Die kulturelle Unterscheidung

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Die kulturelle Unterscheidung
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Wolfgang Fritz Haug

Die kulturelle Unterscheidung

Elemente einer

Philosophie des Kulturellen

Argument

Berliner Beiträge zur kritischen Theorie

Band 12

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© InkriT 2011; © für diese Ausgabe Argument Verlag 2011

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Lektorat: Jan Loheit

Umschlag und Satz: Martin Grundmann

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 9783867549400

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Feldbesichtigung vorweg

Erstes Kapitel

Kulturtheorien ohne Kulturbegriff

1. Ein erster Blick auf aktuelle Kulturauffassungen

2. Ist ›Kultur‹ nichts als ein ›Diskurs‹?

3. Die ›Kulturelle Wende‹ als Abwendung von der Philosophie

4. Kulturdiskurse zwischen Begriffsnot und Kompromisszwang

5. Wandlungen der Kulturauffassung im ›Postfordismus‹

Zweites Kapitel

Was ist kulturell an der Kultur

1. Kultur als »Prozess, der über die Menschheit abläuft«

2. Kultur-Kategorie vs. Kultur-Begriff

3. Bourdieus Analyse der kulturellen Distinktion

4. Versuch eines praxisphilosophischen Neubeginns

5. Quellform der Kultur

6. Ambivalenz des Kulturellen

7. Valenzen des Schönen

8. Exkurs: Holbeins Kaufmannsportrait von 1532 – Kulturelle Unterscheidung oder Distinktionskultur?

Drittes Kapitel

Materielle Kultur. Eine Problemskizze

1. Die geschichtsmaterialistische Herausforderung

2. Kultur und Kulturen

3. Das Materielle der Kultur

4. Ausgrabungsfund und archäologische Ergänzung

5. Gegenständliche Kultur

6. Konsumkultur der Warenwelt

Viertes Kapitel

Standpunkt und Perspektive materialistischer Kulturtheorie

1. »Kultur ist, wie der Mensch lebt und arbeitet«

2. Die Frage nach der Spezifik des Kulturellen

3. Lösungsversuch »von den Lebenszwecken her«

4. Instrumentalisierung des Antiinstrumentellen?

5. Überlagerung der Debatte durch die blockierte Diskussion des ›Realsozialismus‹

6. Die Frage nach »erfülltem Leben« in der Arbeit

7. Exkurs: Zum Kulturbegriff des DDR-Lehrbuchs über Historischen Materialismus von 1976

Fünftes Kapitel

Die kulturelle Unterscheidung Zur Diskussion über Kultur und Kulturdefinitionen

1. Vorbemerkung

2. Um welches Schweigen wird herumgeredet?

3. Macht und Schonung

4. Massenkultur

5. Das Paradies des Kolumbus und seine Verwandlung

6. Europa und die »kulturelle Ausnahme«

7. Die kulturelle Unterscheidung

Sechstes Kapitel

Gramsci und die Politik des Kulturellen

1. Das Schweigen zu Gramscis fünfzigstem Todestag

2. Zutritt nur für Übersetzer

3. Società civile und Hegemoniefrage

4. Der Kampf für eine neue Kultur oder Lebensweise

5. Politik des Kulturellen

6. Kultur, die Achse Intellektuelle-Volk und der geschichtliche Block122

7. Elemente der »geistigen Situation der Zeit«

8. Lässt Gramsci sich in die neuen Verhältnisse übersetzen?

Siebtes Kapitel

Entfremdete Handlungsfähigkeit

1. Fitness-Kulte in der Gegenwart

2. Sozialdarwinismus + Syphilisparadigma = Rassenhygiene

3. Selbst-Psychiatrisierung im Alltag

4. Fordistische Selbstnormalisierung und faschistische Subjektmobilisierung

5. Und heute?

Achtes Kapitel

Schicksale der kulturellen Unterscheidung

1. Der Kultur-Effekt der Warenästhetik

2. Widersprüche des kindlichen Konsumismus

3. Jugendliche Subkulturen und Warenästhetik: eine Verfolgungsjagd

4. »Spaß am Widerstand«: die Willis-Lads

5. Nach dem Spaß: Ende des Aufbegehrens im Rahmen der Herrschaft

6. Exkurs (1): Herrschende Kultur, betriebliche Gegenkultur und Stil

7. Exkurs (2): »Kulturwaren« bei Willis

8. Exkurs (3): »Kulturelle Ökonomie«, »Popularkultur« und »Fan-Kultur« bei Fiske

8.1 Ökonomie

8.2 Fan-Kultur als Form von Popularkultur

Neuntes Kapitel

Jeanskultur oder Das Tauziehen zwischen Jugendkulturen, Warenästhetik und Ideologie

1. Jeans als das bürgerlich »Revolutionäre« der Befreiung vom Nazismus

 

2. Grundlagentheoretisches Intermezzo

2.1 Gegensätze im Reich der ›Werte‹

2.2 Ideologische vs. warenästhetische Subjekt-Wirkungen

3. Ästhetik der Monopolware am Beispiel der Jeans

4. Exkurs: Mord in Jeans

5. Hin- und herwogende Kompromissbildungen

6. Eine para-ideologische Macht

7. Eine ›ausfransende‹ Geschichte

8. Epilog: Wranglers »Wir sind Tiere«

Anhang

Zur Diskussion über die Kultur der Arbeiterklasse

1. Unterscheidung von soziologischem und sozialistischem Kulturbegriff

2. Die Unterscheidung von »Kultur« und »Ideologie«

3. Vorläufige Thesen

Das Volksuni-Konzept

1. Vorwort

2. Gründungsmanifest der 1. West-Berliner Volksuniversität 1980

3. Aus der Geschichte lernen heißt leben lernen (1981)

4. Zum Programm der 3. Westberliner Volksuni (1982)

5. Erinnerung ans Problem einer Volksuniversität Geleitwort zum Programm der 1. Hamburger Volksuni 1983216

6. Nach rechts sehen, links abbiegen! Zur 6. Westberliner Volksuni (1985)

7. Zur Auseinandersetzung um die Göttinger Volksuni (1985)

8. Die neue Volksuni (1990)

9. Drüber & drunter in Deutschland. Zur 13. Berliner Volksuni 1992

10. Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe. S.O.S. Zivilgesellschaft. Zur 14. Berliner Volksuniversität 1993

11. Einladendes zur 15. Berliner Volksuni – an die Linke gerichtet (1994)

12. Zur Eröffnung der »1. Volxuni« des Social Forum Tübingen-Reutlingen (2002)

Sozialistische Volkskultur

Biermanns Volksuni-Konzert von 1980

Fußnoten

Drucknachweise

Siglen

Literaturverzeichnis

Namensregister

Sachregister

Weitere Schriften von W.F. Haug

Feldbesichtigung vorweg
I.

Auf Schritt und Tritt gibt es

zwei historische Notwendigkeiten,

die zueinander in Widerstreit geraten.

Rosa Luxemburg

Es könnte kaum widersprüchlicher zugehen: Kultur gleicht einem Betriebssystem, auf dem alle widerstreitenden Programme der Gesellschaft laufen; zugleich ist dieses Grundlegende dem Kommerz, der es voraussetzt, um den Preis abgemietet, diesem als etwas gefügig zu sein, das abwechselnd Vergnügen zu bereiten oder Würde vorzutäuschen hat. Bei alledem verkörpert ›Kultur‹ einen Anspruch auf Sinn und Erfüllung, der dem Kapital die Herrschaft streitig machen kann. Alle sozialen Emanzipations- oder Befreiungsbewegungen waren und sind zugleich Kulturbewegungen. So zuletzt die weltweite Bewegung, die unter den Losungen »Die Welt ist keine Ware« und »Eine andere Welt ist möglich« aufgetreten ist. Die Achtundsechziger und die neue Frauenbewegung haben regelrecht kulturrevolutionär gewirkt.

Kultur in diesem dritten Sinn existiert nur, solange sie widersteht. Freilich ist damit die Widerspruchsgeschichte, die wir Dialektik nennen, noch nicht zu Ende. Widerstand als solcher ist weder gegen den Umschlag ins Rückwärtsgewandte oder sogar Reaktionäre gefeit noch dagegen, hinterrücks vereinnahmt zu werden, wie es »kaum ein Produkt gibt, das nicht mit Guevaras Konterfei vermarktet« werden konnte (KdW, 348).

Dass solche Widersprüchlichkeit nicht von heute datiert, zeigt eine Bemerkung Johann Gottfried Herders, der als Vater des »modernen Kulturbegriffs« gilt (Perpeet 1976, 1309), in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von 1784. In der Vorrede spricht er distanziert von dem, »was wir Kultur nennen und oft nur verfeinte Schwachheit nennen sollten […]. Nichts ist unbestimmter als dieses Wort, und nichts ist trüglicher als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten. Wie wenige sind in einem kultivierten Volk kultiviert?« Damit ist das Stichwort der »Kultivierung« gefallen, in der sich gut bürgerlich aller Fortschritt zur »Humanität« zusammenzieht. Herder sieht die Triebkraft auf diesem Weg, nicht jedoch den in ihr wohnenden Widerspruch1. Die »Schlussanmerkung« zum 20. Buch beginnt mit der Frage: »Wie kam also Europa zu seiner Kultur und zu dem Range, der ihm damit vor andern Völkern gebühret?« Sie mündet in die Antwort, dass »die neue Kultur Europas […] nur eine Kultur der Menschen wie sie waren und sein wollten« sein konnte, »eine Kultur durch Betriebsamkeit, Wissenschaft und Künste«. – Inzwischen hat die kapitalistische »Betriebsweise« (Marx) der Kultur das bürgerliche Projekt längst ihren Marketingabteilungen zugeordnet. Wenn zur Zeit der Französischen Revolution noch das Kapital als Allegorie der Kultur diente, so dient heute die Kultur dem Kapital als allegorisches Material.

Dieser Umschlag der Kräfteverhältnisse widerfuhr dem bürgerlichen Kulturprojekt nicht von ungefähr. Die Kraft, die die Kultur sich unterworfen hat, ist keine andere als diejenige, die sie zur obersten Kategorie des bürgerlichen Selbstverständnisses erhoben hatte. Die bürgerliche Gesellschaft ist die erste in der Geschichte, die ihr Wesen als ›Kultur‹ ausgesprochen hat. Wie alle anderen frühen Hochkulturen verfügte die klassische Antike weder über einen Begriff von ›Kultur‹ noch einen von ›Kunst‹, obwohl sie doch – in unseren Augen! – beides auf eine Weise geschaffen hat, die der bürgerlichen Gesellschaft seit der Renaissance und vollends der Aufklärung als kanonisches, eben klassisches Vorbild diente. Doch wie das feudale Mittelalter nicht von der Religion leben konnte, so die bürgerlich-kapitalistische Moderne nicht von der Kultur. Gerade weil sie aus ihrem Kerngeschäft das Kulturelle als Autonomes verbannt, wies sie ihm eine eigene Sphäre zu, in der sie ihre Ideale hegte und sich geschichtlich legitimierte. Das macht verständlich, wieso diese illusionäre Form, in welcher der Kommerz sein idealisches Gegenteil unter dem Namen Kultur als sein Wesen vorschiebt, dessen kritischen Anspruch nicht völlig ersticken könnte, ohne es um seine Wirkung zu bringen. Es wirkt nur, solange der Anspruch aufrechterhalten bleibt, dass es um seiner selbst willen an die höchste Stelle gerückt und ein Kult darum betrieben werde.

Angesichts des Ersten Weltkriegs, der bürgerlichen Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, schrieb Rosa Luxemburg: »Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.« (GW 4, 53) Das ist wahr und doch nur einer der Pole der Wahrheit. Bereits Marx hat allzu pauschal den ›verschönerten Schein‹ der bürgerlichen Verhältnisse verworfen. Auch fürs Sein der bürgerlichen Gesellschaft gilt Hegels Satz, dass ihm »das Scheinen wesentlich« ist. Ernst Bloch hat den Blick darauf gerichtet, wie hier Entwürfe einer anderen Welt zum Vorschein kommen. In ›Kultur‹ und ›Kunst‹ dachten die klassischen Bürger hinein, was über ihre gesellschaftliche Existenzgrundlage hinauswies. Hier deponierten sie ihre Träume. Die Kultur hatte für sie die Nachfolge der Religion angetreten. So wurde die Kultursphäre zum Behältnis künstlerischer und philosophischer Entwürfe, die von der kapitalistischen Grundlage zur bloß illusionären Existenz verdammt sind. Ihr Moment ist nie und immer, ihr Reich nirgends und überall. Dem Geld und der Gewalt gehört jeder Augenblick, »Was bleibet aber, stiften die Dichter.«2 Zugleich weist dieses real und doch nur imaginär, als Bildungsgut Bleibende beharrlich über jene Grundlage hinaus.

Was diese Gesellschaft der Privategoismen an der ›Kultur‹ festhält, ist gerade deren dumpf vorgestellter Gegensatz zu ihr, das Gefühl, Kommerz und Konsum könnten doch ›nicht alles gewesen sein‹. Wenn sie ihr Wesen imaginär in die ›Kultur‹ setzt, so ist dies unwahr, bloßer Schein, doch kann der bloße Schein von Wahrheit mehr von dieser enthalten als das Sein. Wenn nach Luxemburgs Einsicht die »geistige Kultur« immer »eine Schöpfung der herrschenden Klasse« ist und es im Kapitalismus »keine andre Kultur geben [kann] als bürgerliche«, so erklärte sie es aufgrund des Doppelcharakters der bürgerlichen Kultur gleichwohl zur Aufgabe der sozialistischen Arbeiterbewegung, »die Kultur der Bourgeoisie vor dem Vandalismus der bürgerlichen Reaktion [zu] schützen und die gesellschaftlichen Bedingungen der freien Kulturentwicklung [zu] schaffen« (GW 1/2, 367).3

Die bürgerliche Gesellschaft bringt es nicht zu dem Gedanken, dass sie selbst das Problem ist, sondern stellt sich Kultur vor als »Gegensatz zu all dem, was der Reproduktion des materiellen Lebens, überhaupt der buchstäblichen Selbsterhaltung der Menschen dient, der Erhaltung ihres bloßen Daseins«. Adorno, von dem diese noch in der Negation des Bürgerlichen von eben diesem geprägte überallgemeine Formel stammt (Kultur und Verwaltung, 123), kommt daher zu dem Schluss, Kultur sei »überhaupt misslungen« (141). Doch das meint ›Kultur‹ als von den nicht-kulturellen Mächten kolonisierte Illusion. Im Untergrund bleiben Widerstand und Genuss, Kritik und Utopie ihre komplementären Seelen.

Von der Illusion zur Utopie und von dieser über den praktisch-geschichtlichen Entwurf zum Verwirklichungsversuch mag es je ein großer Schritt sein, aber eben doch nur ein Schritt. Dann ist die Illusion, in der eine herrschende Klasse sich über sich selbst täuscht, mit Wahrheit und möglicher Wirklichkeit geladen. Das macht das wie immer verschwommen unter ›Kultur‹ Intendierte zu etwas unabschließbar Umkämpften.

II.

Wer das Andere will, muss

von der Immanenz der Kultur ausgehen,

um sie zu durchschlagen.

Theodor W. Adorno4

Die schlichte Frage, was das ist, was Kultur genannt wird, ist im Zuge der Verabschiedung der Metaphysik und ihres unhistorischen Wesensdenkens in Verruf gekommen. Man hat sie durch die Frage ersetzt: »Was meinen wir, wenn wir ›Kultur‹ sagen?« Doch wenn der Gedanke nicht vom Meinen zu den tatsächlichen Verhältnissen und zum konkreten Verhalten in diesen vordringt, liefert er sich den Mächten aus, die das kulturelle Feld kolonisiert haben, und bietet der Welt das Schauspiel einer Kulturwissenschaft ohne Kulturbegriff.

 

Wer sich mit dem bloßen Wort ›Kultur‹ zufrieden gibt, macht es sich in der Gedankenlosigkeit bequem. Damit ein Wort zum Begriff wird, muss es unter seinem Namen eine theoretische Erklärung zusammenfassen. Dieses Begriffsverständnis ist in dem Maße ›entsorgt‹ worden, in dem man sich mit den Verhältnissen auf Kosten der theoretischen Grundlagen5 abgefunden hat. Dabei ist die Begründung, warum sich die Kulturwissenschaftler für ein »nicht widerstands-fixiertes Fachverständnis« (Fluck 2004, 20) entscheiden sollen, immer schon mitwirkender Teil der Wirklichkeit, über die sie objektiv zu sprechen glaubt: »Wenn man fragt, wogegen eigentlich Widerstand geleistet werden soll, dann gibt es keine konkreten Adressaten mehr wie ehemals den Kapitalismus oder die Bourgeoisie, sondern nur noch eine zunehmend diffuse Form von Herrschaft, die von einer radikalisierten Herrschafts- und Kulturkritik als distinktes Merkmal moderner Gesellschaften beschrieben wird.« (19) Abgesehen davon, dass drei Jahre nach dieser Äußerung die Krise den Kapitalismus als Adressaten des Widerstands in Erinnerung gerufen hat, enthält Kultur, strengt man ihren Begriff an, »allem Bestehenden, allen Institutionen gegenüber unabdingbar ein kritisches Moment«,6 dem nur Widerständigkeit gerecht wird.

Wie sich das Verständnis dieses kritischen Moments auffrischen lässt, damit es in den verwandelten Verhältnissen erneut Fuß fassen kann – darum geht es in den folgenden Versuchen. Sie dienen dem Anspruch einer philosophisch reflektierten, dabei von der »sinnlich menschlichen Tätigkeit, Praxis« (Marx, ThF 3/5) und den gesellschaftlichen Verhältnissen und Rahmenbedingungen derselben ausgehenden begrifflichen Annäherung ans Kulturelle. Von der Praxis auszugehen verlangt die Aufsprengung des Kulturbegriffs nach dem Vorbild von Spinozas Unterscheidung der je fertig vorfindlichen Natur von der momentan sich bildenden (Ethik I, LS XIX, Anm.). Daher werden wir bereits im Frageansatz zwischen dem praktischen Quellmoment der Kultur und ihren etablierten Formen unterscheiden, in denen sie von gesellschaftlichen Kräften kontrovers beansprucht und von politisch-ökonomischen Mächten und ihren Ideologien umfangen und partiell durchdrungen ist. Was Freud von geschichtlichen Gestalten sagt, gilt allemal für die resultierende Kultur, wie sie empirisch begegnet, und zwar sowohl in ihrem herrschenden Hauptstrom als auch in den subkulturellen Neben- und Gegenströmungen: Alles »scheint […] überdeterminiert zu sein, stellt sich als die Wirkung mehrerer konvergierender Ursachen heraus« (S 9, 554). Nicht anders hat Stuart Hall das Paradigma der frühen Kulturforschung bestimmt.7 Das Methodenarsenal ist seither reichhaltiger geworden, doch hinter das Paradigma der Überdeterminierung fallen Kulturforschung und Kulturpolitik, wie sich im theoretischen Handgemenge erweisen wird, nur um den Preis zurück, Akteure der Ideologie und Anhängsel der Ökonomie zu werden.

Wenn nun aber die ›Kultur‹ ein Feld der Interferenz und des Ringens heterogener Mächte ist, dann zieht sich das »Interesse der Freiheit« (Hegel) in die Frage zusammen, was denn nun das originär Kulturelle an der Kultur ist. Unser Standpunkt kann mithin nicht der »Standpunkt der fertigen Phänomene« (Marx) sein. Das bringt uns in Konflikt mit Positionen, die ihre Kategorien unkritisch den herrschenden Verhältnissen entnehmen und das Überdeterminierte en bloc für die kulturelle Sache selbst halten.

Es bleibt nicht bei diesem Zusammenstoß. Indem wir uns anschicken, an dem, was man ›Kultur‹ nennt, das Kulturelle vom Nichtkulturellen zu unterscheiden, stoßen wir ferner mit der von der Kulturpolitik bestärkten Alltagsvorstellung zusammen, Kultur sei ein gesellschaftlicher Bereich, abgegrenzt von anderen Bereichen, die mithin als Nichtkultur aufzufassen wären. Nun stimmen aber im Gegensatz zu dieser Bereichsvorstellung von Kultur die meisten, die sich kulturwissenschaftlich betätigen, ungeachtet ihrer sonstigen Meinungsunterschiede darin überein, dass sie unter Kultur einen Aspekt oder eine Dimension verstehen, die all jenen abgegrenzten Bereichen als etwas alle Abgrenzungen Durchquerendes zueigen ist, sei es auch in unterschiedlicher Weise und Gewichtung. In der Tat beschränkt sich das Kulturelle nicht auf den ›Kulturbereich‹, und noch weniger erschöpft sich der ›Kulturbereich‹ im Kulturellen.

Nach dem Kulturellen an der Kultur zu fragen öffnet den Blick dafür, dass in dieser andere Mächte mitwirken: Die Kultur ist auch ideologisch und vor allem kommerziell durchdrungen, während das Kulturelle nicht nur im ›Kulturbereich‹, sondern auch in der Ökonomie und der Ideologie, also in der ›Nichtkultur‹ am Werke ist, sei es auch als untergeordnetes Moment. Zumal der Markt – mit der Warenästhetik und den Ästhetikwaren der Kulturindustrie – und auf andere Weise der in Ideologie eingehüllte Staat mit seiner Kulturpolitik wirken als je nach Kräfteverhältnissen mehr oder weniger dominante Mächte auf dem Feld der ›Kultur‹ mit.