Mühe scheuen, um Ihnen gefällig zu sein, mein werther junger Freund!

Sie waren im Jahre ’27 vermuthlich noch ein kleiner Bube? Ich war zu jener Zeit eine schöne junge Frau und wohnte in Alt-Welmingham. Ich hatte einen verächtlichen Narren zum Manne. Ueberdies hatte ich die Ehre, (einerlei auf welche Weise) mit einem gewissen Herrn (einerlei wer) bekannt zu sein. Ich werde ihn nicht beim Namen nennen. Wozu auch? Es war ja nicht einmal sein eigner. Er hatte nie einen Namen. Sie wissen Das jetzt so gut, wie ich es weiß.

Es wird zweckdienlicher sein, wenn ich Ihnen sage, auf welche Weise er sich in meine Gunst einschlich. Ich war mit den Geschmacksrichtungen einer Dame geboren, und er befriedigte dieselben. Mit andern Worten, er bewunderte mich und machte mir Geschenke. Kein Weib kann der Bewunderung und Geschenken widerstehen – besonders aber Geschenken, vorausgesetzt, daß dieselben gerade die sind, welche sie gebraucht. Er war schlau genug, Das zu wissen – wie die meisten Männer. Natürlich wollte er Etwas dafür wieder haben – auch wie die meisten Männer. Und worin glauben Sie wohl, daß dieses Etwas bestand? Eine blose Kleinigkeit. Nichts, als den Schlüssel der Sacristei und den Schlüssel des dort befindlichen Schrankes, wenn mein Mann einmal abwesend sei. Natürlich log er mir Etwas vor, als ich ihn frug, wozu er so heimlich die Schlüssel gebrauchte. Er hätte sich die Mühe ersparen können – ich glaubte ihm nicht. Aber mir gefielen seine Geschenke, und ich wollte noch mehr haben. Darum verschaffte ich ihm die Schlüssel, ohne daß mein Mann es wußte, und paßte ihm dann auf, ohne daß er es wußte. Einmal, zweimal, viermal paßte ich ihm auf – und das vierte Mal kam ich hinter seine Schliche.

Ich war nie übermäßig gewissenhaft, wo es anderer Leute Angelegenheit betraf, und es beunruhigte mich nicht besonders, daß er auf eigne Hand ein Heirathscertificat zu den übrigen hinzufügte.

Natürlich wußte ich, daß es unrecht war; aber es that mir kein Unrecht an – und das war ein sehr guter Grund, kein Aufhebens darüber zu machen. Auch hatte ich noch keine goldene Uhr und Kette, und das war ein noch besserer Grund. Und er hatte mir am Tage vorher versprochen, mir Beides aus London kommen zu lassen – der dritte und beste Grund von allen. Hätte ich gewußt, wie das Gesetz das Verbrechen betrachtete und wie es dasselbe bestrafte, so hätte ich mich in Acht genommen und ihn sofort angegeben. Aber ich wußte von Nichts und sehnte mich nach einer goldenen Uhr. Die einzige Bedingung, auf der ich bestand, war, daß er mich ins Vertrauen zöge und mir Alles sagte. Ich war damals ebenso neugierig über seine Angelegenheiten, wie Sie es jetzt über die meinigen sind. Er ging auf meine Bedingung ein – Sie werden gleich sehen warum.

Folgendes ist in der Kürze, was ich von ihm erfuhr. Er erzählte mir nicht aus eignem Antriebe, was ich Ihnen hier erzählen werde. Ich brachte Einiges durch Ueberredung und Einiges durch Fragen aus ihm heraus. Ich war entschlossen, die ganze Wahrheit zu wissen – und ich glaube, ich erfuhr sie.

Er wußte bis nach dem Tode seiner Mutter ebenso wenig wie andere Leute über das wirkliche Verhältniß zwischen ihr und seinem Vater. Als sie gestorben war, gestand sein Vater ihm dasselbe ein und versprach ihm, für seinen Sohn zu thun, was er könne. Er starb, nachdem er Nichts gethan – nicht einmal ein Testament gemacht hatte. Der Sohn (und wer kann ihn dafür tadeln?) war so klug für sich selbst zu sorgen. Er kam sofort nach England und nahm Besitz von dem Grundeigenthum. Es war Niemand da, der ihn beargwöhnen oder nur Nein sagen konnte. Sein Vater und seine Mutter hatten stets wie Eheleute zusammen gelebt – und Niemand unter den Wenigen, welche mit ihnen bekannt waren, ahnte je, daß es anders sei. Der rechtmäßige Erbe (falls man die Wahrheit gekannt hätte) war ein entfernter Verwandter, der nicht im Entferntesten daran dachte, das Besitzthum je in seine Hände zu bekommen, und war außer Landes, auf dem Wasser, als sein Vater starb. Es stellte sich ihm also bis hieher keine Schwierigkeit entgegen – und er nahm Besitz, als ob sich die Sache von selbst verstünde Aber er konnte nicht Geld auf das Eigenthum erborgen, als ob es sich von selbst verstünde. Es waren zwei Dinge erforderlich, ehe er das thun konnte. Das erste war ein Geburtsschein und das zweite ein Heirathscertificat seiner Eltern. Sein Geburtsschein war leicht verschafft – er war im Auslande geboren, und der Schein war in gültiger Form vorhanden. Das andere aber bot eine Schwierigkeit dar – und diese Schwierigkeit brachte ihn nach Alt-Welmingham.

Wenn er nicht Eins berücksichtigt hätte, so wäre er statt Dessen nach Knowlesbury gegangen.

Seine Mutter hatte dort, gerade ehe sie seinem Vater begegnete – unter ihrem Mädchennamen gelebt; die Wahrheit ist die, daß sie in Wirklichkeit eine verheirathete Frau war, verheirathet in Irland, wo ihr Mann sie mißhandelt und hernach mit einer andern Person davon gegangen war. Ich gebe Ihnen diese Thatsache nach guter Autorität. Sir Felix gab sie seinem Sohne als Grund an, weshalb er seine Mutter nicht geheirathet habe. Sie wundern sich vielleicht, daß der Sohn, da er wußte, daß sich seine Eltern einander in Knowlesbury kennen gelernt, seine Streiche nicht mit dem Kirchenbuche in der Kirche zu Knowlesbury spielte, in der man billigerweise voraussetzen konnte, daß seine Eltern sich verheirathet hätten. Die Ursache hiervon war, daß der Geistliche, welcher im Jahre 1803 an der Kirche zu Knowlesbury angestellt war (in welchem Jahre seinem Geburtsscheine zufolge seine Eltern geheirathet haben sollten), noch am Leben war, als er im Jahre 1827 von dem Grundeigenthum Besitz nahm.

Dieser unbequeme Umstand zwang ihn, seine Forschungen bis auf unsere Nachbarschaft zu erstrecken. Hier gab es keine derartige Gefahr, indem der frühere Geistliche unserer Kirche seit einigen Jahren todt war. Alt-Welmingham paßte ebenso gut für seinen Zweck, wie Knowlesbury. Sein Vater hatte seine Mutter aus Knowlesbury fortgenommen und in geringer Entfernung von unserem Dorfe in einer kleinen Villa am Flusse mit ihr gelebt. Die Leute, die seine zurückgezogene Lebensweise gekannt hatten, so lange er allein gelebt, wunderten  sich nicht über dieselbe, nachdem er verheirathet war. Wäre er nicht dem Aussehen nach ein scheußliches Geschöpf gewesen, so hätte sein zurückgezogenes Leben mit der Dame vielleicht Verdacht erregt: so aber nahm es Niemand Wunder, daß er seine Häßlichkeit und seine Mißgestalt versteckte. Er lebte in unserer Nachbarschaft, bis er den Park erbte. Wer konnte nach drei oder vierundzwanzig Jahren sagen (da der Geistliche gestorben war), ob nicht seine Heirath auf ebenso zurückgezogene Weise, wie er sein übriges Leben zugebracht, in Alt-Welmingham stattgefunden habe?

Auf diese Weise also fand der Sohn, daß unsere Gegend die sicherste sei, um ganz heimlich die Sache für sein Interesse zu ordnen. Es wird Sie vielleicht überraschen, zu hören, daß Das, was er wirklich mit dem Kirchenbuche vornahm, auf die Eingebung des Augenblicks hin und ohne alle vorherige Ueberlegung geschah.

Seine erste Idee war blos (an der rechten Stelle des Jahres und des Monates), das Blatt auszureißen, es heimlich zu vernichten, nach London zurückzukehren und seinem Advocaten aufzutragen, ihm das nothwendige Heirathscertificat zu verschaffen, indem er sie natürlich ganz unschuldig auf das Datum des ausgerissenen Blattes verwies. Es konnte danach Niemand sagen, daß seine Eltern nicht verheirathet gewesen – und ob man nun unter diesen Umständen ihm das Geld leihen werde oder nicht (er meinte, man hätte es gethan), so würde er jedenfalls eine Antwort bereit gehabt haben, falls sich je eine Frage über sein Anrecht an das Eigenthum und Titel erhoben.

Als es ihm aber gelang, heimlich selbst einen Blick in das Kirchenbuch zu thun, fand er am untern Ende einer Seite des Jahres 1803 einen leeren Raum, dem Anscheine, nach leer gelassen, weil er nicht zur Aufnahme eines langen Certificates ausreichte, welches sich an der Spitze der nächsten Seite befand. Der Anblick der Gelegenheit, die sich auf diese Weise ihm darbot, veränderte alle seine Pläne.

Es war eine Gelegenheit, an die er nie gedacht, die er nie gehofft hatte, und er benutzte sie – Sie wissen auf welche Weise. Um genau mit seinem Geburtsscheine übereinzustimmen, hätte der leere Raum sich im Monat Februar des Registers befinden sollen. Statt dessen aber war er im Monat April. Indessen, falls sich hierüber Argwohn erhob, so war die Erklärung leicht zu finden. Er brauchte nur anzugeben, daß er ein Kind von 7 Monaten gewesen.

Ich war thöricht genug, einige Theilnahme und einiges Mitleid für ihn zu fühlen, als er mir seine Geschichte erzählte – worauf er gerade rechnete, wie Sie sehen werden. Ich fand, daß man ihm ein schlimmes Unrecht gethan. Es war nicht seine Schuld, daß seine Eltern nicht verheirathet gewesen; noch war es die Schuld seiner Eltern. Auch eine gewissenhaftere Frau, als ich – eine Frau, die nicht ihr Herz an eine goldene Uhr und Kette gehangen – hätte einige Entschuldigung für ihn gefunden. Jedenfalls hielt ich den Mund und schützte ihn bei Dem, was er thun wollte.

Es dauerte einige Zeit, ehe er die Tinte von der rechten Farbe herstellen konnte (welche er lange in kleinen Flaschen und Töpfchen, die ich ihm gab, hin und her mischte), und dann brauchte er wieder einige Zeit, um sich in der Handschrift zu üben. Aber am Ende gelang ihm Beides – und er machte seine Mutter, nachdem sie längst im Grabe gelegen, zu einer rechtschaffenen Frau! Soweit! leugne ich nicht, daß er sich redlich genug gegen mich benahm. Er gab mir meine Uhr und Kette und sparte kein Geld daran; Beides war von der vorzüglichsten Arbeit und sehr kostspielig. Ich besitze sie noch – die Uhr geht ausgezeichnet.

Žanrid ja sildid
Vanusepiirang:
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Ilmumiskuupäev Litres'is:
04 detsember 2019
Objętość:
961 lk 2 illustratsiooni
Õiguste omanik:
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