Loe raamatut: «Rauch auf Rügen»
Axel Witte
Rainer Wittkamp
RAUCH AUF RÜGEN
Radegasts zweiter Fall
Für Rainer (1956–2020) Freund und Co-Autor
INHALT
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DREIUNDDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
SECHSUNDDREISSIG
SIEBENUNDDREISSIG
ACHTUNDDREISSIG
NEUNUNDDREISSIG
VIERZIG
EINUNDVIERZIG
ZWEIUNDVIERZIG
DREIUNDVIERZIG
VIERUNDVIERZIG
FÜNFUNDVIERZIG
SECHSUNDVIERZIG
SIEBENUNDVIERZIG
ACHTUNDVIERZIG
NEUNUNDVIERZIG
FÜNFZIG
EINUNDFÜNFZIG
ZWEIUNDFÜNFZIG
DREIUNDFÜNFZIG
VIERUNDFÜNFZIG
FÜNFUNDFÜNFZIG
SECHSUNDFÜNFZIG
EINS
Als sie kam, war er gerade hinter seinem Haus und brachte Helga um. Er schnitt ihr den Kopf ab. Sowas hatte er noch nie gemacht. Aber es war leicht. Leichter als gedacht. Und es gab kaum Blut. Seine Finger krallten sich in ihre weißen Locken, als der Rumpf wegsackte und dann zur Seite fiel. Helga war ein Schaf. Ein weißes Schaf mit einem schwarzen Lamm. Zu seiner Überraschung blökte der Schafskopf in seiner Hand jetzt noch einmal. Und das Lamm antwortete.
Dass sie schließlich da war, spürte er, bevor er sie sah. Bevor sie überhaupt seinen Garten betreten hatte. Er drehte sich um. Sie stand da und sah ihm direkt ins Gesicht.
»Ach. Herr Schiller?«
Es klang ein wenig überrascht. Sie kam näher, selbstbewusst, mit dem ihr eigenen leicht tänzelnden Gang. Und ihrem spöttischen Blick. Schiller wusste, dass er jetzt besser nichts sagte. Da stand sie vor ihm, die Frau, die sein Leben verändert hatte. Für immer verändert. Sein Atem ging schneller. Er ließ den Schafskopf los und versuchte, bei ihr irgendeine Gefühlsregung auszumachen. Vergeblich. Aber das würde sich ändern, da war er sicher. Sie blickte auf das tote Schaf.
»Ach, Herr Schiller …«
Diesmal klang es ein wenig herablassend. Aber das störte ihn kaum. Viel mehr ärgerte er sich über das ›Herr‹. Er hatte auch einen Vornamen. Und den kannte sie. Genauso wie er ihren Namen kannte: Annekatrin. Annekatrin Struve.
Sie hatte das schwarze Lämmchen auf den Arm genommen, es schmiegte sich zitternd an ihre Brust. Sie ging über den Rasen auf das Haus zu und schaute sich systematisch um. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie einen weißen Plastikanzug trug und Plastiktüten über ihre pinkfarbenen Sneakers gezogen hatte. Wie die Spurensicherung im Fernsehen.
»Sie wissen, warum ich hier bin?«
»Natürlich«, sagte Schiller schnell. »Aber das war das erste Mal. Wirklich.«
»Sie meinen Helga? Das interessiert mich im Moment nicht«, sagte sie, während sie an ihm vorbei zur anderen Seite des Gartens ging. Offenbar immer noch auf Spurensuche. Schiller schwieg.
»Ich will Ihnen doch helfen, Herr Schiller«, sagte sie und drehte sich vor der hohen Hecke zu ihm um. »Aber dazu müssen Sie mir auch entgegenkommen.«
Den Satz hatte er von ihr schon gehört. Mehrfach. Immer wieder. Er war ihr doch immer entgegengekommen. Und zum Dank hatte sie ihn für dreieinhalb Jahre in den Knast gebracht. Diese Polizistin hatte vom ersten Tag an ein mieses Spiel mit ihm gespielt. Und aus diesem Grund war sie jetzt hier.
»Na klar, Annekatrin«, sagte er mit einem feinen Lächeln, »ich komme dir entgegen.«
Schiller ging auf Annekatrin Struve zu, die das zitternde schwarze Lamm vorsichtig auf den Boden setzte. Als sie sich aufrichtete, ließ sie beide Arme sinken, die Handflächen nach vorne, eine Geste, die wohl sagen sollte: Jetzt bin ich ganz für dich da.
»Dreieinhalb Jahre«, sagte er und ging weiter auf sie zu. Langsam zog er dabei das Fleischermesser aus seinem Gürtel. Jetzt gab es bei ihr eine Gefühlsregung, wenn auch nicht die, die er erwartet hatte. Sie lachte. Sie lachte ihn aus. Mit einer Bewegung, als wollte er sie umarmen, stieß er ihr das Messer etwas unterhalb des Schulterblatts in den Rücken. Diesmal gab es Blut. Sehr viel Blut sogar. Es kam aus ihrem Mund. Und der Kopf des toten Schafs, der auf dem Rasen lag, blökte noch einmal. Oder war sie das jetzt gewesen?
ZWEI
»Morgens siehst du aus wie der junge Sterling Hayden.«
Fabian Radegast schaute in den Spiegel und musste schmunzeln. Diesen Satz hatte Roswita gesagt, die Buchhändlerin aus Cuxhaven, mit der er vor ein paar Jahren eine Beziehung gehabt hatte. Mit dem Namen Sterling Hayden konnte er damals nichts anfangen. Aber er klang wenigstens gut. Später hatte Radegast gegoogelt und herausgefunden, dass Hayden ein Hollywoodschauspieler der 50er- und 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts war. Auf den Fotos im Netz hatte er wenig Ähnlichkeit mit sich gefunden, abgesehen von dem langen, hohen Gesicht, den meistens zusammengekniffenen dunkelbraunen Augen und dem sonnengebleichten Strubbelhaar. Aber dann hatte Radegast gelesen, dass Sterling Hayden vor und nach seiner Hollywoodkarriere ein mit allen Salzwassern gewaschener Segler gewesen war. Und ein Mann, der sich von nichts und niemandem Vorschriften machen ließ. Da hatte ihm Roswitas Vergleich dann doch gut gefallen.
Fabian Radegast spülte den Rasierer ab und wusch sich die Schaumreste aus dem Gesicht. Dann zog er die Boxershorts aus, in denen er im Sommer schlief, und trat unter die Dusche. In diesem Moment klingelte sein Smartphone auf der Fensterbank. Radegast zögerte. Er hatte dienstfrei, sollte wenigstens ein paar von seinen Überstunden abbummeln. Freizeitausgleich. Den wollte er nutzen und nach dem Frühstück mit seinem Freund und Nachbarn Ole Henning die Maschine ihres Segelboots reparieren. Aber vielleicht war Ole was dazwischengekommen. Als Radegast nach seinem Telefon griff, sah er durchs Fenster, dass Ole an Deck der Colin Archer schon mit irgendwas zugange war. Radegast nahm das Gespräch an.
»Moin, Kollege. Polizeiobermeister Vogelsang. Direktion 4.«
»Ja, moin, was gibt’s denn?«
»Wir sind hier im Einkaufszentrum Strelapark. Es wurde wieder ein Geldautomat gesprengt. Diesmal von der Pommerschen Volksbank. Keine Personenschäden, aber der Sachschaden ist heftig.«
»Okay«, sagte Radegast. »Aber da solltet ihr die Kollegin Struve anrufen. Die ist an der Sache dran. Und ich bin heute dienstfrei.«
»Ist schon klar. Haben wir ja auch«, entgegnete Vogelsang. »Aber die Kommissarin Struve ist nicht erreichbar. Nicht mobil und auch nicht übers Festnetz.«
Radegast überlegte. Es war jetzt etwa 7.30 Uhr.
»Wahrscheinlich fährt sie gerade durch ein Funkloch. Versucht es in drei Minuten noch mal.«
»Wir haben es schon seit zehn Minuten bei ihr versucht.«
Vogelsang klang jetzt etwas patzig.
»So groß ist doch kein Funkloch. Nicht mal in Vorpommern.«
»Gut«, sagte Radegast. »Ich komme rüber. Bis gleich.« Radegast duschte und zog sich dann an. Das war der sechste oder siebte Geldautomat in diesem Jahr. Immer die gleiche Methode: Die Täter leiteten Gas in das Gehäuse eines Bankautomaten, suchten Deckung und brachten das Gas zur Explosion. Dann hofften sie, dass ihnen die Kassette mit den Geldscheinen direkt vor die Füße fiele. Was sie meistens nicht tat. Die Summen, die die Täter tatsächlich erbeuteten, waren Peanuts, verglichen mit den Schäden, die sie dabei anrichteten.
In einem Fall war das Gebäude, in dem sich der Geldautomat befunden hatte, so sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, dass die Bauaufsicht es sperren lassen musste. Schließlich hatte man es ganz abgerissen.
Die Kollegin Annekatrin Struve hatte sich mit der ihr eigenen Gründlichkeit in die Sache reingekniet. Sie hatte Täterprofile entworfen, potenziell gefährdete Automatenstandorte identifiziert und inzwischen sogar so etwas wie einen Rhythmus der Täter herausgearbeitet. Die vorletzte Sprengung hatte sie fast auf den Tag genau vorhergesagt. Sie war deswegen mit ein paar Kollegen nächtelang auf Streife gewesen. Aber in jener Nacht hatten die Täter weiter weg zugeschlagen, in der Nähe von Greifswald. Radegast fragte sich, ob Annekatrin Struve vielleicht auch die Sprengung der letzten Nacht vorhergesehen hatte. Und sich dann allein auf die Lauer gelegt? Am Ende sogar am richtigen Automaten?
Radegast schüttelte den Kopf. Annekatrin hatte zwar manchmal schräge Einfälle, aber sie war ja nicht tollkühn. Oder blöd. Es musste einen anderen Grund geben, dass sie nicht erreichbar war.
Fabian Radegast zog sein weißes Sweatshirt mit den dunkelblauen Querstreifen über den Kopf und trat ins Freie. Der Rasen hinter seinem Haus, das früher mal eine Bootsremise gewesen war, fiel zum Meer hin leicht ab. Das Gras unter seinen nackten Füßen war noch taunass. Vom ziegelroten Nachbarhaus, der Bürgermeisterei von Altefähr, kam eine fröhliche Mädchenstimme.
»Hallo Fabian, moin!«
Er drehte sich um. Jana Henning winkte von der Terrasse, während sie sich aus ihrem Neoprenanzug schälte.
»Moin, Jana«, rief Radegast. »Warst du etwa schon draußen?«
»Klar«, erwiderte Jana. »Diesen Wind muss man ausnutzen. Du auch.«
Ja, schön wär’s, dachte Radegast und schaute übers Wasser. Drei bis vier Beaufort aus Ostsüdost. Würde bald wahrscheinlich noch etwas zulegen. Er dreht sich zu Jana um und beließ es bei einem wortlosen Winken. Jana, die Tochter von Ole und Laura Henning, war jetzt fast dreizehn. Schon als Fünfjährige war sie mit ihrem Vater und Radegast mitgesegelt. Vor kurzem hatte sie dann neben ihrer Schule in kurzer Reihenfolge alle notwendigen Segelscheine gemacht und ihre Begeisterung fürs Regattasegeln entdeckt.
Um nicht länger auf irgendwelche Mitsegler angewiesen zu sein, hatte sie sich für eine Einmannjolle entschieden, ein wassergängiges Turngerät namens Laser. Damit war sie inzwischen so erfolgreich, dass sie gute Chancen hatte, am Sportinternat des Olympiastützpunkts in Kiel-Schilksee angenommen zu werden. Nur ihre Mutter, die als Hebamme arbeitete, musste noch überzeugt werden.
Fabian Radegast hatte den Bootssteg erreicht, an dem die Colin Archer lag, die Ole und er gemeinsam gekauft hatten. Ein historisches Schiff, das sie nach und nach restaurierten. Oles Kopf tauchte aus dem Luk über dem Niedergang auf, ein fingerbreiter Schmier von Motoröl über seiner rechten Augenbraue.
»Na?«
»Na?«, gab Radegast zurück.
Sie kannten sich seit ewigen Zeiten und machten nie mehr Worte als nötig. Besonders morgens nicht. Aber Radegast musste seinem Freund jetzt erklären, dass er sich heute erst mal doch nicht ums Schiff kümmern konnte. Ole Henning kam ihm zuvor.
»Sieht aus, als müsstest du weg.«
»Wieso?«, fragte Radegast, ehrlich überrascht.
»Dein neuer Picasso-Pulli. Den ziehst du doch nicht an, wenn du mit mir die Maschine auseinandernimmst.«
»Stimmt. Leider«, sagte Radegast. »Dienstlich.«
»Na denn«, sagte Ole, »bis später.«
Statt einer Antwort legte Radegast die gestreckte rechte Hand an einen imaginären Mützenschirm und zwinkerte seinem Freund zu. Dann drehte er sich um und ging. Nach ein paar Schritten fiel ihm ein, dass er diese Geste neulich in einem alten Film gesehen hatte. Sterling Hayden spielte in ihm einen Kleinstadtpolizisten, der dem amerikanischen Präsidenten das Leben rettet. Einem weisen und sympathischen Präsidenten.
Knapp dreißig Minuten später stand Fabian Radegast im Strelapark vor den Trümmern eines Geldautomaten. Unterwegs im Auto hatte er selbst versucht, Annekatrin zu erreichen. Nach dem dritten Rufton war ihre Mailbox angesprungen. Daraufhin hatte er in der Dienststelle angerufen. Hella Binder, die eigentlich immer alles wusste, war überfragt. Aber sie hatte Radegast mit einem deutlichen Unterton von Besorgnis versprochen, sie werde es weiter versuchen.
Radegast drehte sich um. Polizeiobermeister Vogelsang und ein Kollege passten auf, dass niemand über das Flatterband stieg, das die beiden großzügig um den Tatort gespannt hatten. Aber da die meisten Läden hier erst um neun oder zehn aufmachten, gab es niemanden, der die Absperrung überwinden wollte. Außer den beiden Spezialisten der Kriminaltechnischen Untersuchung mit ihren weißen Anzügen und den Technikkoffern. Nachdem Radegast sie begrüßt hatte, ging er zu Vogelsang.
»Wann war die Explosion?«
»Schwer zu sagen«, meinte Vogelsang. »Hat wohl niemand gehört.«
»Bei dem Wums?«
Radegast schaute sich um.
»Da müssen doch sämtliche Alarmanlagen im Umkreis von fünfhundert Metern angegangen sein.«
Vogelsang zuckte mit den Schultern und zog seinen Block aus der Tasche. »Der Anruf kam um 6.28 Uhr von einer Arzthelferin, die bei einem Ohrenarzt hier im Gebäude arbeitet«, sagte er. »Wollen Sie sie befragen?«
»Später«, sagte Radegast und stieg über das Flatterband. »Und stellen Sie bitte die Aufnahmen der Überwachungskameras sicher.«
»Kameras?«
Vogelsang drehte sich um.
»Also, ich seh’ hier gar keine. Und das Ding aus dem Geldautomaten dürfte ja wohl hin sein.«
»Es gibt überall Kameras«, beharrte Radegast. »Zum Beispiel an der Tankstelle da drüben. Oder am Supermarkt an der Ecke, Sie sammeln bitte alles ein, was Sie finden können.«
Vogelsang setzte ein mürrisches Gesicht auf. Radegast überlegte, ob und wie er darauf reagieren sollte, als sein Smartphone klingelte.
»Ja, Hella?«
»Immer noch nichts von Annekatrin«, sagte sie. »Aber Joachim ist gerade zurückgekommen. Er war bei ihr zuhause und hat geklingelt. Niemand da. Jetzt ist die Frage, was wir unternehmen sollen. Ob wir die Haustür öffnen lassen …«
»Ihr unternehmt bitte nichts. Sowie ich hier fertig bin, komme ich rein.«
Fabian Radegast drehte sich nach Polizeiobermeister Vogelsang um, der langsam in Richtung Tankstelle schlenderte. Die Bewachung des Flatterbandes hatte er seinem Kollegen überlassen. Die Spurensicherer bewegten sich wie in Trance durch das Trümmerfeld des gesprengten Geldautomaten. Sie stellten Täfelchen auf, legten Maßstäbe aus und begannen ihre Fotos zu machen.
Radegast wusste aus Erfahrung, dass die KTU-Leute noch einige Zeit benötigen würden, und seine Gedanken kehrten zu Annekatrin zurück. Angenommen, ihr wäre tatsächlich etwas zugestoßen in ihrer Wohnung, käme es dann jetzt nicht auf jede Minute an? Er verwarf den Gedanken. Sie war verheiratet. Glücklich verheiratet. Also hätte ihr Mann längst Hilfe geholt. Es sei denn, er konnte es auch nicht. Ein defekter Gasboiler oder so etwas Ähnliches? Radegast hatte die Handynummer von Hartmut Struve nicht. Aber er war sicher, dass Hella sie kannte.
In derselben Sekunde, als Fabian Radegast das Telefon aus seiner Hosentasche ziehen wollte, klingelte es. Ihre Nummer. Er drückte die grüne Taste.
»Mensch, Annekatrin, wo steckst du denn? Alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte sie. »Alles in Ordnung.«
»Und wo bist du?« frage Radegast.
»Unterwegs zu euch.«
Bevor Radegast sich erkundigen konnte, warum sie die ganze Zeit vorher nicht ans Telefon gegangen war, hatte Annekatrin schon wieder aufgelegt. Er fragte sich, ob er sich darüber ärgern sollte. Aber er war einfach nur erleichtert. Ehrlich erleichtert.
DREI
Roland Schiller packte ein paar persönliche Gegenstände in seine Reisetasche. Viel war es ja nicht. Aber er stand vor dem Schritt in ein anderes Leben. Vor dem Schritt zurück in sein altes Leben, hätte er früher gedacht. Aber Oliver hatte ihm klargemacht, dass es ein Zurück nicht gab. Gar nicht geben konnte. Oliver war sein Freund. Und in Schillers neuem Leben würden sie Partner sein. Der Gedanke daran beruhigte ihn und machte ihn sogar irgendwie froh.
Als Schiller die Tür seines Spinds zudrückte – zum letzten Mal! –, waren die Bilder aus seinem Traum wieder da. Der Traum mit dem toten Schaf und der Polizistin. Er hatte lange nicht mehr von Annekatrin Struve geträumt. Und noch nie so deutlich und so konsequent. In seinem ersten Jahr hier in der JVA war sie ihm öfter im Schlaf begegnet, meist in irgendwelchen Verkleidungen. Oft hatte er erst nach dem Aufwachen begriffen, dass die eine oder die andere Frau in seinem Traum in Wahrheit die Polizistin war. Und es war in diesen Träumen nie so weit gekommen, dass er sie umgebracht hatte. Obwohl es diesen Wunsch auch damals gegeben hatte. Immer schon gab. Seit er sie kannte.
»Na, jetzt gib dir mal ’n Ruck.«
Roland Schiller dreht sich um. Oliver Harms grinste ihn an.
»Oder möchtest du doch noch ein paar Monate bleiben?«
»Nee, danke«, sagte Schiller, »lieber nicht.«
Harms wuchtete sich von seiner Pritsche hoch, machte zwei Schritte bis zur Tür und schlug gegen die Essensklappe.
»Hallo, Bedienung! Der Gast hier will gehen.«
Schiller lachte pflichtschuldig. Obwohl Oliver nur ein knappes Jahr älter war als er, bestand zwischen ihnen so etwas wie ein Vater-Sohn-Verhältnis. Oliver hatte sich vom ersten Tag an für ihn verantwortlich gefühlt, dem Tag nach Schillers Suizidversuch. Die Anstaltsleitung hatte ihn zu Oliver Harms in die Zelle verlegt. Und Oliver war Schillers Aufpasser geworden. Derjenige, der sagte, wo’s langging, der wusste, wie’s zu laufen hatte.
Im Unterschied zu Schiller war Oliver Harms ein richtiger Straftäter. Er saß nicht zum ersten Mal in einer JVA und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal. Das sagte er selbst. Aber vielleicht war das auch nur einer von seinen Sprüchen. Auf jeden Fall war er im Unterschied zu Schiller auch ein Menschenkenner. Und jemand, der zuhören konnte. Wenn Schiller ihm in langen Nächten von seinem Prozess erzählt hatte und von der Rolle, die Annekatrin Struve dabei gespielt hatte, war Harms nicht nur der aufmerksamste Zuhörer gewesen, den man sich wünschen konnte, er hatte seinem Zellengenossen auch klargemacht, dass der diese Polizistin vergessen musste. Sonst würde ihn das nämlich krank machen. Hier drin wären ihm doch die Hände gebunden. Dann hatte Harms ihm gezeigt, wie man bestimmte Gedanken zwar nicht auslöschen, aber zumindest vorläufig verschwinden lassen konnte. Man musste sie nur in eine Tasche packen. Richtig einpacken, am besten noch ein Handtuch drauf, dann Reißverschluss zu und ab damit oben auf den Spind. Mit ein bisschen Übung hatte das sogar funktioniert.
Jetzt allerdings stand Schillers Tasche hier vor ihm auf der Pritsche. Er zog den Reißverschluss zu. Dann hörte er den Schlüssel im Schloss. Die Tür schwang auf, und Justizsekretär Eggers streckte sein blasses Jungengesicht in die Zelle.
»Na, Herr Schiller? Bereit zum Abflug?«
»Ja, bin ich.«
»Fast«, korrigierte Harms seinen Freund. »Geh doch kurz noch mal raus, Eggers. Was jetzt kommt, das ist privat.«
Eggers zog seinen Kopf zurück. Die Tür blieb angelehnt.
Oliver Harms kam auf Roland Schiller zu und nahm ihn zwischen seine kräftigen Arme.
»Pass auf dich auf, mein Junge. Denk ab und zu mal an mich. Und vor allem: Bau keinen Scheiß.«
Seine Stimme war dabei so laut, dass sie sicher noch drei Zellen weiter zu hören war.
»Nein«, sagte Schiller nicht halb so laut, »mach’ ich schon nicht.«
»Du wirst mir fehlen, Kleiner!«
Schiller wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Und plötzlich war Olivers Mund ganz nah an seinem Ohr und seine Stimme nur ein Flüstern.
»Lass die Polizistin da in deiner Tasche. Reißverschluss zu. Und grüß meine Michaela.«
»Okay«, flüsterte Schiller zurück.
»Wenn du willst«, flüsterte Harms weiter, »gib ihr einen Kuss von mir.«
Und dann, bevor Schiller antworten konnte, ertönte wieder seine Dröhnstimme.
»So, Eggers, nu’ können wir.«
Die Tür ging wieder auf, Eggers machte eine übertrieben einladende Geste, und Schiller streifte sich den Gurt seiner Reisetasche über die Schulter. Als er die Zellentür fast erreicht hatte, klatsche Harms ihm seine rechte Pranke auf den Hintern.
»Ab dafür!«
Kurz darauf trat Roland Schiller vor die Pforte der Justizvollzugsanstalt Bützow und blinzelte in die Sonne. Obwohl die Ostsee bestimmt zwanzig Kilometer weit weg war, konnte er sie riechen. Und er schmeckte die Mischung aus Seetang und Salz auf seinen Lippen. Schiller schossen Tränen in die Augen, er konnte nichts dagegen machen. Das waren wohl Freudentränen. Er wischte sie weg und schaute auf den Zettel, den man ihm zusammen mit den Fahrkarten gegeben hatte. Gegenüber fuhr der Bus nach Schwaan, dort konnte er den Zug nach Stralsund nehmen, und in etwas mehr als zwei Stunden würde er in seinem Haus in Zirkow sein. Zurück in seinem neuen Leben. Das erste Mal nach dreieinhalb Jahren. Dreieinhalb Jahre. Für etwas, das er nicht getan hatte. Für etwas, das diese Annekatrin Struve ihm angehängt hatte. Schiller spürte, wie die Wut in ihm hochkam. Und alle hatten ihr geglaubt. Die Wut war jetzt so weit oben, dass Schiller dreimal laut ›Scheiße‹ brüllen musste. Dann nahm er seine Tasche von der Schulter und zog den Reißverschluss noch einmal auf und wieder fest zu. Obwohl er schon ganz geschlossen gewesen war. Schiller nahm die Tasche erneut auf die Schulter, als er sah, wie ein Bus an die Haltstelle rollte. Er winkte und musste ein paar Schritte rennen, um dem Busfahrer klarzumachen, dass er mitfahren wollte.