Der Scheich

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Der Scheich
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Wolfgang Kemp,

geboren 1946, war Professor

für Kunstgeschichte in Kassel, Marburg und Hamburg. Seit seiner Emeritierung lehrt er an der Leuphana Universität Lüneburg. Gastprofessuren führten ihn u. a. an die Harvard University, ans Wissenschaftskolleg Berlin und ans Getty Research Center in Los Angeles. Er hat zahlreiche Publikationen zur Kunstgeschichte, Architektur und Fotografie vorgelegt und schreibt regelmäßig für deutsche Zeitungen und Zeitschriften. Zuletzt sind von ihm erschienen: »Der explizite Betrachter. Zur Rezeption zeitgenössischer Kunst« (2015) und bei zu Klampen: »Der Oligarch« (2016).

WOLFGANG KEMP

Der Scheich

zu Klampen Essay

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

»What’s in a name?«

Halloween in Dschidda

Zurück in die »Public Library of US Diplomacy«: Botschafter Fowlers Depesche an sich selbst

Der Scheich, der erste Rentner seines Staates

Ausnahmescheichs

The Place We Call Qatar

»What’s in a name?«

DIE Personen in diesem Buch haben sehr lange Namen, sogenannte Kettennamen (nasab). Sie können heißen:

Turki bin Bandar bin Mohammed bin Abdurahman Al Saud

oder

Saud bin Saif al-Nasr bin Saud bin Abdulaziz Al Saud

oder

Sultan bin Turki bin Abdulaziz Al Saud

oder

Turki bin Saud al-Kabir Al Saud

oder, ein Frauenname,

Mishaal bint Fahd bin Mohammed Al Saud

Ein Kettenname dokumentiert die patrilineare Abstammung seines Trägers: Turki Sohn des Bandar Sohn des Mohammed Sohn des Abdurahman aus dem Haus Saud, dem Herrscherhaus Saudi-Arabiens. In Abstammung ist das entscheidende Wort enthalten: Es geht um die Namensgebung in einer Stammesgesellschaft. Nasab bedeutet deswegen auch Blutlinie eines Stammes. Mit Stamm assoziiert man, wenn es um die arabische Welt geht, fast automatisch die Beduinen. Das ist richtig und falsch zugleich. Falsch ist es, weil z. B. der Clan der Saud in der beduinischen Gegenwelt der hadar, der Sesshaften, groß wurde, in den festen Siedlungen meist entlang der Küsten.1 Schon im 14. Jahrhundert hatte der Philosoph Ibn Khaldun seine Zivilisation auf die kulturgeographischen Unterschiede von badawa und hadara zurückgeführt, von Wüste und Weide und von Siedlungsland. Er wusste auch schon, wie man sich die sozialen Folgen der verschiedenen »Erdungen« vorzustellen hat: Unter den sehr viel härteren Herausforderungen, welche Wüste und Nomadentum bedeuten, sei die Stammesbindung (asabiyyah) viel stärker ausgebildet als bei den hadar, die schon durch den Handel und die Nähe zum Meer eine ganz andere Außenorientierung hatten.

Bis heute spaltet der Gegensatz die Gesellschaften der arabischen Halbinsel, und jedem Araber, jeder Araberin am Golf ist eingeschrieben, dass sie diese Zivilisationsgrenze nur unter Sanktionen überschreiten dürfen. Ob man von beduinischer oder von hadarischer Abstammung ist, das weiß jeder / jede als erstes, und als zweites hat man den Rang seines Stammes verinnerlicht und welche Folgen daraus für eine stammesgemäße Heirat erwachsen. Studentinnen, 2008 in Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten befragt, wussten bis zu acht ranggleiche Stämme zu benennen, mit denen eine eheliche Verbindung in Frage kam. Asula, die Reinheit und Echtheit der Abstammungslinie, gilt es gegen alle Versuchungen der neuen Zeit zu bewahren. Die Studentinnen sahen das nicht als gravierende Einschränkung und Vorbestimmung, sondern als Garantie ihres sozialen und materiellen Überlebens, ja, sie fanden, sehr zur Überraschung ihrer Professorin aus dem Westen, das Konzept »Stamm« an sich »cool« und markierten damit den größten Unterschied zu den Nah-Ost-Studien, denen diese Größe eher peinlich geworden ist, so dass in den großen deutschen Enzyklopädien und Lexika zur Welt des Islam der Begriff nicht mehr vorkommt – das mag eine deutsche Vorsichtsmaßnahme sein. In der »New Cambridge History of Islam« (2010) verweist der Index beim Stichwort »tribes« auf eine einzige Seite, auf der die Bedeutung dieses Aspekts schlicht geleugnet wird.2

Zurück zur Familie Saud, aus deren Rängen wir eingangs fünf Angehörige mit Namen aufgerufen haben. Die wichtigsten historischen Gestalten des Hauses bekämpften die Nomaden und ihre Kultur. Wenn aber im Zusammenhang mit diesem dominanten Stamm der Halbinsel die Assoziation Beduinen nicht zu tilgen ist, dann liegt das daran, dass die Kultur der hadar kein Leitbild hervorgebracht hat und dass es sehr viel ehrenvoller war und ist, wenn man sich in eine beduinische Genealogie einschreibt. Solange Ibn Saud, der Führer eines sesshaften Clans, mit seinen blutrünstigen Ikhwan-Kriegern die arabische Halbinsel sich untertan machte, sollten die Al Saud auf eine beduinische Abstammungslinie zurückgehen. Ibn Saud erschien somit als der oberste aller Beduinen. Später, nach der Gründung des Staates, wurde die Filiation aus einem sesshaften Stamm gepflegt, um ein Zeichen für Solidität und Staatenbildung zu setzen.3 Aber aus der Kultur der Sesshaften ließ sich wie gesagt kein symbolisches Kapital schöpfen. Die »erfundene Tradition« der Ölstaaten beruft sich auf die Beduinen. Zu ihnen werden die Söhne des Hauses Saud eine Zeitlang zur Ausbildung geschickt. Falken, Kamele und edle Pferde sind die Symboltiere des Nahen Ostens geblieben, und es werden vor einem Millionen-Fernsehpublikum enorm populäre Lyrikwettbewerbe ausgetragen, die sprachlich und gattungsmäßig an die beduinische Tradition anschließen.

Es gibt weiterhin beduinische, überwiegend sesshaft gewordene Stämme, aber deren gewissermaßen bildhafte Repräsentanz des Ganzen spiegelt sich in ihrem Status nicht wider.4 Die Männer sind meist nicht im thawb, der traditionellen Männertracht, sondern in der modernen Funktionskleidung der Sicherheitskräfte zu sehen. Schon bei den Kolonialherren dienten die Stämme als Ordnungshüter; heute stellen sie das Personal der Nationalgarden und Sicherheitsdienste, ohne jedoch in Spitzenpositionen aufzusteigen. In Kuwait existieren am Rande der Gesellschaft etwa 100 000 sogenannte Bidun, das sind zwar ehemalige Beduinen, doch bedeutet Bidun etwas anderes, nämlich Staatenlose, Outcasts. Es sind Nomaden, die es nicht geschafft haben, sich als Staatsbürger des Emirats registrieren zu lassen, als Kuwait 1961 unabhängig wurde. In die berüchtigten ashwayyat oder Slums eingepfercht lebend, ohne Pass, bürgerliche Rechte, Sozialhilfe und Zugang zu Schulen, bilden sie eine Klasse von Ausgegrenzten, die zudem den Nachteil haben, dass sie in ihrer Mehrheit der Shia, also dem Schiitentum, angehören und damit, kämen sie in den Genuss der Staatsbürgerschaft, das Gleichgewicht der Religionen im Staat verändern würden. Soviel erst einmal zur Hochschätzung des Beduinentums im Nahen Osten. Man könnte sagen, die Beduinen haben in der Geschichte verloren, in der Kulturgeschichte gesiegt.

So weit reichen die Dynastien, welche an der Spitze der zehn Staaten stehen, auf die wir hier schauen, nicht zurück: Die Familie Saud etablierte sich im 18. Jahrhundert, die Al Thani, das Herrscherhaus von Katar, in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Gleichwohl sind das genealogische Interesse und der Wunsch, die Blutlinie der Familien und Stämme noch sehr viel tiefer, über den namensgebenden Gründungsvater hinaus zu sichern, am Golf geradezu eine Obsession. Die im Auftrag der Herrscherfamilien und der großen Clans tätigen Forscher haben die Freiheiten, die eine im wesentlichen mündliche Tradition ihnen einräumt, genutzt, aber sie sind von ihren Auftraggebern auch angehalten worden, durch Ableitung die richtigen Signale zu senden.5

Dem westlichen Beobachter sagen weder die Ketten, noch die Namen der Clans, noch die Personennamen etwas. Abdulaziz heißt »Diener des Allmächtigen«, und das war der Vorname des Gründers des Staates Saudi-Arabien: erst Scheich, dann Emir, dann Sultan, dann König Abdulaziz (Diener des Allmächtigen) ibn Abd ar-Rahman (Knecht des Barmherzigen) ibn Faisal (Richter, Schlichter zwischen Gut und Böse) Al Saud. Diese Kette verrät in ihrer Übersetzung sehr schön eine Dualität, die für den Islam typisch ist: die Koexistenz von Dienerstellung gegenüber Gott auf der einen und von irdischer Stellvertretung Gottes auf der anderen Seite – und letzteres nicht durch einen Papst, sondern einen Muslim, wenn auch in diesem Fall durch einen sehr hochgestellten Gläubigen.6 Die Al Saud freilich kennt man, und dies aus dem Grund, weil besagter Abdulaziz wohl als erster in der Geschichte überhaupt das von ihm eroberte Land mit dem Stammesnamen eines lebenden Regenten belegte: Saudi-Arabien, das Arabien des Stammes Saud. Die Al Thani, Al Sabah, Al Said, Al Khalifa, Al Nayan, Al Maktoum sind dagegen im Westen kaum oder gar nicht bekannt. Aus diesen Familien gehen die Scheichs, Sultane und Emire von Katar, Kuwait, Oman, Bahrain, Abu Dhabi und Dubai hervor. In den Ländern des Nahen Ostens sind diese Namen so geläufig wie bei uns von Bismarck oder von Weizsäcker.

 

Nun werden die Herrscherhäuser durch Polygamie und unfassbaren Reichtum sehr groß, und so kommt es darauf an, welcher Linie ein Familienmitglied angehört. Das aber ist nur dann abzulesen, wenn der Kettenname die wichtigsten Stationen der Abstammung mitliefert. Alle Söhne Ibn Sauds, wie der Gründer der Dynastie meist kurz genannt wird, hießen hinter ihrem Eigennamen »bin Abdulaziz Al Saud«. In ihren Reihen formte sich ein Clan im Clan, eine Stammeselite heraus, die »Sudairi-Sieben«; das sind die Söhne, die Ibn Saud mit Hasa bint Sudairi hatte. Drei Könige gingen aus ihren Reihen hervor, so auch der amtierende König Salman, und sie sicherten sich und ihren Nachkommen die wichtigsten Ministerien und Gouverneursposten. Am Kettennamen ließ sich ihre privilegierte Abstammung aber nicht ablesen. Da war Wissen gefordert. Auch der zum Nachfolger Salmans zunächst bestimmte Kronprinz Mohammed bin Nayef bin Abdulaziz Al Saud stammt aus dieser Linie, was man jetzt, in der dritten Generation, dem Namen entnehmen kann. Sein Vater Nayef gehörte zu den »Sudairi-Sieben«, war Kronprinz, Erster Stellvertretender Premierminister und ewiger Innenminister, sein Sohn Mohammed vereinte bis vor kurzem die Ämter des Kronprinzen, des Ersten Stellvertretenden Premierministers und des Innenministers in seiner Person. Dem Kettennamen entsprechen in den Kreisen der Machthaber Ämterketten – und es wurden hier nur die höchsten Positionen genannt, es folgen hohe Ehrenämter. Im Moment heißt der Kronprinz aber Mohammed bin Salman und ist als Sohn König Salmans ebenfalls ein Abkömmling der »Sudairi-Sieben«.

Doch es gibt auch viele Nebenlinien und unabhängige Clans und weiterhin echte Beduinenstämme mit bedeutungsvollen Namen. Kronprinz Abdullah bin Abdulaziz Al Saud, der De-facto-König Saudi-Arabiens im Jahr 2001, näherte sich mental dem Angriff auf die Twin Towers, indem er über die Familiennamen der 15 saudischen Attentäter nachsann, also über die Al Sheri, die Al Ghamdi, die Al Hasmi usw. Man mag an eine Legende aus der Sparte »Der trauernde Landesvater und seine verlorenen Söhne« glauben, doch unter den Bedingungen des späten Tribalismus ist solches Nacharbeiten absolut plausibel. Kronprinz Abdullah war Jahrgang 1924, er hatte die Entwicklung und die Rolle dieser und anderer Clans beim Aufbau des Staates verfolgt und hatte sich als Befehlshaber der Nationalgarde (45 Jahre lang) und als Verteidigungsminister ein Bild von den Stämmen und ihren Söhnen gemacht.

Über den militärischen Wert der Nationalgarde kann man verschiedener Meinung sein, aber ihre innenpolitische Bedeutung ist außerordentlich und besteht darin, die Stämme und ihre Rangstufen mehr oder minder gerecht abzubilden und in Balance zu halten. Was der Kronprinz und oberste Nationalgardist sagte, als er zum Telefon griff und mit den Oberhäuptern der betroffenen Stämme sprach, ist nicht überliefert, aber die Rolle des obersten Stammesführers dürfte er mit anderen Inhalten ausgelegt haben als sein Innenminister und Halbbruder Nayef, der eigentlich zuständig für die 9/11-Untersuchungen war und sogleich die These von der zionistischen Verschwörung herausposaunte.7 Aber wie schon ausgeführt: Sich bei den Stämmen auszukennen, die eigene Herkunft aus den sesshaften und den nomadischen Geschlechtern und ihren sozialen Rang zu wissen, das ist nicht allein Vorrecht und Pflicht des Königs, das gehört zum sozialen Alltagswissen aller seiner Untertanen. Ihnen ist asula vorgeschrieben, die Pflege einer reinen und stammesgemäßen Genealogie.

»What’s in a name?« Die Namensforscherin Alexandra Alter hat darauf einmal die kurze und für den Kulturraum des Nahen Ostens in hohem Maße zutreffende Antwort gegeben: Stress. Das kann man unterschreiben, wenn man an Shakespeares Julia denkt, die diese Frage zuerst gestellt hat. »What’s in a name?« fragt Julia Capulet ihren Romeo, den Geliebten aus der feindlichen Familie der Montague, und fordert: »Deny thy father, and refuse thy name!« Das hat damals schon nicht funktioniert und ist in einer Kultur wie der arabischen undenkbar. Man kann weder aus dem Islam noch aus dem Familiennamen »austreten«. Der Syrer Ali Ahmad Said Esber hat das einmal versucht. Er wagte es, mit 17 Jahren den Dichternamen Adonis anzunehmen. Scheich Mohammed Seid Raslan forderte in mehreren Fatwas seinen Tod, weil der Dichter den islamischen Namen Ali abgelegt und sich nach einem Heiden benannt hatte. Der Dichter selbst bekannte sich dazu, denn er fühle sich den »vorislamischen und panmittelmeerischen Musen mehr verpflichtet« als den islamischen. Adonis lebt aus guten Gründen und hoffentlich sicher in Paris.

Selbstverständlich haben alle arabischen Männer und Frauen Anrecht auf einen Kettennamen, auch wenn er nicht mit einer so klangvollen Endnote abschließt wie bei den Scheichs. Dafür konnten sie zum Sippennamen noch geographische Herkunftsnamen oder Berufsbezeichnungen aufnehmen, was eine Scheich-Familie nicht getan hätte. Aber die sozialen Unterschiede macht nicht nur der edle Familienname deutlich, statt Kettennamen sind heute Namen üblich, die aus Personen- und Familiennamen bestehen und damit der westlichen Nomenklatur, vor allem aber den Anforderungen elektronischer Lesbarkeit entsprechen: Nabil al-Zahlawi, Iqbal Hamza, Azzam Tamini. Abkürzungen von Namensketten sind nicht üblich. Die Scheichs hingegen tragen weiter lange Namen wie eine Schleppe. Das macht ihnen keine Mühe, möglicherweise aber den Inhabern jener vielen Stiftungsprofessuren, welche die Scheichs in England und den USA eingerichtet haben. An der Universität Durham lehrt ein »His Highness Sheikh Nasser bin Muhammad bin Al Sabah Chair in International Relations, Regional Politics and Security«. Der Inhaber heißt nur Prof. Dr. Anoush Etshami, aber er braucht trotzdem eine ausklappbare Visitenkarte.

In diesem Essay ist pauschal die Rede vom Scheich. Mit diesem Begriff wurde ursprünglich das Oberhaupt eines Stammes bezeichnet. Im Fall großer Macht, auch Oberhoheit über andere Stämme, hieß der Scheich dann Emir oder Sultan. Es gab nur sehr wenige Träger dieses Titels, so wie es im Westen eben auch nur wenige Fürsten oder Könige gab. Das änderte sich, als die Territorien des Nahen Ostens zu eigenständigen Staaten aufstiegen und das Große Öl floss. Zum einen bediente man sich daraufhin westlicher Titel wie König, Kronprinz, Prinz und Prinzessin, Hoheit, oder man machte alle Mitglieder einer regierenden Dynastie zu Scheichs und Scheichas. Insofern ist der generische Gebrauch des Wortes, wie er in Titeln wie »Die Scheich-AG«, »After the Sheikhs«, »Wer den Scheich küsst« zum Ausdruck kommt, nicht nur westlich nachlässig und pauschal. Der Titel Scheich ist zum Inbegriff eines orientalischen Würdenträgers also auch durch seine extrem hohe Verbreitung geworden. Woran man allerdings seltener denkt, ist die Tatsache, dass der Ehrentitel auch geistlichen Führern zukommen kann, also Religionsgelehrten oder spirituellen Meistern im Sufismus. In Saudi-Arabien ist die Funktion der Religionsführer effektiv vererbbar. Sie rekrutieren sich aus einer Familie, die den Ehrentitel Scheich in ihrem Namen verewigt hat: Sie heißen die Al Scheich. Von dieser geistlichen Klasse der Scheichs wird hier nur die Rede sein, wenn sie Einfluss auf das Wirken ihrer weltlichen Pendants nimmt.

Die Staaten am Golf wurden unabhängig, Saudi-Arabien bereits 1932, die anderen erst in den sechziger und siebziger Jahren, und gleichzeitig lieh man sich bei den westlichen Kolonialmächten Anreden, Ränge und die Essentials eines höfischen Protokolls aus. Man imitierte noch sehr viel mehr, aber man imitierte nicht alles. Institutionell blieb man bei der Polygamie, und patrilinear heißt in der Nachfolgeordnung nicht automatisch Primogenitur wie im Westen. Die älteren Söhne haben zwar Vorrechte und Pflichten, aber der Nachfolger des Oberhauptes wird nominiert, also nach dem Ratschluss der Familie (shura) aus den Männern des Stammes ausgewählt. Nominierung ist der Beweis dafür, dass nicht der Fürst, sondern die Sippe die höchste Instanz im zentralarabischen Raum darstellt und dass wir deswegen von der merkwürdigen Regierungsform der konsultativen Erbautokratie sprechen können. Noch schwieriger klingt »religiös-tribal-royalistische Staatsform« (Bassam Tibi).

Die Wahl zu haben, setzt Reichtum voraus, und das ist vielleicht das stärkste Movens in einer Kultur, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts im Mangel gelebt hat. Im Mangel, den man durch sein Gegenteil, den Überfluss, und oft durch den Exzess zu bekämpfen suchte. Als Ibn Saud das riesige Gebiet der arabischen Halbinsel eroberte, ging er Ehen mit Frauen aus vielen ehemals verfeindeten Stämmen ein. Die Zahl seiner Gattinnen und Konkubinen lag bei etwa 22, die Zahl der Kinder bei knapp 100, darunter 45 Söhne. Er erheiratete sich im großen Stil den inneren Frieden seines Territoriums. Und nach dieser gewaltigen Streuung der Erbmasse setzte die klassische Umkehr ein und genetischer und materieller Reichtum wurde innerfamiliär verteilt. Die Heirat unter Cousinen und Cousins war und ist die Regel. Das muss aber nicht mehr über Kreuz geschehen wie in den beduinischen Stammesgesellschaften, denn die Sippe ist groß geworden, sehr groß: Im Fall der Al Thani liest man hier und dort die Zahl 20 000, konservativere Schätzungen sprechen von 5–6 000 Prinzen und Prinzessinnen. Mai Yamani, als Tochter eines Ölministers eine Kennerin der saudischen Verhältnisse, schätzte vor zehn Jahren die gesamte königliche Familie Saudi-Arabiens auf 20 000 Mitglieder, das ergibt ein Verhältnis Royals zu Nicht-Royals von 1:1 000, in Großbritannien liegt es bei 1 : 5 000 000.8

Was erbbiologisch akzeptabel ist, kommt ökonomisch und politisch zunehmend einer Plage gleich. Vielleicht auch in religiöser Hinsicht, denn es heißt in Sure 8, Vers 28: »Und wisset, dass euer Gut und eure Kinder nur eine Versuchung sind, und dass bei Allah gewaltiger Lohn ist.« Die Familie, die nach Stammesbrauch gehalten und erhalten werden soll, selbst wenn ihre Größenordnung alle Vorstellungen sprengt, ist eine von drei Achsen dieses Buches.

Stamm, Islam, Öl: die unheilige Dreieinigkeit

Die beiden anderen Achsen sind der Islam und das Öl. Beide Faktoren tragen generell zum enormen Bevölkerungswachstum am Golf und speziell zur inflationären Vermehrung der Prinzen- bzw. Scheichkaste bei: der Islam, weil sein Expansionsverlangen unter anderem auf der Förderung größtmöglicher Fruchtbarkeitsraten beruht, und das Öl, weil es den Reichtum bringt, der den Unterhalt riesiger Familien ermöglicht und ein langes Leben garantiert. Die einheimische Bevölkerung hatte schon seit den siebziger Jahren das Anrecht, ihre Krankheiten im Ausland behandeln zu lassen. Dieses Privileg besteht in einigen Golfstaaten bis heute, obwohl sich in der Region längst Kliniken mit höchsten Standards etabliert haben. Die Lebenserwartung liegt heute in Bahrain bei 79, in Afghanistan bei 50 Jahren.

Öl-Staaten sind fast alle Problemstaaten. Das hat nicht nur mit Preisschwankungen und Monokultur zu tun. Außenpolitisch heißt das für den Nahen Osten: Großer Reichtum verlangt nach großen Sicherheitsvorkehrungen, und Emirate von der Größe 11 627 km2 (Katar) lassen sich militärisch nicht verteidigen. Die Abnehmer des Öls steigen zu Schutzmächten auf, und das führt islambedingt dauerhaft zu Spannungen, denn die Beschützer sind die »Ungläubigen«. Und diese können die Ölstaaten nicht nur aus der Luft oder aus dem All verteidigen, sondern sie brauchen Basen – Basen im Heiligen Land.

Innenpolitisch ist bedenklich, dass das Öl von Anfang an nicht als Gemeineigentum der Nation behandelt wurde. Die Erträge aus der Ölförderung werden nach einem von der Herrscherfamilie bestimmten Schlüssel auf die Staatskasse und auf die Familienkasse verteilt. Die Geschichte der neuen Staatsform, die wir Rentenstaat nennen und zu der wir noch ausführlicher kommen, begann im Iran nach dem Zweiten Weltkrieg. Anders als dort, wo 1951 die Einkommen aus dem Ölexport (die Rente) verstaatlicht und zum Aufbau einer etatistischen Regierungsform, eines Staatssozialismus, verwandt wurden, flossen am Golf die Einnahmen dem regierenden Stamm zu und wurden von ihm der einheimischen Bevölkerung zugewiesen (Allokation der Rente).

Es gab und gibt freilich verschiedene Stile des Umgangs mit den Petrodollars in höchster Hand: knauserige oder freigiebige, verschwenderische oder auf bauende, aber die Familienfürsorge hat immer die Priorität. Gerne erzählt man am Golf Geschichten von Scheich Shakhbut bin Sultan Al Nahyan, der glaubte, den neuen Ölstaat Abu Dhabi ohne Ausbau der Infrastruktur führen zu können. Er hielt die Schatztruhen einfach verschlossen. Banken, sprich: andere Truhen, ließ er nicht zu. Dass er ihr Wesen nicht verstand, zeigte sich, als er sie schließlich doch in sein Emirat holte. Er nahm Kredite auf und wollte sie nicht zurückzahlen, denn er hielt sie für Geschenke. 1965 wurde er entmachtet. Wie danach sich das Verhältnis von »Truhe« und Staatshaushalt gestaltete, wird uns später ausführlicher beschäftigen. Und dann wird es auch um den Faktor Islam gehen.

 

Verschwundene Söhne und Töchter

Um zu den vier männlichen Namen zurückzukommen, an denen wir eingangs die arabische Nomenklatur erläutert haben: Es sind die Namen von vier saudi-arabischen Prinzen, derer wir hier gedenken wollen. Der erste, Sultan bin Turki, bestieg am 1. Februar 2016 in Paris ein Flugzeug mit dem Ziel Kairo. Es wurde nach Riad umgeleitet. Die Begleiter des Prinzen wurden entlassen, er selbst wird nach heutiger Erkenntnis irgendwo in Saudi-Arabien festgehalten.9 Das Kuriose an seinem Fall ist, dass der Mann bereits 2003 aus seinem Schweizer Wohnort Genf in einem sehr aufwendigen Verfahren und unter Mitnahme seiner Papiere und Akten nach Riad verschleppt wurde, wo er sich später wohl unter Zusage konformen Verhaltens wieder freimachen konnte. Prinz Sultans zweite Entführung war kausal mit seiner ersten verbunden: Er hatte 2015 vor einem Schweizer Gericht Klage gegen seinen Cousin Prinz Abdulaziz bin Fahd erhoben.10 Dieser habe seine erste Verschleppung veranlasst. Noch nie hatte einer aus dem inneren Kreis der Enkel Ibn Sauds ein anderes Familienmitglied in aller Öffentlichkeit belangt, und noch dazu vor einem Gericht im »Lande der Ungläubigen«. Bevor der Prozess beginnen konnte, war der Prinz weg.

Der zweite der Prinzen, Turki bin Bandar, wurde zum letzten Mal im Juli 2015 gesehen. Sein Reiseziel Marokko war offenbar nicht sicher genug, um seine Auslieferung nach Saudi-Arabien zu verhindern. Prinz Saud bin Saif, der Dritte im Bunde, bestieg nach Angaben seiner Freunde im Herbst 2015 den Privatjet eines russisch-italienischen Konsortiums, um zu einem Treffen angeblich in Italien zu fliegen. Er ist seitdem vermisst. Wenige Tage vorher hatte er den Rücktritt seines Großonkels König Salman verlangt. Er unterhielt einen sehr aktiven Twitter-Account mit stark regimekritischer Tendenz.

Auch diese beiden Prinzen waren als Kritiker ihrer Familie und des politischen Systems ihres Landes an die Öffentlichkeit getreten. Das wird der Grund ihrer Entführung gewesen sein. Das saudische Königshaus hatte schon einmal den Auf tritt einer Gruppe von sogenannten Freien Prinzen erlebt. Auf eine Wiederholung war man im Diwan nicht erpicht. Hinzu kommt, dass das Klima im Palast zu Riad gerade 2015/2016 aufs äußerste angespannt war: König Salman hatte 2015 mit 80 Jahren den Thron bestiegen. Als einer der »Sudairi-Sieben« musste er erst einmal die Günstlinge seines Vorgängers entmachten und seinen Clan im Clan wieder mit den Schlüsselpositionen ausstatten. Und jetzt kam die Familie Saud um eine Nachfolgeregelung nicht herum, die zum ersten Mal die Generation der Enkel Ibn Sauds einbezog – und das sind abstrakt betrachtet Tausende von Prinzen, alle so zwischen 40 und 60 Jahren, von denen sich freilich 95 Prozent sofort ausmendelten, weil sie nicht den Hauptlinien angehörten. Dieser Gruppe, vor allem den von Ressentiments und Langeweile erfüllten Prinzen am Rande, erteilte der Palast eine Warnung, indem er drei von ihnen quasi chirurgisch entfernte. Das früher erprobte Mittel einer Ausfinanzierung der Konflikte, also des Kaufs von Loyalität, genügt heute nicht mehr, denn viele Prinzen sind mittlerweile finanziell unabhängig von den regelmäßigen Zuwendungen aus der Palastkasse. Und dieser Fundus dürfte mehr als strapaziert sein. Verschwinden lassen kommt billiger.

Die drei Prinzen sind keine Ausnahme. Erzwungenes Verschwinden (forced disappearance, incommunicado detention) ist eine leider im Nahen Osten weitverbreitete Form staatlicher Willkür, und wir sprechen hier nicht von den mehr oder minder gescheiterten Staaten Libanon, Irak, Syrien, Jemen, sondern von den Boom-Staaten am Golf, von Ländern, deren Besuch nicht nur bei den Staatsoberhäuptern des Westens hohe Priorität hat, sondern auch bei ihren Untertanen: 83,6 Millionen Fluggäste fertigte der Flughafen von Dubai 2016 ab. Und irgendwo in der Wüste, oft gar nicht weit von den internationalen Flughäfen entfernt, könnte man die mafqudin, die »fehlenden Menschen«, antreffen, so sie nicht schon im Sand verscharrt worden sind. Die Emirate und die anderen Golfstaaten sind Mitglieder der Vereinten Nationen, aber sie haben die wichtigsten Konventionen des Völkerbundes nicht unterschrieben. In der Praxis heißt das: Außer Geldbußen und Gefängnisstrafen sind Körperstrafen wie Auspeitschen, Verstümmeln oder Steinigen ebenso zulässig wie Foltern und öffentliche Hinrichtungen durch Feuer und durch das Schwert. Jahrelange Verschleppung von Prozessen und die Nichtentlassung nach Absitzen einer Strafe oder nach einem Freispruch gehören zu den eher lässlichen Sünden des Unrechtssystems.

Dass zahlreiche Menschen in diesen Regionen verschwinden, so wie ihre Vorfahren früher in der Wüste einfach verloren gingen, das ist lediglich Gegenstand von speziellen Berichten der Menschenrechtsorganisationen.11 Als erste verschwinden Aktivisten aus dem politischen Widerstand, dann Arbeitsmigranten, weil man sich die Mühe einer formalen Anklage nicht gemacht hat und die Herkunftsländer sich nicht kümmern oder schlicht nicht informiert werden. Da verwundert es nicht, dass die Staaten am Golf von den Menschenrechtsorganisationen ganz unten eingestuft werden, was bürgerliche Freiheiten und die Beteiligung am politischen Leben angeht: Saudi-Arabien rangiert in der Einschätzung von Freedom House am Ende der Liste, gemeinsam mit Syrien, Nordkorea, Somalia und der Zentralafrikanischen Republik.

Es gehen aber ebenso Ausländer, »Ungläubige«, verloren, wenn sie irgendeinem Scheich in die Quere gekommen sind. Nehmen wir den Fall des deutschen Filmemachers Hans Peter Schneider-Döll. Er war ohne Anklage im Emirat Abu Dhabi quasi in staatliche Geiselhaft genommen worden, um seinem Arbeitgeber, einem Scheich aus dem Clan Maktoum, der Herrscherfamilie im benachbarten Dubai, einen Schadensersatz abzupressen. Sieben Monate Haft in den sechs Haftanstalten von Abu Dhabi, darunter in dem berüchtigten Wüstengefängnis, folgen. Dann kommt es zu einer Szene, die uns sehr genau den »Verschwundenen« in seiner Aporie vor Augen führt. Nach monatelangem Betteln und Hungerstreiken wird Schneider-Döll einem Beamten der Gefängnisverwaltung zugeführt. Sein Begehr ist, mit einem Anwalt telefonieren zu dürfen. »Der Assistent hat Peters Akte vor sich liegen und blättert sie durch. Dann sagt er erstaunt: ›Aber es gibt doch überhaupt keine Anklage gegen Sie. Wofür brauchen Sie dann einen Anwalt?‹« Das ist der Kafka-Moment. Nicht angeklagt, wer begehrt da noch einen Rechtsbeistand, fragt zu Recht der Hüter des Gesetzes. Der Tatbestand monatelanger Freiheitsberaubung bleibt unmarkiert: Schlafen auf Betonfußboden, Zellen mit Fenstern ohne Glas, schwere Erkrankungen, Hungerstreik – das ist die fraglose Realität im Wüstengefängnis.

Dann nähert sich der Deutsche im Dialog einer gefährlichen Klippe, die den Sturz in das Schattenreich der ewig Verschwundenen bedeuten könnte.

»Der Assistent fragt nach: ›Und was erwarten Sie von einem Anwalt? Was soll er für Sie tun?‹ Peter ist in eine Falle geraten. Natürlich kann er nicht sagen, dass er ein Verfahren gegen seine Inhaftierung anstrebt. ›Ich will mich nur beraten lassen.‹ ›O.k., Sie können gehen. Werden Sie nun wieder essen?‹«12

Die Falle würde in der Tat zuschnappen, wenn ein Festgenommener das Unaussprechliche, also das Unrechtssystem, zur Sprache bringen würde: hier vor Ort und möglicherweise irgendwann danach, nach seiner Entlassung. Solcher Einspruch würde aber nur von denen zu erwarten sein, die mit dem ungemein kreativen Katalog der Verbrechen und Strafen, der Scharia heißt, und der von ihr abgeleiteten staatlichen Gesetze nicht vertraut sind. Zuerst einmal: Die Gesetzeslage in den Vereinigten Arabischen Emiraten räumt den Sicherheitskräften das Recht ein, Verdächtige 106 Tage »zurückzuhalten«, wenn sie ausreichend suspekt sind, »den Staat zu unterminieren oder die Einheit der Gesellschaft in Gefahr zu bringen«.13 Wenn dann Anklage erhoben wird, dauert es oft Jahre, bis der Prozess stattfindet. Das wäre sozusagen die offizielle Freiheitsberaubung.