Loe raamatut: «Gnadenlos»

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Wolfgang Breuer

Gnadenlos

Ein Wittgenstein-Krimi


Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen, wie Täter und Opfer, sind frei erfunden. Allerdings spielen darin auch real existierende Personen im sehr realen Wittgensteiner Land eine gewichtige Rolle. Diesen Menschen schulde ich für ihr freundschaftliches Einverständnis dazu meinen aufrichtigen Dank. Sie machen die Geschichte ein ganzes Stück weit authentischer. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie notwendig.

Wolfgang Breuer

Gnadenlos

Ein Wittgenstein-Krimi

Foto Cover und Coverrückseite: W. Breuer

Autorenfoto: Fotoatelier Christiane

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© Herbst 2021

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E-Book: ISBN 978-3-96136-129-8

Print-ISBN 978-3-96136-128-1

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Inhalt

Dienstag, 16. Juli

Mittwoch, 17. Juli

Donnerstag, 18. Juli

Freitag, 19. Juli

Samstag, 20. Juli

Montag, 22. Juli

Donnerstag, 25. Juli

Freitag, 26. Juli

Donnerstag, 28. November

Dienstag, 16. Juli

Es war einer jener Tage im Juli 2019, an denen man sich selbst in Wittgenstein nur ausgesprochen ungern im Freien aufhielt. Eine unbarmherzige Sonne brannte vom Himmel und dörrte das Land und die Menschen aus. Jede auch noch so kleine Bewegung führte in diesen Horrortagen zu Schweißausbrüchen. Wohl dem, der da eine intakte Klimaanlage in seiner Nähe wusste.

Theo Schöneborn gehörte nicht zu den Privilegierten. Denn das Kühlaggregat an seinem Arbeitsplatz hatte kapituliert. Es war zwar erst 14:47 Uhr. Doch das digitale Thermometer am Wachtisch der Berleburger Polizei meldete eine Außentemperatur von 36,4 Grad. Und 31,3 Grad für drinnen.

Innen zwar nicht ganz objektiv gemessen. Weil irgendeine Intelligenzbestie den Messfühler in die Scheibe des großen Fensters mit Südblick geklebt hatte. Trotzdem litt Theo unter dem Gefühl, im eigenen Saft zu kochen.

Das verstärkte sich für den ‚Diensthabenden‘ zunehmend, seit er einen Mann am Telefon hatte, den er partout nicht verstehen konnte. „WER sind Sie?“, versuchte er es nun zum dritten Mal. Und wieder hörte der Kommissar nur ein geknödeltes „Wöwach“ oder so ähnlich.

Theo verdrehte die Augen. „Das darf doch alles nicht wahr sein“, motzte er halblaut. „Will der mich hier verarschen, oder was?“ Am liebsten hätte er aufgelegt. Aber was, wenn es sich bei dem Anruf tatsächlich um einen Notruf handelte? Immerhin war das Gespräch über 110 reingekommen. „Hören Sie“, versuchte er es also nochmal, „ich kann Sie nicht verstehen. Kann es sein, dass Ihr Telefon eine Macke hat?“ ‚Oder hat der Typ eine‘?, ergänzte er in Gedanken.

„Ach fo! … Wowent!“ Es folgte sekundenlanges Knarzen und Kratzen in der Verbindung – und schließlich ein klar verständliches aber irgendwie gehetztes „‘tschuldigung, mein Headset ist wahrscheinlich im Eimer. Können Sie mich jetzt verstehen?“

„Ja, jetzt verstehe ich Sie klar und deutlich.“

Der Diensthabende wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. „Okay, dann versuchen wir es noch einmal. Wer sind Sie und was kann ich für Sie tun?“

„Mein Name ist Dörnbach, Klaus Dörnbach. Ich habe hier einen Toten gefunden“, hechelte der Anrufer kurzatmig in sein Mobiltelefon.

„Einen Toten? Wo haben Sie den gefunden?“

„Auf dem Friedhof in Birkelbach. Ich bin im Moment sowas wie der Totengräber hier, verstehen Sie?“ Die Worte des Mannes kamen schleppender. Dem Anrufer schien die Hitze irgendwie noch mehr zuzusetzen als seinem Gesprächspartner.

„Aha, ein Toter. – Auf dem Friedhof in Birkelbach. – Irgendwie nichts Besonderes, oder?“ Theo wischte nochmal über Stirn und Nacken und atmete tief durch.

„Stimmt. Aber der hier liegt nicht etwa schon im Grab oder in irgendeinem Sarg. Der liegt da einfach so rum. Auf dem Weg!“

‚Was ist das denn für eine schräge Geschichte‘, dachte Theo. Wollte ihn da vielleicht einfach nur ein Kollege mit verstellter Stimme foppen? Aber auf der offiziellen Notrufleitung … Immerhin wurden die Gespräche ja aufgezeichnet.

„Wo genau liegt die Leiche denn dort?“

„Direkt vor der Kapelle. Und das noch nicht lange“, quälte sich der Mann zu sagen.

„Woher wissen Sie das?“

„Weil ich vor knapp zweieinhalb Stunden hier vorbeigekommen bin, um ein Grab fertig auszuheben.“

„Ja und?“

„Da war der noch nicht da. Da war überhaupt keiner da.“

„Und jetzt?“

„Ääh, keiner. Nur ich und der Tote. … Hören Sie, wenn Sie noch einen Moment so weitermachen, kann ich mich gleich daneben legen.“

„Sind Sie sicher, dass er tot ist?“

„Natürlich bin ich sicher. Für wie blöde halten Sie mich denn?“, schnaufte der Leichenfinder. „Keine Atmung, kein Puls und viel, viel Blut aus einem Riesenloch im Nacken. Mehr tot geht eigentlich nicht.“

Dörnbachs Stimme wurde immer schwächer. ‚Der klappt mir gleich zusammen‘, mutmaßte der Kommissar. ‚Also kein Jux‘, entschied er und fuhr die inneren Systeme hoch.

„Okay. Rühren Sie ihn bitte nicht mehr an und bleiben Sie vor Ort, Herr Dörnbach. Die Kollegen sind gleich bei Ihnen.“

„Ja. Aber machen Sie schnell. Ich halte das nicht mehr lange durch. Schicken Sie am besten gleich auch noch einen Krankenwa…“, hörte der Beamte noch ganz schwach. Dann war es still.

„Herr Dörnbach! Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Keine Reaktion. Auch nach einem zweiten und dritten Versuch. Nichts. Im Hintergrund hörte Theo lediglich ein vorbeifahrendes Auto. Die Handyverbindung war also nicht unterbrochen.

Schöneborn ließ die Leitung weiter offen und funkte sämtliche Streifen an, die im nördlichen Wittgenstein unterwegs waren. Dazu die Kripo im eigenen Haus und den Rettungsdienst mit Notarzt an Bord.

Vier Minuten später, um 14:51 Uhr, traf der erste Streifenwagen am Friedhof ein. Dirk Finkbeiner und Bernd Kleinheisterkamp hatten ihren Wagen auf dem Parkplatz abgestellt und waren die wenigen Schritte über eine Treppe bis zur Nordseite der Kapelle gerannt. „Wir sind vor Ort“, meldete Bernd mit knappen Worten an die Wache, bevor er überhaupt irgendetwas von Bedeutung wahrgenommen hatte.

Da kniete Finkbeiner bereits wenige Meter vor ihm. Als er näher kam, wurde Kleinheisterkamp schlagartig anders. „Ach du Sch…“, presste er hervor. Auf dem Boden lag ein Mann mit angezogenem linkem Bein und einer klaffenden Wunde im Genick, aus der Unmengen an Blut ausgetreten waren. Um den Kopf herum hatte sich eine große dunkelrote Lache gebildet. Ein ekelerregender Anblick, von dem auch noch ein schäbiger süßlicher Geruch ausging. Wie Leim klebte der in der Luft.

‚Zwei Liter mindestens‘, schätzte Bernd, bevor ihn eine aufsteigende säuerliche Flüssigkeit in seinen Backentaschen zum Wegschauen zwang.

Finkbeiner hatte mitbekommen, dass der Kollege durch heftiges Schlucken gegen die Übelkeit ankämpfte und bat ihn, sich auf die Suche nach dem Anrufer zu machen. Von dem war bisher weit und breit nichts zu sehen. „Hier können wir sowieso nichts mehr machen“, meinte er und streifte ein paar Vinylhandschuhe über, um ein Handy zu sichern, das neben dem Toten lag. Links vor ihm ein Strauß bunter Sommerblumen.

Mit größtem Unbehagen machte sich Bernd auf die Suche. Zumindest beim ersten Rundblick hatte er niemanden entdecken können. Keine Menschenseele sonst auf dem kleinen Friedhof. ‚Was Wunder auch‘, dachte er, ‚wer wird bei dieser Hitze schon freiwillig Grabpflege betreiben?‘ Nur oben am Hang lag ein frisch geschaufeltes Grab offen.

Entschlossen und mit nicht mehr ganz so saurer Spucke im Mund ging er ein paar Schritte weiter, um eine riesige Thuja zu umrunden. Dann sah er ihn. Auf einer Bank neben dem mächtigen Lebensbaum saß tatsächlich ein Mann in orangefarbener Arbeitshose und weißem T-Shirt. Total in sich zusammengesunken und völlig regungslos. In seinem Schoß ein Handy.

„Hallo“, sprach er den offenbar Schlafenden etwas unbeholfen an, „hallo, können Sie mal wach werden, bitte?!“ Der Mann reagierte nicht. „Hallo!“, versuchte er es erneut. Diesmal lauter. Nichts. Nur aus dem Handy kam deutlich vernehmbar ebenfalls ein „Hallo. Hallooo, Bernd, bist Du das?“ Das war Schöneborns Stimme. Noch immer stand die Verbindung mit der Wache in Berleburg.

„Ja, Kleinheisterkamp hier.“

„Wie sieht es aus bei Euch?“

„Besch…eiden. Ein Toter, männlich, erwachsen, vermutlich erschlagen, fast geköpft. Und der Mann hier bewusstlos. Ich sehe jetzt erstmal zu, dass ich den wach bekomme. Ich lasse das Handy weiter auf Empfang, okay?!“, rief er in das Gerät.

Während er von Bernd nur ein „in Ordnung“ zu hören bekam, begann er, dem Zusammengesunkenen leichte Ohrfeigen zu verpassen. Rechts, links, rechts, links. Jeder Klaps begleitet von lautem „Halloooo, haaaallooo“.

„Brüll doch nicht so!“, rief Dirk, „hier liegt schließlich ein Toter.“

„Und hier ein Bewusstloser!“, konterte Bernd. „Ich kann machen was ich will. Ich kriege ihn einfach nicht wach.“

Plötzlich waren Martinshörner zu hören, die schnell näher kamen. Kurz vor der Friedhofskapelle gaben die Alarmtröten schließlich auf und wenig später standen zwei Männer von der Rettung auf dem Friedhof.

„Okay, ich glaub’, ich lass’ das mal mit dem Wachmachen“, rief Kleinheisterkamp ins Handy. „Der Notarzt ist gerade gekommen. Ich mach’ dem mal Platz hier.“

Doch der Mediziner reagierte nicht auf sein Winken. Er nickte zunächst nur Dirk zu und ging neben dem Toten in die Hocke. Doch des Arztes Hoffnung, in der blutigen Hülle noch eine Spur von Leben zu finden, war bald geschwunden. Nach wenigen Tests schüttelte er sachte den Kopf und stand auf.

„Kommen Sie, Herr Doktor, bitte!“, rief Bernd dem Mann in Weiß zu. „Hier ist noch ein Mann. Aber der lebt.“

Der Arzt setzte sich in Gang. ‚Doktor P. Kulenkamp‘ stand auf seinem Namensschild. Nach einem knappen „Hallo“ beugte er sich über den Mann auf der Bank, fühlte nach dessen Puls und kontrollierte die Pupillen.

„Schnelle Atmung, erhöhter Puls, niedriger Blutdruck und“, dabei legte er seine Hand auf Dörnbachs Stirn, „mindestens 40 Fieber“, raunte er dem zweiten Retter zu, der neben ihm aufgetaucht war. „Machst Du schnell ein EKG?“, bat er den drahtigen Assistent, der mit einem ganzen Bauchladen von Instrumentarien bepackt war.

„Sagen Sie, war er noch bei Bewusstsein, als Sie hier ankamen?“ Kleinheisterkamp, der sich dafür verfluchte, dass er am Morgen noch ein Unterhemd unter das Poloshirt angezogen hatte, schaute den Doc an und schüttelte den Kopf. „Nö. Er saß da, als ob er schliefe. Ich wollte ihn wach machen. Doch er zeigte keine Reaktion. Das Revier hatte uns schon darüber informiert, dass der Mann bei der Meldung des Totenfundes am Telefon plötzlich immer leiser geworden sei.“

„Typisch für einen Hitzschlag!“, rief der Arzt seinem Assistenten zu. Sein Blick auf das Display des hastig angeschlossenen EKG’s bestärkte ihn offenbar in seiner Diagnose. „Mach’ mir bitte eine Ringer-Infusion fertig. Und dann müssen wir ihn kühlen. Raus hier aus der Sonne!“

Wenig später lag Klaus Dörnbach auf der Fahrtrage des Rettungswagens und wurde im Schatten der Einsegnungshalle mit Wasser auf den Unterarmen langsam heruntergekühlt. Der Fahrer des Rettungswagens hatte praktischerweise gleich eine ganze Gießkanne voller Blumenwasser aus dem Becken geholt, an dem sich sonst die Friedhofsbesucher bedienen können.

„Übertreib’s bitte nicht!“, rief der Arzt, während er den Totenschein für den Mann am Boden ausfüllte, „aber die Temperatur muss deutlich runter.“ ‚Todesursache unklar‘ schrieb er.

„Ich vermute, der Mann ist mit einem scharfkantigen schwereren Gegenstand erschlagen worden. Vielleicht war es ein Spaten, mit dem ihm das Genick gebrochen wurde“, erklärte er den beiden Polizisten. „Etwas ähnliches habe ich mal in einer Dokumentation über militärischen Nahkampf gesehen.“

Kleinheisterkamps Innenleben kam erneut in Bewegung. Doch der Beamte wollte sich keine weitere Blöße geben und versuchte sich in Routine. „Doktor, können Sie etwas über den Todeszeitpunkt sagen?“

„Schwierig bei der Hitze. Ich schätze, zwischen 13:15 Uhr und 14:00 Uhr.“

„Das deckt sich ungefähr mit dem, was der Anrufer unserem Diensthabenden am Telefon erzählt hat“, schaltete sich Dirk Finkbeiner ein und schabte sich am Hinterkopf. „Aber vielleicht hat er ja was gesehen“, deutete er in Richtung des bewusstlosen Totengräbers.

Als habe der zugehört, kam plötzlich Bewegung in Klaus Dörnbach. Brüllend bäumte er sich auf und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. „Boooaaah, ich glaub’, mir fliegt der Schädel weg!“ Ungelenk wedelte er mit den Armen und versuchte, sich von der Infusion zu befreien. Doch der Rettungssanitäter unterband diese Aktion. „Vorsicht!“, rief er, „legen Sie sich bitte wieder hin. Es geht Ihnen nicht gut. Sie waren die ganze Zeit über bewusstlos.“

„Aber ich hab’ so wahnsinnige Kopfschmerzen. Mensch, gebt mir doch was, damit das aufhört.“

„Okay, okay“, rief Dr. Kulenkamp, „das ist zwar nicht die erste Wahl. Aber Sie kriegen was.“ Mit einem Griff in seine ‚Doc Adams-Tasche‘ beförderte er eine Spritze zutage und leerte deren Inhalt in den Venenzugang, über den auch die Kochsalz-Infusion in den linken Arm des Patienten tropfte. „Es wird Ihnen gleich besser gehen“, beruhigte er den Mann in der Arbeitskluft.

„Komm, gib mal `n bisschen Gummi. Die haben die Leiche schon abtransportiert, bevor wir am Tatort aufschlagen“, nörgelte Pattrick Born ungeduldig. „Wir hätten schon längst da sein müssen.“

„Wusstest Du, dass diese Scheiß-Bahnschranke vor der Alten Mühle kaputt ist?“, blaffte Rüdiger Mertz zurück. „Da kommt da alle Schaltjahre mal ein Zug. Und dann geht dieses Miststück einfach nicht mehr auf“, erinnerte er diese beknackte Situation. „Und du stehst da und kommst nicht vor und nicht zurück.“

Gefühlte zehn Minuten hatten sie warten müssen, bis sich schließlich die Schranke öffnete und sich die mittlerweile entstandenen Fahrzeugpulks wieder in Gang setzten.

Immerhin hatten sie derweil per Handy die gröbsten Infos bei den Kollegen auf dem Friedhof in Birkelbach abfragen und alles Mögliche in die Wege leiten können. Die SpuSi war informiert und Vertragsarzt Dr. Louis Peter, als Leichenbeschauer. Die Rechtsmedizin in Siegen hatte keine Kapazitäten frei. „Fahren Sie außen rum über Hemschlar und Schameder“, hatten sie dem Arzt nahegelegt, „sonst stecken Sie im selben Schlamassel wie wir.“

„Guck, da isser schon“, meldete Mertz, als sie auf den Parkplatz unterhalb des Friedhofs fuhren. Vor ihnen war gerade ein schlanker Mann in komplett weißen Klamotten aus einem BMW geklettert. Zwei Streifenwagenbesatzungen begannen gerade, um den Friedhof herum nach auffälligen Fundstücken zu suchen.

„Warten Sie Doktor!“, rief ihm Born hinterher, „wir kommen mit.“

„Sorry, habe nicht viel Zeit“, rief der über die Schulter und verschwand schnellen Schrittes über eine Treppe. Die Kripo-Männer trabten hinterher. Doch weit kamen sie nicht.

„Entschuldigung“, sprach sie eine Frau an, „sind Sie von der Polizei?“

„Allerdings“, antwortete Pattrick Born, „was können wir für Sie tun?“

„Was ist hier passiert?“, fragte die recht kleine, untersetzte Dame mit Rollator, die so etwas wie ein Piratenkopftuch trug.

„Es gab einen Todesfall auf dem Friedhof.“

„Ach Gott“, gluckste sie, „ein Todesfall auf einem Friedhof. Wie überraschend. Seit wann müssen sich denn Polizei und Rettungsdienst um Verstorbene auf Friedhöfen kümmern? Und dann noch mit einem solchen Aufwand.“ Dabei machte sie mit ihrem rechten Arm eine ausladende Bewegung und wäre dabei fast vornüber gestürzt. Verlegen lachte sie auf und fand schließlich Halt an ihrem Gefährt.

Pattrick winkte verärgert ab. „Seien Sie bitte nicht albern“, bat er. „Das ist eine sehr ernste Sache hier. Für sowas haben wir wirklich keine Zeit. Verzeihen Sie also bitte, dass wir uns verabschieden. Schönen Tag noch und alles Gute.“

Zack, waren die beiden Kriminaler unter einem Polizei-Absperrband hindurchgeschlüpft. Zum Glück waren sie noch rechtzeitig zur Leichenschau gekommen.

In gebührendem Abstand zum Toten, der von Louis Peter umgedreht und sogar einmal aufgesetzt wurde, standen der Notarzt und die Kollegen Kleinheisterkamp und Finkbeiner.

Nach wie vor kühlten die beiden Sanis den überhitzten Dörnbach, bei dem inzwischen die schmerzstillende Spritze angeschlagen hatte. Er war samt Fahrtrage so umgedreht worden, dass er das Szenario nicht mitansehen musste.

Gleichwohl war nicht zu verhindern, dass er Ohrenzeuge der Suche nach der Todesursache wurde.

„Keine Frage, dem Mann wurde mit großer Wucht ein Schlag in den Nacken versetzt“, dozierte Doktor Peter. „Tatwaffe vermutlich ein schweres scharfkantiges Metallteil. Damit wurde ihm das Genick gebrochen. Der Tod trat sehr wahrscheinlich sofort ein.“

Die Luft über dem Friedhof flirrte vor Hitze. Vor den Augen der Umherstehenden waberten die Grabsteine und schienen wie in einer Fata Morgana über dem Boden zu schweben. Nicht der kleinste Luftzug bewegte die Blätter an den alten Bäumen. Und kein Vogel gab auch nur einen Laut von sich. Auch unten im Ort schien das Leben erstorben zu sein.

Selbst der Leichenbeschauer hielt für einen Moment inne. Man hatte den Eindruck, als habe die ganze Welt in diesem Moment aus Ehrfurcht vor der Situation den Atem angehalten. ‚Das nennt man wohl Grabesstille‘, sinnierte Pattrick Born.

Doch plötzlich riss ein deutlich vernehmbares Räuspern die Anwesenden aus ihren Gedanken. Das „Chrp-hmmm“ wirkte fast wie Lärm, obwohl es von weiter oben auf dem Friedhof kam. Richtiggehend erschreckt schauten die Anwesenden alle gleichzeitig in diese Richtung. Wer traute sich da, diese unheimliche Andacht zu stören?

Es war die Frau mit dem Rollator. Sie war wohl durch das obere Tor auf den Gottesacker gekommen und lehnte nach vorn gebeugt auf den Griffen ihres fahrbaren Untersatzes. Als sie sah, dass sie entsprechende Aufmerksamkeit erregt hatte, baute sie sich mühsam auf und winkte heftig. „Hallo, kann bitte mal einer der Herren Polizisten zu mir kommen?!“, rief sie. „Ich muss Ihnen was Wichtiges berichten.“

„Ach, nicht schon wieder“, brummte Pattrick Born. „Die Frau ist extrem neugierig.“ Verärgert fragte er: „Hat eigentlich jemand vergessen, das Tor dort oben mit Absperrband dicht zu machen? Oder hat sie das einfach ignoriert?“

„Nee“, meinte Kleinheisterkamp kleinlaut.

„‚Nee‘ in Form von was? Nee, nicht abgesperrt, oder nee, ignoriert.“

„Nee, nicht abgesperrt.“

„Okay, dann geh jetzt bitte zu ihr und frag sie, was sie zu berichten hat. Der Dame scheint es ja nicht besonders gut zu gehen, wenn ich sie mir so angucke. Und vergiss das Trassenband nicht, damit Du hinter ihr absperren kannst.“

‚Ja, ja, mein Herr, ich lauf ja schon‘, kochte es in dem Polizeihauptmeister. ‚Ihr von der Kripo nehmt euch heute mal wieder besonders wichtig, was?! Keine Sau hatte vorhin die Zeit dazu, dort oben zu gucken, ob es noch ein zweites Tor gibt. Aber zu spät kommen und dann motzen, das könnt ihr euch erlauben, ohne, dass man als Fußvolk den Mund auftun darf.‘ Kleinheisterkamp, wegen seiner dauerblassen Haut von den Kollegen heimlich auch ‚Kleingeisterbahn‘ genannt, spuckte innerlich Gift und Galle.

„Komm Kollege, ich gehe mit Dir“, hörte er plötzlich die Stimme von Sven Lukas neben sich. Der ‚Freak‘ war aufgetaucht wie Phönix aus der Asche. Genauso wie der Kripo-Chef, der sich hinter Sven gerade zu der Leiche herunterbeugte.

„Wo kommt Ihr denn plötzlich her?“, fragte Bernd verdattert.

„Geflogen, mein Lieber, geflogen“, lächelte der ‚Freak‘ und schnappte nach der Rolle mit dem Plastikband, die der andere gerade von einer Bank aufgepickt hatte.

„Quatsch, Du musst nicht mitkommen. Ich bin schon alleine groß“, wehrte sich Bernd.

„Kein Widerspruch“, lächelte Sven, „ich sehe doch, wie angefressen Du bist. Jetzt stell Dich nicht so an. Ich komme mit. Pattrick hat das nicht so gemeint.“

„Hat er wohl. Der kann einem manchmal ganz schön auf die …“

„Pssst!“, fuhr Sven dazwischen, „mach Dich nicht unglücklich und komm mit. Jetzt interviewen wir beide erst mal die Dame da oben und dann sperren wir das Tor ab. Okay?“

„Okay.“ Widerwillig lief Bernd Seite an Seite mit Lukas bergan. „Bist Du eigentlich über die Lage informiert?“, fragte er eher beiläufig.

„Klar, Schöneborn hat uns während unserer Anfahrt über Funk eingeweiht.“

„Na, dann ist es ja gut“, wirkte Kleinheisterkamp immer noch etwas unwirsch. Irgendwie stank es ihm, dass einem die Leute von der Kripo immer den Zucker von der Schnitte leckten, sobald sich mal ein interessanter Fall auftat.

Als sie oben ankamen, erhellte sich die Miene der Frau mit dem Piratentuch. „Schön, dass Sie kommen konnten“, grüßte sie breit lächelnd. „Ich bin Britta Homrighausen. Guten Tag.“ ‚Wie kann man in einer solchen Scheiß-Situation nur so fröhlich sein?‘, fragte sich der Kommissar, dem nicht entgangen war, dass die Frau größte Probleme hatte, aufrecht stehen zu bleiben, während sie ihre rechte Hand zum Gruß anbot. ‚Und das Tuch auf dem Kopf ist sicher auch kein gutes Zeichen.‘

„Auch guten Tag“, gab er lächelnd zurück und schüttelte vorsichtig die kräftige Hand der kleinen Frau. „Ich bin Sven Lukas von der Kriminalpolizei Bad Berleburg. Und das ist der Kollege Bernd Kleinheisterkamp.“

„Hallo“, sagte der. Während er behutsam die gereichte Hand schüttelte, fragte er galant: „Warum nehmen Sie nicht einfach Platz? Sie haben ja zum Glück eine Sitzgelegenheit dabei.“

„Mach’ ich, danke. Sie glauben gar nicht, wie gerne. Wollte nur höflich sein.“ Etwas umständlich quetschte sich die recht umfangreiche Dame zwischen die Griffstützen ihres Rollators auf die Sitzfläche. Als sie schließlich saß, fragte Lukas: „Frau Homrighausen, Sie haben uns zugerufen, Sie hätten etwas zu berichten. Um was geht es denn dabei?“

„Tja, wissen Sie“, begann die Frau, „ich weiß ja gar nicht, ob das für Sie irgendeine Bedeutung hat. Aber ich sehe mich als Staatsbürgerin schon verpflichtet, der Polizei Dinge und Ereignisse anzuzeigen, die mir verdächtig erscheinen.“

‚Oh Gott‘, schauderte es beide Beamten gleichermaßen, ‚mal wieder so eine Fadengerade‘, wie Jürgen Winter Leute nannte, bei denen das Grundgesetz unter dem Kopfkissen liegt und die sich vor Wichtigkeit keinen Rat wissen.‘ Schon der bedeutungsschwangere Aufgalopp ließ Übles ahnen.

„Ah ja. Und was ist Ihnen verdächtig vorgekommen?“

„Ich gehe mal davon aus, dass der Mann, der dort unten gerade untersucht wird, ermordet worden ist.“

„Wer sagt Ihnen das?“

„Niemand. Das ist ja das Problem. Der Kollege, den ich vorhin danach gefragt habe, hielt es ja nicht für nötig, mir zu erzählen, was dort passiert ist.“

Sven machte große Augen. „Warum hätte er das tun sollen?“

„Ganz einfach“, lächelte Frau Homrighausen, „weil ich ihn bei seiner Ankunft danach gefragt habe.“

„Naja, also wissen Sie“, meinte der ‚Freak‘ und schabte an seinem Kinn, „wir sind ja auch keine Auskunftei. Wir sind die Polizei und haben für Recht und Ordnung zu sorgen. Unter anderem auch für die Aufklärung von Verbrechen. Aber damit können wir natürlich erst anfangen, wenn wir uns ein Bild von der Lage gemacht haben.

Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, war der Kollege ja auch gerade erst am Friedhof aufgetaucht, als Sie ihn fragten. Da konnte er doch noch kein Bild von der Lage haben. Es war also ein wenig viel verlangt, von ihm zu erfahren, was da passiert war.“

„Außerdem“, fügte Bernd hinzu, „ist es nicht immer ganz schlau, mit jedem darüber zu reden, was uns gerade beschäftigt.“

„Verstehe. Aber vielleicht wissen Sie inzwischen trotzdem, ob der Mann da unten ermordet worden ist.“

„Ja, das wissen wir.“ Lukas wurde ein wenig ungeduldig.

„Und wie?“

„Also bitte, das führt nun wirklich zu weit.“

Die Dame ließ sich allerdings nicht beirren. „Wie denn nun? Erschossen, erwürgt, erschlagen?“

„Frau Homrighausen, ich bitte Sie. So neugierig kann man doch gar nicht sein. Was hat denn das für einen Belang für Sie? Oder arbeiten Sie etwa für eine Zeitung oder sonst ein Medium?“

„Blödsinn. Ich frage nur deshalb so energisch nach, weil es sein kann, dass ich eventuell Maßgebliches dazu beitragen könnte, den Täter zu fassen. Falls der arme Mann …“, unterbrach sie sich mit theatralisch erhobenem Zeigefinger und schaute ins Nirgendwo, „falls …“

„Falls er was?“

„Falls er erschlagen wurde.“

Die Polizisten schauten sich an, als hätten sie eine Erscheinung der dritten Art gehabt. Wie, um alles in der Welt, kam die Frau denn ausgerechnet auf Erschlagen? War sie etwa die Täterin? Eher nicht. Sie konnte sich ja so kaum auf den Beinen halten. Aber vielleicht hatte sie den Toten bereits gesehen, bevor überhaupt ein Polizist am Tatort gewesen war.

‚Schwachsinn‘, verwarf der Kommissar diesen Gedanken wieder. ‚In beiden Fällen hätte sie nicht so nervig nach der Todesart und der Mordmethode fragen müssen. Oder ist das alles hier nur eine miese Schau?‘

„Ich sag’s Ihnen“, rang er sich schließlich durch, „er wurde tatsächlich erschlagen.“

„Also doch“, flüsterte sie. „Dann muss ich Ihnen was zeigen. Kommen Sie mal mit!“

„Wohin?“

„Raus aus dem Friedhof. Nur ein paar Meter. Da vorne steht mein Wagen.“

Genauso umständlich, wie sie sich gesetzt hatte, schälte sie sich wieder aus ihrer Sitzposition heraus und startete mit dem Rollator in Richtung Ausgang. Gemessenen Schrittes trotteten die Beamten hinterher, bis die Frau an einem grünen Polo stehen blieb und mit klimperndem Schlüsselbund versuchte, die Heckklappe zu öffnen.

„Kommen Sie“, bot sich Bernd an, „ich helfe Ihnen.“ Fast behutsam nahm er der dankbaren Frau die Schlüssel aus der Hand und öffnete den hinteren Fahrzeugbereich.

„Da, schauen Sie“, deutete sie auf die untere Ablage, „das meine ich. Das wollte ich Ihnen zeigen.“

„Oh Shit“, entfuhr es Kleinheisterkamp. Mit weit aufgerissenen Augen rammte er dem ‚Freak‘ einen Ellenbogen in die Flanke. „Ein Spaten. Da drin liegt ein Spaten.“

Der Kollege nickte. „Ja, sehe ich. Woher haben Sie den denn, Frau Homrighausen? Haben Sie den von zu Hause mitgebracht?“

„Quatsch, hab’ ich nicht!“, antwortete sie scharf. „Den habe ich unten vom Parkplatz aufgepickt.“

„Wie – aufgepickt? Lag der da einfach so rum?“

„Nicht einfach so. Den hat einer dort in die Hecke geschmissen, bevor er sich mit seinem Auto aus dem Staub gemacht hat.“

„Oha, jetzt wird es interessant. Sie haben jemanden gesehen, der diesen Spaten weggeworfen hat, bevor er sich ins Auto setzte und davonfuhr?“

„Davonraste. Richtig!“

„Wie sah der Mensch aus?“

„Kann ich nicht sagen. Ich kam gerade erst von oben die Straße runter. Ich hatte meine Freundin besucht und wollte nach Hause, als mir im Vorbeifahren das Auto auffiel, das da mit der Schnute zur Straße und mit offener Fahrertür auf dem Parkplatz stand. Ich guckte rüber und konnte gerade noch sehen, wie jemand, der ziemlich durch die Wagentür verdeckt war, den Spaten in Richtung Hecke warf.“

„Und dann?“

„Danach konnte ich nichts mehr sehen. Weil mir die Hecke nach wenigen Metern die Sicht versperrte.“

„Ja, aber Sie sagten doch, der Mensch sei davongerast“, insistierte Kleinheisterkamp. „Das konnten Sie doch dann gar nicht mehr sehen.“

„Konnte ich wohl. Als ich unten auf der Hauptstraße gerade Richtung Womelsdorf abgebogen war, hat mich dieser Irre mit seinem Mordskarren überholt und ihn unten in der Kurve beinahe auf die Seite gelegt. Dann war er weg.“

Bernd schüttelte den Kopf. „Das gibt’s doch gar nicht. Das sind doch gerade mal knapp hundert Meter bis in die Kurve.“

„Ja, ja, komm, das ist jetzt nicht so wichtig“, unterbrach der ‚Freak‘. „Was war denn das für ein Auto? Sie sagten ‚Mordskarren‘. Was denn für einer?“

„So’n Audi Q weiß der Himmel was. So’n riesiger SUV auf jeden Fall. Ziemlich neues Modell.“

„Farbe?“

„Weiß.“

„Und die Autonummer? Haben Sie sich die Autonummer merken können?“

„Äääh … ja, nee, nicht genau.“

„Was denn nun? Ja oder nein?“

„Ja, nur einen Teil. Vorne auf alle Fälle HU, dann nix, also da nix, wo früher ein Strich war und dann ein I … mehr weiß ich nicht. Der war einfach zu schnell.“

„Das ist aber immerhin schon mal was. Und mit ‚HU, Trennung I‘ sind Sie auf alle Fälle sicher?“

„Aber ja. Ich hab’ noch für mich geflachst, der fährt genauso wie seine Autonummer: ‚Hui‘.“

„Danke, Frau Homrighausen. Das hilft uns wirklich sehr. Noch was zum Fahrer?“

„Nee, zu dem wirklich nichts. … Außer …, ich hab’ auf dem Parkplatz unter der Tür seine Beine rausgucken sehen. Dunkle Hose und schwarz glänzende Lederschuhe. Mein lieber Mann, hab’ ich noch gedacht. Bestimmt ein Industrieller oder sowas in der Art.“

„Wieso meinen Sie?“

„Naja, wer läuft denn bei so einer Hitze heutzutage noch in Schwarz rum?“

„Und oben?“

„Nix gesehen. Ich glaub’, der hatte getönte Seitenscheiben.“

„Noch eine Frage. Wann war das denn genau? Wie spät war es? Können Sie sich erinnern?“

„Natürlich. Ich hab’ mich oben am Berg von meiner Freundin verabschiedet, da begannen gerade die 14-Uhr-Nachrichten. Also war ich ungefähr vier, fünf Minuten später hier.“

„Sind Sie sicher?“

„Natürlich. Als ich losfuhr, hab’ ich extra noch das Radio lauter gestellt. Spitzenmeldung war, dass sich heute diese Frau von der Leyen mit einer Rede als Kommissionspräsidentin in Brüssel bewirbt.“

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