Loe raamatut: «Jahrhundertwende», lehekülg 13

Font:

9. Februar 1991

Enzensbergers Artikel über Saddam Hussein als »Hitlers Wiedergänger« (im »Spiegel« dieser Woche) führt die Sprache des Propagandisten, nicht des Intellektuellen. Hantiert mit unbezweifelbaren Eindeutigkeiten, kennt keine Überdeterminierung. Projiziert unwillkürlich. H. ist ein Vernichter; ergo ein zu Vernichtender. Dadurch der Diskurs zu einem Vernichtungsdiskurs geworden. H. »der Feind des Menschengeschlechts«. Ein anthropologisches Problem: die menschliche Natur selbst, ihre personifizierte Unmenschlichkeit. Totale Absage an Politik: »Keine denkbare Politik kann es mit einem Feind des Menschengeschlechts aufnehmen.« E. lässt die Logik der Endlösung in sich ein. – Mit Schrecken sehe ich, wie der Krieg den geschätzten E. um den Verstand bringt. Aber ich vermag mich nicht frontal gegen ihn zu stellen, abgesehen von der propagandistischen Wellenlänge. Denn zu den widersprüchlichen Bestimmungen dieses Krieges gehört auch die Parallele zum Nazismus. Freilich bildet E. auch diesen mythisch-geschlossen ab, als politisch verkörperten Todeswunsch.

*

Rainer Gruenter konstatiert die periodische Wiederkehr der »levée en masse in den Rückschritt«. Man könne heute »von einer Konjunktur des Schreckens sprechen«. Statt des apokalyptischen Reiters hat er den »apokalyptischen Anarchisten« im Visier. Nennt keinen. Als Begleitpersonal »die Verkäufer der Ängste«. »Epidemische Untergangssucht und Gewaltsympathie«. Es sei daher möglich, dass einer der »apokalyptischen Anarchisten« ein Super-Tschernobyl »als fundamentalistisches Warnspiel für eine ebenso unbelehrbare wie unersättlich weltverzehrende Menschheit inszenieren kann«. Im Zeitgeist und seinen typischen Gebilden werde dies vorangetrieben durch »eine pathologische moralische und geistige Ungeduld, die der heute von Historikern beobachteten Beschleunigung der Geschichtszeit« entspreche. In dieses Bild fügt sich Enzensbergers Husseinmythos. »Störend kann der despotische Diktator, können die Eliten, aber auch die machtlosen und machtverachtenden Minderheiten […] sein, die sich der Norm der anarchistischen Ungeduld widersetzen.« – Der Krieg ist los, die Krise kommt von überall her.

*

Gabriele Lindner hat sich heute vom Wörterbuchprojekt verabschiedet. Sie bringe es nicht zusammen mit den Belastungen des Moments. Fast alle, die nach dem Zusammenbruch der DDR zu uns gestoßen waren, sind inzwischen wieder verschwunden. G.L. grüßte von Otto Reinhold, der die Radiosendung über die DDR-Philosophie gehört hat und mir bestellen lässt, meine Äußerungen hätten ihm am meisten zugesagt. Ich ließ mir seine Telefonnummer geben.

Immer wieder Trauer darüber, dass sich nicht die Revolution-in-der-DDR hat halten können.

10. Februar 1991

Kulturkritik als Melancholie des Kapitals. – »Ganz gleich, ob von Fastfood-Ketten die Rede ist, vom Bevölkerungswachstum, von Übertötungskapazitäten in der Hochrüstung, vom ›Siegeszug‹ der wissenschaftlichen Rationalität, von der Steigerung des Bruttosozialprodukts, von der ›Entfesselung der Produktivkräfte‹, von der ›industriellen Massenfertigung‹ oder von der Auto-, Beton- und Kommunikationsgesellschaft: stets, wenn ein Teil seine Funktionen unkontrolliert auf Kosten aller anderen Teilfunktionen erweitert, steht die Lebensfähigkeit des Ganzen auf dem Spiel.« (Bernd Guggenberger, FAZ vom 2.2.) – Arbeitsteilige Melancholie des Kapitals, das sich da als Natur in der Natur entnennt und sich über das Entropiegesetz beugt. »Imperialismus des Partiellen«, »Chauvinismus der Art«, mit einem Wort: der Untergang der »Zuvielisation«. Alle Politiken arbeiten »letztlich nur dem großen Widersacher, der sprengenden Kraft sozialer Desintegration, in die Hand«. Weil, wer Ordnung schafft, unversehens Unordnung um ein Vielfaches vermehrt. Gruenter könnte diesen Diskurs mit im Auge gehabt haben.

11. Februar 1991

Die FAZ schreibt, dass sich Wallstreet »seit genau vier Monaten in einer echten Hausse befindet«. In Zürich und Frankfurt »fließen Milliarden vom Geldmarkt an die Kapitalmärkte«. Die Zinsen sinken.

*

Lese jetzt erst Biermanns vor genau zwei Wochen datierten ZEIT-Artikel »Kriegshetze Friedenshetze«. Er argumentiert differenzierter als Enzensberger, hat nicht die US-Interessen und die Mehrschichtigkeit des Konflikts vergessen. Aber auch er bläst zum Krieg. Der Friedensbewegung wirft er vor, sie möchte jetzt »die Zerstörung der ABC-Fabriken und Raketen aufhalten, mit denen Saddam & Co Israel vernichten wollen«. Er will diese Zerstörung der Zerstörungsmittel, und ich würde sie, bliebe es dabei, ebenfalls wollen. Er sieht auch den Messecharakter des Kriegs vom Standpunkt der USA als Leistungsschau der US-Rüstungsindustrie, ebenso die Rechtfertigung der durch die Beendigung des Kalten Kriegs bedrohten Staatsausgaben fürs Militär.

Als linken Selbstbetrug, durchmischt (und z.T. manipuliert) von Heuchelei, deutet er die antiamerikanisch artikulierte Hauptlosung der Friedensdemonstranten: sofortiger und bedingungsloser Waffenstillstand. Kehrt die Losung eines PDS-Flugblatts, »Schickt Politiker in die Wüste, nicht Soldaten!«, gegen die soeben von einem Volk in die Wüste geschickten Politiker der PDS. Immer noch einmal: gegen die Endlösung, gegen die Nazis war der auch damals von miesen Interessen mitbenutzte Krieg notwendig. So der heutige: zum Schutz vor einer neuen »Endlösung« und zur Zerstörung eines Militärregimes, das ABC-Waffen einzusetzen bereit ist. Hussein-Hitler haben beide die Ausrottung der Juden vorangekündigt, beide sind »Emporkömmlinge, Tyrannen, Demagogen und Machtparanoiker«. Während man bei Hitler nicht wissen konnte, ob die Drohung leeres Wort war, weiß man bei Hussein heute, dass sie ernst gemeint ist.

Biermanns Skizze amerikanischer Interessen: »Natürlich geht es […] ums Öl. Noch schlimmer: Das Pentagon brannte schon lange darauf, seine Waffen auszuprobieren. Noch perverser: Die US-Rüstungslobby braucht dringend den Beweis dafür, dass die Billionen Dollars kein rausgeschmissenes Geld waren. Der lukrative Ost-West-Konflikt ist ihnen verdorben, aber die Aktionäre der Kriegsindustrie wollen, dass das Wettrüsten trotzdem weitergeht. Und bei den Präsidentschaftswahlen will kein Kandidat die jüdischen Stimmen verspielen.« Desto besser, sagt Biermann. Ohne diese schmutzigen Interessen würden die USA ihre Kriegsmaschine nicht in Gang gesetzt und Israel verteidigt haben. Saddams mörderischen Eroberungskrieg gegen den Iran sahen die USA zufrieden und belieferten ihn mit Waffen, »Saddams Völkermord an den Kurden war denen eine hässliche Lappalie, und Saddams Terror gegen das eigene Volk war ein totalitäres Kavaliersdelikt. Die USA hatten schon so viele unglückliche faschistische Liebschaften in der Welt.« Das kuwaitische Öl – List des Zufalls, um die »zuverlässig miesen Interessen« zu mobilisieren.

Hilflos-gutwillig, keineswegs unwahr: Palästinenser und Israelis sind die einzigen, deren existenzielle Interessen auf dem Spiel stehen und die »eigentlich Verbündete sein sollten«.

Gegen den irakischen Diktator bietet Biermann sein ganzes gesundes Misstrauen auf. »Der Hass auf die Juden und die Liebe zu den Palästinensern sind nur zwei Seiten derselben falschen Münze, mit der er die Einheit der arabischen Welt unter seiner Führung kaufen will.« Er sieht keinen Todeswunsch wie Enzensberger, sondern das Kalkül, im Tiefbunker trotz bis zu 5 Millionen Toten durchstehen zu können.

»Grade weil er so schön komplex ist, führt uns dieser Krieg modellhaft das Perpetuum mobile unserer Selbstvernichtung vor.« Die Rüstungskonzerne liefern Waffen, zu deren Bekämpfung sie dann noch modernere Waffen liefern müssen. Die armen Länder bezahlen mit Elend und Unwissenheit, die reichen mit dem Surplus, das sie den Armen hätten übertragen müssen. Das Personal, das diese Kriegswirtschaft betreibt, gehört zu Kriegsverbrechern erklärt. »Und die feinsinnigen Rechtsanwälte, die wasserdichten Notare, die hanseatischen Kaufleute und respektablen Geschäftsführer, die alle am Geschäft mit dem Tod verdient haben, verdienen den Tod, genau wie Göring und Krupp und Eichmann.« – Biermann weiß natürlich, dass Krupp ihn 1945 keineswegs erleiden musste, und er weiß erst recht, dass diese seine Worte ganz folgenlos bleiben werden und er sie genau deswegen sagen darf, weil eben jene hanseatischen Kaufleute und respektablen Geschäftsführer gar nicht so sind. So bleibt ihm bei allem Richtigen, trotz aller mitgeschmuggelten Wahrheitskassiber, eben doch nur die eine effektive und effiziente Botschaft: »Ich bin für diesen Krieg«.

12. Februar 1991

Der irakische »Rote Halbmond« soll die Zahl der Kriegstoten mit sechs- bis siebentausend angegeben haben.

Pierre Salinger u. Eric Laurent, Guerre du Golfe, Paris 1990: Laut ZEIT vom 8.2. soll dies die bisher beste Dokumentation der Entstehung des Golfkrieges sein. Die Autoren »nähren tiefe Zweifel« an der offiziellen westlichen Version. 1) Anlass für den Einmarsch am 2.8.90 in Kuwait: Der Emir hatte 10 Mrd USD für den Krieg gegen den Iran beigesteuert, und Saddam soll die Streichung dieser Schuld zur Bedingung für den Abzug gemacht haben. 2) Die US-Botschafterin in Bagdad, April Glaspie, hatte am 25. Juli zu dem Streit gesagt: »Unsere Seite hat keine Meinung zu innerarabischen Konflikten.« Am 31. Juli hat Jon Kelly, Nahostexperte im Außenministerium, vor dem auswärtigen Ausschuss des Repräsentantenhauses erklärt, die USA seien im Falle eines irakischen Angriffs auf Kuwait vertraglich nicht zum Eingreifen verpflichtet.« 3) Schon am 3.8., also lange vor der UNO-Resolution, scheinen die Kriegsziele im Weißen Haus festgelegt gewesen zu sein. 4) König Fahd von Saudi-Arabien hat die USA nicht ins Land gerufen, sondern der Aufmarsch wurde nach einem unter Carter für einen Ost-West-Konflikt ausgearbeiteten Plan begonnen. 5) Angesichts dessen »ruft« Fahd die USA um Hilfe, und in einem Geheimprotokoll werden für die Nachkriegszeit US-Stützpunkte in Bahrein und Kuwait vorgesehen. 6) Alle Vermittlungsversuche, der OAU, Frankreichs, der Sowjetunion, werden durch Druck entmutigt und ihre Vertreter auf Kriegslinie gebracht. 7) Das Ganze mündet in die Frage: »Diktierten Ungeduld und Unkenntnis oder aber Arglist und Aggressivität die Haltung der Amerikaner?«

*

»Der reale Krieg geht um die Vormacht im Islam« (Oliver Fahrni im »Freitag« vom 1.2.). Beschleunigt den Umbruch in den arabischen Ländern. Massenhafte Absage an die westliche »Modernisierung« aus Hoffnungslosigkeit. Von den Ölscheichs in den achtziger Jahren finanziert, zwecks »Re-Islamisierung ihrer Gesellschaften von unten«, um der iranischen Gefahr einen Riegel vorzuschieben. Daher seien die islamischen Intellektuellen so sprachlos (das verstehe ich gut; sie sind wie wir in Widersprüchen gefangen). Fahrni zitiert den Marokkaner Zaki Laídi: im Kern eine »Mobilisierung der Frustrationen«. »Die schnelle Entwicklung der elektronischen Medien habe den Armen der Welt die Illusion einer anderen Lebensweise vermittelt, ohne ihnen den Zugang dazu zu erlauben.« – Das erinnert mich an meine Thesen zur Auswirkung der Warenästhetik, bloß dass ich damals nicht den Nord-Süd-Gegensatz im Auge hatte. Ich müsste nachsehen, was ich als Vorwort zur nie erschienenen argentinischen Ausgabe der Kritik der Warenästhetik geschrieben habe. – Also: Premiere oder erst Generalprobe auf kommende Nord-Süd-Kriege?

Krippendorff sieht die eigentliche (aber vorerst blockierte) Lösung hinter den hilflosen Friedensdemonstrationen: »Regierungsgegner aller Völker, vereinigt euch!«

»Königsmechanismus«: eine Anordnung der Interessenwidersprüche derart, dass ihre Austragung die Zentralmacht reproduziert.

*

Rückblick auf die atemberaubende Utopie des Neuen Denkens (1985– 1990). – Michael Brie (»Zur Herrschaft verdammt? Experimentierfelder für eine neue Weltordnung«, in: Freitag, 1.2.) analysiert, wie die durch die Perestrojka neu aufgeworfene deutsche Frage »die realen Machtstrukturen, das tatsächliche Kräfteverhältnis und die bewussten oder auch instinktiven Strategien der Hauptkräfte der Gegenwart offenbarte«. Er konfiguriert die politischen Alternativen, wodurch unterm Strich bestürzend deutlich wird, dass die hoffnungsvoll aufgebrochenen Völker von den westlichen Interessen zu Vehikeln gemacht wurden. Die deutsche »Vereinigung« wurde zur Generalprobe für die Herstellung einer Neuen Weltordnung des transnationalen Kapitalismus »westlicher« Provenienz.

Das weltpolitische Machtvakuum, das der Kalte Krieg hinterlassen hatte, wurde »geradezu blitzartig« gefüllt: 1. Stellvertretende Niedermachung des »die Supermächte nachäffenden Zöglings«. – 2. Ökonomischpolitische Erpressung von SU und China. – 3. EG und Japan akzeptieren (und finanzieren partiell) die führende Rolle der USA bei der Herstellung jener korporativen Weltherrschaft des trilateralen »Westens«. Das erlaubt den USA, den Verlust der ökonomischen Hegemonie durch militärische Hegemonie zu kompensieren. – 4. Krieg als Fernsehspiel und Ausblendung (Zensur) von Informationen (aber die Opferbilder werden folgen). – 5. »Die linken und liberalen Intellektuellen aber finden gegenwärtig nur zu ohnmächtigem Protest, hilflosem Räsonnement oder machtpolitischem Scheinrealismus.«

Paradoxer Erfolg: Die »Politik einer Perestrojka für die Sowjetunion und die ganze Welt war erfolgreich bei der Auflösung einer Supermacht und damit der alten internationalen politischen Sicherheitsstrukturen sowie beim Zerfall des Staatssozialismus zumindest in Osteuropa. Sie scheiterte vor den Aufgaben des Aufbaus einer neuen internationalen wie auch inneren demokratischen soziopolitischen Ordnung in der UdSSR.« Den Schlüssel zu diesem Paradox sieht Brie in den Machtstrukturen und der Lebensweise der drei kapitalistischen Weltmachtzentren (mit ihrer »ungeheuren und faszinierenden Dynamik«), wo Massen (80 Prozent) und Eliten darin übereinstimmen (»ein stabiles und kaum wirklich zu erschütterndes Bündnis«, derselbe Block, der den Anschluss der DDR durchsetzte), entsprechende Selbstveränderung abzulehnen. »Eine wirkliche Perestrojka könnte nur von ihnen ausgehen, oder sie muss scheitern.« Als Folge hiervon sei die UNO von den USA instrumentalisiert, »neues Wettrüsten unvermeidlich und jede Alternative vorerst zerschlagen«.

MB zitiert Hondrich, der im »Spiegel« der Vorwoche die »pax americana et europea« (Japan vergessend) damit als notwendig begründet hat, dass die »weniger zivilisierten Länder« noch nicht den Krieg zu verurteilen gelernt hätten. Der Westen sei »zur Dominanz verurteilt«. Brie ergänzt: »Wer Dominanz sagt, spricht verschämt von Herrschaft.« Daher gewaltsame Entwaffnung. Hobbes redivivus, äußerlich erzwungene Zivilität, allenfalls Vorstufe »wirklicher Zivilisation«. Deren Merkmal wäre »selbstbewusste, freie, demokratisch erstreitbare Fähigkeit zur Selbstbeschränkung, Interessenabwägung und zur eigenen Neubesinnung.« Gemessen daran stecken wir noch in der Barbarei. Einer »pluralen Weltordnung« steht vor allem westliche Lernunfähigkeit im Wege. Von dieser haben die Eliten der Dritten Welt gelernt, sie ahmen nach, und für den Westen ist gerade diese »nachmachende Entwicklung« bedrohlich geworden. »Für kurze Zeit schien uns 1989 Geschichte wieder möglich. Aber die Chancen wurden zerstört. Die Zukunft wurde vernichtet […]. Die Apokalypse ist unausweichlich geworden.« – Undialektisch.

*

Glück. – Gesundheit, Erfolg in sinnvoller Arbeit, Liebesglück. Prekär im allgemeinen Unglück. Keineswegs das Substanzielle, wovon Adorno so merkwürdig spricht.

Systemisch vorgesehen: Plastikeuphorie, Masturbation und Schnaps bei Pay-TV im Hotelzimmer.

13. Februar 1991

Der nächste hat sich verabschiedet: Uwe Rauhöft aus Potsdam, der mit einer ideologietheoretischen Arbeit hängengelassen worden ist und einen westlichen Betreuer suchte (seine Betreuerin – Helga Marx, zusammen mit Wolfgang Jonas und Valentine Linsbauer Autorin der Produktivkräfte in der Geschichte von 1969 – war »abgewickelt« worden). Rauhöft gibt »die Philosophie« auf und wählt zunächst ein Babyjahr, um sich später wieder seinem ursprünglichen Beruf eines Mathematiklehrers zuzuwenden.

Für die Zürcher Wochenzeitung einen kleinen Kommentar zu Biermann und Enzensberger geschrieben. Nichts ist weiter weg als die Zeit der Hoffnungen von vor einem Jahr.

14. Februar 1991

Hörte am Radio Biedenkopf die Durchkapitalisierung der ehemaligen DDR mit der »ersten Mondreise der Amerikaner« vergleichen. Die Leute dort über die Maßen unzufrieden und enttäuscht. Aber sie wenden sich keineswegs der PDS zu, die sich ihnen als Interessenvertretung anbietet.

15. Februar 1991

Gorbatschow soll »Diktatur des Gesetzes« ankündigen: der Rechtsstaat wird aufgezwungen.

Vom Krieg nun Totenbilder: als zwei Raketen die, wie es heißt, 2 Meter dicken Wände eines Luftschutzbunkers in Bagdad durchschlagen hatten, war auch der von beiden kriegführenden Seiten errichtete Schleier vor den Ziviltoten zerrissen. Die Welt bekam Hunderte von verbrannten Frauen und Kindern zu sehen. Die Journalisten suchten vergeblich nach Spuren des Befehlsbunkers, von dem die USA weiterhin behaupten, dass er in jenem Bunker gewesen sei. Es scheint, sie haben mehr Waffen als Ziele.

16. Februar 1991

Mária Huber beschreibt in der ZEIT vom 1.2., was mir auch der Student aus Leningrad gesagt hat: Die partielle Währungsreform in der Sowjetunion machte fast nur Ärger, schadete den Leuten, brachte das gesamte Leben durcheinander, traf jedenfalls die Mafia so gut wie gar nicht. Die ZEIT überschreibt den Artikel: »Alle Macht dem KGB«. Auf der Titelseite ein Artikel von Christian Schmidt-Häuer: »Ein halber Putsch? Gorbatschows Wende am Ende«. – Oder rückt jetzt der Sturz Gorbatschows ins Visier des Westens? Ist es mit der Interessenübereinstimmung vorbei? Die Nachrichten aus der SU konfus-katastrophisch; ich entdecke keine Handschrift darin.

Laut Katja Maurer hat Engelbrecht gefragt, wo denn die Artikel von Haug blieben. Ich glaube, er will sehen, wie ich in der Hölle schmore.

Simulation. – Die Attrappenwaffe als Waffenattrappe, Mario Mosellis Plastikpanzer aus Turin, die jetzt im Irak US-Raketen auf sich ziehen. Der Preis nicht simuliert: 15 000 USD für einen russischen T 55 (falls es stimmt, was die ZEIT schreibt).

18. Februar 1991

Eberhard Radczuweit, der den Verein Deutsch-Sowjetische Kontakte ins Leben gerufen hat, schreibt als Reaktion auf mein Buch, inzwischen habe er den Boden unter den Füßen verloren. »Wer als Sozialist auf die Perestrojka hoffte, kann Melancholiker werden.« Er will von Westberlin aus in den sowjetischen Meinungsstreit eingreifen: »Unsere FHW-Leute sollen das Mysterium der Sozialen Marktwirtschaft entschleiern, unsere Marxisten über ML diskutieren und die ›Berliner Realisten‹ in der Manege kritische Malerei vorstellen, wo der Sozialistische Realismus (Stalinistischer Idealismus) den Realismusbegriff schlechthin in Verruf brachte.« Mich will er über A. Bytschkow nach Moskau einladen lassen. Das Institut für Gesellschaftswissenschaften habe »endgültig den Boden verloren«.

21. Februar 1991, auf der Reise nach Aachen

Zur Abwechslung bei einem DFG-geförderten Colloquium über Institutionentheorie, eingeladen von Karl-Siegbert Rehberg, der ein etwas synkretistisches, aber interessante Gedanken aufnehmendes Papier verschickt hat. Sinngemäß heißt es dort etwa: Wie bei den Reichen vom Geld, schweigt man bei den Mächtigen von der Macht. In seinem Diskurs lockert R. die härtesten Tatbestände (z.B. den gegenwärtigen Krieg), um sie so umzugruppieren, dass wenig verschwiegen und doch alles folgenlos ist. Als Denker könnte er die passive Revolution personifizieren.

Konservativ ist die Institutionentheorie, wo sie ›uns‹ herabsetzt zu Ein- und Unter-Geordneten, indem sie Ordnung alias Herrschaft als Unverfügbares voraussetzt. Ich riskiere die These, dass jede Institution als Kompromissbildung entsteht. Werde dabei von Hans-Joachim Giegel unterbrochen, der verlangt, man solle endlich den normativen Ansatz von Honneth diskutieren. Da zu meiner Verwunderung weder er noch die Joas, Honneth u.a. den Begriff »Kompromissbildung« verstehen, obwohl ich auf Freud und die Wiederaufnahme seiner Gedanken bei gewissen Linguisten und Semiotikern hingewiesen hatte, erhalte ich immer wieder griffiges Material, um nachzusetzen.

Ich schlage (vergebens) vor, die römischen institutiones als Kernbeispiel zu nehmen, dem wir nicht grundlos den Ausdruck entlehnen. Es herrscht die Tendenz, den Institutionenbegriff auf jede kulturelle Bestimmtheit, auf jede Üblichkeit auszudehnen. Eine solche Ausdehnung gibt es in der Wirklichkeit; Kerninstitutionen stützen sekundäre Institutionalisierungen. Daher ist der Begriff Institutionengefüge unentbehrlich, man muss, was er meint, dann aber auch konkret als solches analysieren. Für mich der Staat die I. par excellence. Die sog. Religion bildete ja in Gestalt der Theokratie eine frühe Form von Staat, die aber gegenüber der Kriegslogik nicht stabil war. Erst die komplexe Kompromissbildung, bei der nicht nur Herrschende und Beherrschte, sondern auch die drei Ordnungen der Regierung, der Religion und des Krieges ins Verhältnis gebracht sind, gibt den Kernbestand des Institutionengefüges her.

Schließlich frage ich, warum der Ideologiebegriff in den Thesen von Rehberg und Göhler nicht vorkommt. Riskiere den Satz: Jede Institution ist eine ideologische Macht. Werde indes belehrt, dass man diesen Begriff nicht mehr benutzen könne, genau so wenig wie Herrschaft. Von Ideologietheorie scheint hier niemand etwas zu wissen. Göhler: Ideologie ist interessiertes Bewusstsein, Lenk: Zurückbleiben hinter dem fortgeschrittensten Bewusstsein, Honneth: eine Weltdeutung mit Sperren.

Hans Joas überrascht die Anwesenden mit der Kategorie der »kollektiven Efferveszenz«, die er aus dem Französischen von Durkheim ins Deutsche übernimmt, ein wunderbares symbolisches Kapital schaffend. Er begeistert sich für »affektive Bindungswirkungen«, was Kurt Lenk zum Hinweis auf Freuds und Webers Analysen des Führerkults provoziert. Seine These: Institutionen gehen aus Erlebnissen der »kollektiven Efferveszenz« oder Fusionserlebnissen hervor. Michael Greven will wissen, wie er dann den Parlamentarismus denkt. Göhler sieht die Verfassungsgebung der BRD als rein zweckrationalen Akt, der erst später retrospektiv seinen Gründungsmythos nach sich zieht.

Joas praktiziert die »Fusion« als Denkform: »Die wirkliche Begründung einer Freundschaft ist die Freundschaft, die Begründung eines Glaubens der Glaube, einer Bindung die Bindung.« Das kriegt einen positivistischen Dreh, weil er Kritik verwirft: Gegen die Wirklichkeit ein soziales Ideal zu richten (und so denkt er Kritik), sei klassisch-jugendlich. Er hat merklich Begeisterung für seine Ware entwickelt. Und das ist eine gefährliche Ware: Bindungsmythen, zwischen Sorel und Mussolini. Im Übrigen wittere ich Institutionentechnokratie in kritisch-theoretischer Verpackung. Werde aber belehrt, dass Joas nichts mit Kritischer Theorie zu tun hat. Ich riskiere die These, dass jede I. vom Gemeinwesensfundus schöpft und dass die »kollektive Efferveszenz« ein entsprechendes Erleben ist.

Ein Schmalz-Bruns von der Bundeswehrhochschule kommt mir in der Pause aggressiv. Studenten aus Aachen retten mich. Sie kennen Schriften des Projekts Ideologietheorie und haben meine Einladung angeregt.

*

Abends bei Kurt Lenk, den ich zuerst nicht wieder erkannt hatte und der mir jetzt wieder so vertraut ist, als lägen nicht zwanzig Jahre zwischen dieser und unserer letzten Begegnung. Seine Diskussionsbeiträge helfen mir, die enorme Feindseligkeit der Prätendentengeneration zu überstehen. Lenk sieht diese Ex-Achtundsechziger ihre Versöhnung mit dem Establishment begehen. Man hat sich damals in einander getäuscht, keine der beiden Seiten ist so, wie damals gemeint. Auch ich spüre bei ihnen einen Willen zum Positiven, der immer dann eine aggressive Wendung nimmt, wenn Kritik geübt wird.

29,99 €