Loe raamatut: «Kapitalismus Forever»

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Wolfgang Pohrt

Kapitalismus

Forever

Über Krise, Krieg, Revolution,

Evolution, Christentum und Islam

FUEGO

Über dieses Buch:

In einem Rundumschlag kommentiert Wolfgang Pohrt die Angst der Kommunisten vor dem Crash und andere Aspekte der aktuellen Diskussion. Dabei weiß er wie immer mit originellen Gedanken zu brillieren. Die Linken klagen den Kapitalismus auf moralische Weise an, in Wirklichkeit jedoch wollen sie ihn retten, dabei ist er auf ihre Hilfe gar nicht angewiesen, denn der Kapitalismus ist ein System, das sich ständig neu erfindet und unkaputtbar ist und das aus jeder Krise gestärkt hervorgeht.

»Überhaupt kann man den Kapitalismus nur bewundern, je länger man sich mit ihm befasst. Marx ging es wohl ganz ähnlich, er hat am Ende auch nicht mehr gewusst, durch was man ihn ersetzen könne. Das Kapitel über den Kommunismus am Ende vom dritten Band des Kapitals ist ganz kurz. Und bestimmt nicht deshalb, weil Marx zu früh gestorben ist, um das Werk zu vollenden. Auch wenn er noch weitere 100 Jahre gelebt hätte, wäre ihm das nicht gelungen.« | Wolfgang Pohrt

»Das ist, wie immer bei Wolfgang Pohrt, um ein paar Klassen besser als das, was man sonst lesen muß.« (Hans Magnus Enzensberger )

»Sein aktuelles Buch zur Dauerkrise könnte man kühl als marxistisch geschulten Assoziationsrap klassifizieren. Aber das ginge am Wesentlichen vorbei. Es gibt Passagen darin, die man sich laut vorlesen möchte. So klug, so klar, so heiter.« (Malte Lehming, Tagesspiegel)

Der Aufbruch ist ein Zusammenbruch

Die Finanzkrise hat Folgen. Steht der Sozialismus vor der Tür? Kommt er doch noch? Konservative laufen zu den Linken über, die angeblich alles schon längst gewusst haben. In der Zeit wird nach »Alternativen zum Kapitalismus« gesucht. Im FAZ-Feuilleton darf die eiserne Lady der Linkspartei gegen ungebremste neoliberale Politik wettern, welche Geldvernichtung betreibe und den Mittelstand ruiniere .

Sahra Wagenknecht also, die immer so aussieht, als käme sie frisch aus der Maske für einen Historienfilm im Zweiten. Auf echt geschminkt spielt die Rosa-Luxemburg-Doublette Kapitalschützerin und sorgt sich im Großkapitalistenblatt um den Mittelstand. So lustig war Volksfront noch nie.

In der Gesinnungsbranche geht es zu wie auf der Swinger-Party, Sodom und Gomorrha. Haben die alle gekokst? Jeder umarmt jeden, die Wagenknecht den Lafontaine, der Schirrmacher die Wagenknecht, den wiederum der Lafontaine usw. Ist das ein Remake von Lubitschs alter Stummfilmkommödie Ehe im Kreis?

Aber es kommt noch besser. Neuerdings werden wieder »Kapital«-Schulungskurse angeboten, wie in längst vergangenen Zeiten.

Das spricht für sich. Marxismus ist Schlafmittel, Beruhigungspille und Beschäftigungstherapie. Wir beobachten ihn immer dann, wenn die Leute lieber noch mal ein ganz dickes Buch lesen und danach gleich noch eins. Alles, bloß kein Krawall. Niemand wird enteignet. Die nächsten fünfzig Jahre ändert sich nichts, jedenfalls nichts von Bedeutung. Das ist die frohe Botschaft, die wir eintüten dürfen.

Occupy zum Beispiel: Die Sommercamps mitten in der City hat man sich abgeguckt von Gaddafi, der früher mit seinem Wanderzirkus durch die Hauptstädte getingelt ist und immer nur im mitgeführten Zelt geschlafen hat. Auch Gaddafi hatte übrigens unter der Zwangsidee gelitten, ein drittes System neben Kapitalismus und Kommunismus erdacht zu haben und es per »Grüner Revolution« realisieren zu müssen.

Bei Occupy ist es zwar keine One-Man-Show mehr, sondern es sind Massen, immerhin. Aber dafür sind die Massen anderswo nicht mehr. Um den Event-Tourismus zu den G8-Gipfeln ist es still geworden, oder haben diese Gipfel aufgehört? Also nichts Neues unter der Sonne.

Ich weiß, viele sehen das ganz anders. Sie glauben an den Slogan von der Welt im Wandel. Wenn ihre eigene soziale Lage sich ändert, dann meinen sie, es verändere sich die Welt, für deren Zentralgestirn sie sich offensichtlich halten. Sie gleichen Himmelsbetrachtern vor der kopernikanischen Wen­de. Ihr egozentrisches Weltbild täuscht ihnen tausend Weltuntergänge vor, von der Rente mit siebzig über die Niedriglohnjobs bis zum Verfall des Euro. Sie sehen sich selbst im Strudel rasanter Veränderungen, die aus ihrer Perspektive immer Veränderungen zum Schlechten sind. Dass es Menschen anderswo dafür besser geht, übersehen sie.

Oft fordern sie, das Alte zu bewahren, weil alles Neue nur eine Verschlechterung sei. Aber das war schon immer der Lebenstraum alter Männer. Auch insofern hat sich nichts verändert. In einem Zitat, das Ambler seinem Roman »Mit der Zeit« vorangestellt hat, heißt es: »Unsere älteren Männer haben Angst davor, dass sich die Hand der Zeit all dessen bemächtigt, woran sie geglaubt haben.« Man kommt eben in die Jahre, wo eine »flüchtige Ahnung des Scheiterns wie eine Vision des Todes selbst« erscheint.

Das Alte bewahren – der Bundespräsident hat das in seiner Weihnachtsansprache gefordert, er hat gesagt, dass Europa ein wertvolles Erbe sei, das erhalten werden müsse. Vor dem Bundespräsidenten hat es schon Papst Benedikt auf seiner Deutschland-Tournee gesagt. So klingt das, wenn sie aus dem letzten Loch pfeifen.

Jeder will ein Etwas erhalten, aus welchen notwendig doch wieder genau das hervorgehen muss, was er für eine schädliche Veränderung hält. Das Alte bewahren heißt, die Bedingungen konservieren zu wollen, unter denen sich alles das entwickelt hat, was heute abgelehnt wird. Wie wenn man dem Huhn sagt »Werde wieder ein Küken!« und dem Küken »Werde wieder ein Ei!« Selbst wenn es funktionieren würde, wäre nichts gewonnen, weil aus dem Ei ja wieder ein Küken wird und aus dem Küken ein Huhn usw.

Der Papst etwa würde die Kirche gern in den Zustand zurückversetzen, worin sie sich im Jahr 900 nach Christus befunden hatte. Dabei trug sie doch schon damals den Keim dessen in sich, was heute aus ihr geworden ist. Kommunisten wiederum denken voller Wehmut an die alte Arbeiterbewegung zurück. Aber die war doch schon immer der Schrott gewesen, als welcher sie sich 1914 entpuppte. Der Blick zurück ist ein Blick in den Spiegel. Und mit Entsetzen stellt man fest, dass es immer schon so war, wie es heute ist.

Die Veränderungen, die viele aus der älteren Generation zu erkennen meinen, sind oft nur eine Sinnestäuschung. Wir verändern uns, wir werden alt. Die Welt verändert sich nicht. Wenn eine Mühle tut, was sie immer tut, nämlich sich weiter zu drehen, ist das keine Veränderung, sondern Kontinuität.

Manchmal knirscht es dabei ein bisschen. »Rickeracke geht die Mühle mit Geknacke«, heißt es in »Max und Moritz«. In der Mühle knackt es, weil gerade Max & Moritz reingefallen sind. Es handelt sich aber um keine Knochenmühle, sondern eine Getreidemühle, und das Mahlwerk reagiert auf das Material, wofür es nicht ausgelegt ist, mit Misstönen. Aber deshalb bleibt die Mühle nicht stehen. Sie mahlt einfach weiter, und das ist es, was der Marxismus signalisiert.

Normalerweise ist er die Ruhe nach dem Sturm im Wasserglas. Also erst herrscht Bewegung, und wenn die nicht mehr weiter kann und zerfällt, kommt der Marxismus. Das war in der UdSSR so gewesen, das war in der DDR nicht anders, das war im ganzen früheren Ostblock so, und sogar in Kuba. Castro wurde Marxist, als er aufgehört hatte, Revolutionär zu sein. Heute ist es ähnlich und doch anders, die Sache fängt schon mit dem dicken Ende an, die Bewegungsphase wird übersprungen. Wie von 1000 Demonstrationskilometern erschöpft verkriechen sich die Leute in die Leseecke. Irgendwie ist das komisch. Andererseits passend dazu, dass heute schon Kita-Kinder unter Burnout-Syndrom leiden. So wird aus dem Aufbruch ein Zusammenbruch, und man kann das gar nicht mehr unterscheiden, ob einer sich aufrappelt oder zusammenkracht.

Bildung ist Verblödung

Wenn man sich dem Nest einer Amsel nähert, entsteht bei ihr ein Konflikt zwischen widerstreitenden Interessen. Einerseits drängt es sie, ihre Brut zu schützen. Anderseits zwingt der Selbsterhaltungstrieb sie dazu, die Flucht zu ergreifen. Sie macht dann folgendes: Sie fliegt fort, bleibt aber in der Nähe. Dort lässt sie sich nieder und fängt an, sich zu putzen. Aber nicht aus Eitelkeit, sondern weil ihr nichts Besseres einfällt. Auch Menschen fassen sich aus Ratlosigkeit gern an den Kopf oder sie fahren sich mit der Hand über die Stirn, wie wenn sie ein Haar wegstreichen würden. Eine ähnliche Reaktion ist der Marxismus.

Manche sagen, ein gutes Buch wie »Das Kapital« sei für den Leser immer ein Gewinn. Wenn sie statt »Leser« »Verleger« sagen würden, wäre es wenigstens betriebswirtschaftlich richtig. Die Nachtragenden unter diesen Leuten, die Gehässigen mit dem Elefantengedächtnis, halten mir dann auch noch vor, ich selbst hätte früher mal verlautbart, in Zeiten des Stillstands, also in Zeiten, in der es keine Bewegung gibt, sei die Beschäftigung mit Marx das Vernünftigste, was man machen kann.

Das war nicht der einzige Unfug, den ich gesagt oder zu Papier gebracht habe. Wie kann man Menschen empfehlen, dass sie ihr kurzes Leben, statt es zu genießen, mit dem »Kapital« vertrödeln? Allerdings habe ich damals noch keine Ossis gekannt, die kamen ja erst später. Bei den Ossis war Marx nämlich Pflichtlektüre gewesen, und man sieht doch, was dabei herausgekommen ist, nämlich die Ossis. Wenn jemand heute noch, in Kenntnis dieses Sachverhalts, in Kenntnis der Ossis, von der »Kapital«-Lektüre als Breitensport sich eine geistige Ertüchtigung der Landsleute erhofft, dann leidet er unter Realitätsverlust. Also die Ossis kannte ich noch nicht, aber Adornos »Theorie der Halbbildung« kannte ich gut, und als ich selbst unterrichtete, habe ich um Marx stets einen ganz großen Bogen gemacht. In sechs Jahren gab es einen einzigen Versuch, zusammen mit Eike Geisel und Günther Mensching. Wir hatten »Zentralbegriffe der Marx­schen Theorie« als Seminar angeboten, wenn ich es recht erinnere, und waren nur beschäftigt damit, die Schäden zu reparieren, welche die Kapitallektüre in den Köpfen der Studenten angerichtet hatte.

Klüger ist dabei keiner geworden, eher dümmer, insofern, als die Leute nun glaubten, für eine mitgebrachte Dummheit Bestätigung gefunden zu haben durch eine anerkannte Autorität, eben diesen Marx. Aus dem Zusammenhang gerissene und deshalb unverstandene Passagen bei Marx können auch Wasser auf die Mühlen der Freunde der Volksgemeinschaft sein. »Gemeinnutz vor Eigennutz«, die alte Naziparole – das ist es manchmal, was die Leute bei der Marx-Lektüre zu begreifen meinen.

Auch wenn die Kulturbranche aus nacktem Geschäftsinteresse das Gegenteil glauben muss: Die Menschen werden durch Bücher weder klüger noch dümmer, und das gilt für die heutigen Massenmedien auch, überhaupt gilt das für die ganze Bildung. Im ersten Weltkrieg hatten viele der Abiturienten, die sich als Freiwillige an die Front meldeten, ihren Hölderlin im Tornister. Wurde die Massenabschlachterei davon besser? Oder nehmen wir die Nazis: Wenn die Deutschen damals Analphabeten gewesen wären, hätten Plakate wie »Kauft nicht bei Juden« keine Chance gehabt, und Der Stürmer hätte nicht erscheinen können.

Man kann es auch grundsätzlicher fassen: Kein Mensch kommt so dumm auf die Welt, wie er später wird. Um Bild-Leser zu werden, muss er erst mal das Alphabet lernen. Und es ist ziemlich schwierig, eine 50-Millionen-Bevölkerung zu beherrschen, wenn die Leute nicht mal einen Strafzettel lesen können.

Jedes Buch ist ein toter Gegenstand. Es kann nur wirken, wenn ein Mensch danach greift und es aus dem Regal zieht. Was es dann, wenn danach gegriffen wird, bewirkt, hängt davon ab, wer es liest, und unter welchen Umständen er es liest. Die historische Erfahrung wie die Lebenserfahrung lehren: Wenn der Marxismus in Mode kommt, ist das ein Symptom der Flaute.

Das war schon immer so, angefangen mit Marx selbst. Sein »Kommunistisches Manifest« – ein großartiger Text – ist 1848 in London erschienen. Es spricht aus ihm die Erwartung, die Revolution stünde unmittelbar bevor. Aber daraus wurde nichts. Nichts passierte. Und deshalb, weil die Revolution endlos auf sich warten ließ, hatte Marx zwanzig Jahre Zeit, sich den ersten Band vom »Kapital« abzuquälen. Der erschien 1867.

Wenn man das Werk gründlich studiert – viele derer, die es zur Lektüre empfehlen, haben das nicht getan – wird man feststellen, dass es nicht unbedingt den revolutionären Tatendrang anstachelt oder weckt. Im Gegenteil: Je mehr man sich hineinvertieft, je besser man versteht, wie raffiniert dieser Kapitalismus funktioniert, desto weniger kann man irgendjemandem noch richtig böse sein, denn auch die Kapitalisten sind keine garstigen Raffzähne, sondern nur Marionetten an Strippen, die das Wertgesetz zieht. Im Maße, wie man sich bei der Lektüre dazu verführen lässt, in die Rolle eines allwissenden Gottes hineinzuschlüpfen, macht man Bekanntschaft mit der Tatsache, dass »alles verstehen« auch »alles verzeihen« heißt.

Schon Marx‘ Hauptwerk verdanken wir also der Tatsache, dass es, anders als erhofft, zum Kapitalismus keine Alternative gab. Andernfalls wäre Marx wohl Revolutionär geworden. Und Revolutionäre haben andere Sorgen, als furchtbar dicke Bücher zu schreiben oder auch nur zu lesen.

Linke sind heute Zankhähne in Filzpantoffeln

Wir, die Alten, die vor 40 oder 50 Jahren jung gewesen sind, kennen das aus unserer eigenen Geschichte. Der lange Marsch durch die vielen dicken blauen Bände begann, als wir auf der Straße nichts mehr zu tun hatten. Die große Viet­nam-Demo in Berlin im Februar 1968 war der Kulminationspunkt der Protestbewegung und da­mit ihr natürliches Ende gewesen. Das Erreichbare war erreicht, die Bewegung konnte nicht mehr wachsen, und wenn eine Bewegung nicht mehr wächst, wenn sie sich nicht mehr bewegt, wenn sie stagniert, zerfällt sie.

Was sie zuvor zusammengehalten hatte, war ein Lebensgefühl, das ich selbst nicht mehr in meinem Kopf, sondern nur noch in meinen Notizen wiederfinde. Ich zitiere daraus:

»Die Studentenrevolte als eine nichtproletarische und sich dennoch um sozialistische Inhalte organisierende Massenbewegung zeigt exemplarisch, dass der Kapitalismus eine Entwicklungsstufe erreicht hat, auf welcher er gene­rell – fast unabhängig von der Klassenzugehörigkeit – unerträglich geworden ist.

Wie sich die Chancen dafür, dass die objektive Unerträglichkeit der Erfahrung eines Menschen kommensurabel und damit für die Entwicklung seiner Lebensgeschichte bestimmend werde, nach Klassenzugehörigkeiten verteilen, ist keineswegs schon ausgemacht. Weder besteht eine Garantie dafür, daß diese Erfahrung einem Arbeiter in den Schoß fällt, noch dafür, dass sie einem Kleinbürger ewig verschlossen bleibt.

Darüber zu sprechen ist schwer geworden, weil die Wörter ihre Bedeutung verloren. Habermas, dessen Theoriegeklapper die Verständigung behindert, ist kein Einzelfall. Er ging dem Verfall der Protestbewegung nur entschlossen voran. Als den engagierten Studenten Begriffe wie Kapital, Ausbeutung, Imperialismus noch Kristallisationskern verschiedenster Leiderfahrungen waren, hatte Habermas die Worte schon zum Material akademischer Tüfteleien entwertet.

Das Wegfiltern von Erfahrungsinhalten kennzeichnet die Begriffsbildung der Sozialforschung überhaupt: Arbeit für endloses monotones Leiden; Interaktion für Sprechen, Lachen, Gestikulieren; Rollenspiel für das wie eine Leichenhalle temperierte psychische Klima des Verkehrs unter den Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft.

So beschnitten ist die Theorie ohnmächtig, wo ihr keine administrative Gewalt zur Seite steht. In ihr kommen keine individuellen und kollektiven Leiderfahrungen befreiend zur Sprache, die zu materieller Gewalt werden und als solche die Gesellschaft zertrümmern könnten. Der Filter, durch den die Erfahrungen gepresst werden, ehe sie in die Einöde sozialwissenschaftlichen Vokabulars münden, sind auf die Eliminierung der wirklichen Bedürfnisse lebendiger Menschen geeicht.

Dass man in der neuen Linken heute von der geölten Maschine einer Partei träumt, ist kein Zufall. Eliminierung von Inhalten und Technokratisierung gehen Hand in Hand.

Wer anders als die administrative Gewalt eines Parteiapparates vermöchte auch dem monotonen Singsang von Kapitalismus und Imperialismus, Grund- und Nebenwiderspruch usw. zu praktischen Konsequenzen verhelfen.

Die gleichen Begriffe, deren aufschließende Kraft sich einst in der revolutionären Radikalität der Studentenrevolte zeigte, sind auf dem besten Weg, so inhaltsleer und tautologisch zu werden wie das Gebetsmühlengeklapper aus den Propagandaorganen des Ostblocks. Die Ein­dimensionalisierung der Sprache wird gegenwärtig von Teilen der neuen Linken selbst forciert.

Die Studentenrevolte war eine sozialistische Bewegung von Kleinbürgern. Dieser Widerspruch zur orthodoxen Revolutionstheorie ist nicht zu verdrängen oder in diffamierender Absicht auszuspielen, sondern er ist festzuhalten als die lebensgeschichtliche Identität der ein-zelnen engagierten Studenten wie als Identität dieser Bewegung überhaupt.

Zu viele sind an der Geschichte dieser Bewegung zugrunde gegangen, manche durch Selbstmord – ein Grund mehr, die gespaltene Identität von friedlichem Kleinbürger und militanten Revolutionär ernst zu nehmen.

Die lebensgeschichtlichen Klippen, an denen zu scheitern man permanent Gefahr läuft, haben ihre Schärfe vielleicht in folgendem Umstand: Während der Arbeiter der fragwürdig ge­wordenen orthodoxen Theorie zufolge schon durch seinen naturwüchsigen Zusammenhang mit der bürgerlichen Gesellschaft und in diesem Zusammenhang potentiell Revolutionär ist, wird es der Kleinbürger nur durch die radikale Liquidierung seines Zusammenhangs mit der bürgerlichen Gesellschaft. Seine Politisierung und Radikalisierung hat zur Voraussetzung die existenzielle Entscheidung, an seiner ursprünglichen naturwüchsigen Identität Selbstmord zu verüben. Das bedeutet: Bruch mit Familie, familiären Freundschaften, der Perspektive auf ein bürgerliches Leben, Studium, Beruf usw. Damit ist der revolutionäre Kleinbürger praktisch eine postrevolutionäre Existenz. Dem Umstand, daß die Utopie sein Lebenselexier ist, verdankt er seine eigentümliche kritische und antizipatorische Kraft wie das Prekäre seiner Existenz.

Nach vollbrachter Tat ist der Kleinbürger ein Deklassierter. Bei Gelegenheit einer Rezension nennt Benjamin den politisierten Intellektuellen einen ›Lumpensammler, frühe – im Morgengrauen des Revolutionstages‹. In diesem Zusammenhang ist Benjamins Mitteilung wichtig, dass im Milieu der Boheme zwischen Berufsverschwörern und Lumpenproletariat gar nicht mehr unterschieden werden konnte. Die Nachtasyle der Penner in Bahnhöfen und U-Bahn­schächten haben mit der Revolution gemein­sam, dass sie jenseits der bürgerlichen Gesellschaft liegen. Für den deklassierten Kleinbürger ist die Revolution eine Existenzfrage, die er mit unerbittlicherer Radikalität beim geringsten Hoffnungsschimmer verfolgen wird als der Proletarier, der in der bürgerlichen Gesellschaft als Arbeiter immerhin auf seine Weise heimisch ist. Es ist kein Zufall, dass die Kontakte der Studentenbewegung zu anderen Gruppen sich auf ausgeflippte Proletarier – Rocker, Fürsorgezöglinge – beschränkten oder auf Arbeiter, die zur Deklassierung bereit waren und im Gefolge ihrer Politisierung ihren Job an den Nagel hängten.

Die Klassengesellschaft zerschlagen könnte heute heißen: die Deklassierung organisieren. Die Angestellten zu politisieren kann doch nur heißen, ihnen bewusst zu machen, dass sie keine Angestellten mehr sein wollen. Die Opel-Arbeiter politisieren kann doch nur heißen, ihnen klar zu machen, dass sie keine Opels mehr bauen und keine Arbeiter mehr sein wollen.

Die gediegenen, redlichen, rationalistischen, positiven, optimistischen, kurz spießigen Züge der Arbeiterbewegung sind heute allesamt obsolet geworden. Revolution kann in den kapitalistischen Metropolen nicht heißen: Aufbau des Sozialismus, sondern: Zertrümmerung der Warenwelt. Die erste Aufgabe des ›Hammerschlags der Revolution‹ wäre es, die physische Warenwelt zu zerklopfen. Diese Destruktionsarbeit wäre die einzig noch vorstellbare positive und sinnvolle.

Die Deklassierung organisieren könnte heißen: auf synthetischem Wege jene Erfahrungen herstellen, deren naturwüchsiges Zustandekommen bei den engagierten Studenten die Basis der existenziellen Entscheidung war, den Zusammenhang mit der bürgerlichen Gesellschaft zu liquidieren. Es ist keine Frage, dass eine Revolution in den kapitalistischen Metropolen ohne diese Entscheidung nicht auskommt. Die Strategie der unendlich vielen kleinen Vernunftsschritte im Lernprozess des Proletariats verrät nur den aufklärerischen Aberglauben an die Allmacht der Rationalität. Dass diese Konzeption idealistisch und voluntaristisch anmutet, daraus kann ihr kein Vorwurf gemacht werden. Für den traurigen und entmutigenden Umstand, dass es für die vernünftige Einrichtung der Welt wohl keinen machtvollen Garanten mehr gibt, sondern vorläufig nur die hilflose Geste eines entschiedenen Willens zum Besseren, ist sie gewiss nicht verantwortlich zu machen. Dass solche Überlegungen keine Schreibtisch-Esoterik sind, zeigen etwa die Sabotageakte junger weißer Arbeiter in den neuen Werken von General Motors. In solchen Aktionen haben sich Arbeiter von dem quietistischen Ammenmärchen befreit, je entwickelter der Kapitalismus, und je reicher und besser die Produktivkräfte, desto näher der Sozialismus. Hier­bei wird aufgezeigt, dass es idiotisch ist, noch vom Doppelcharakter der Ware zu sprechen und mit der Wünschelrute nach produktiver Arbeit zu suchen, wo doch die Wertform die Naturalform längst total okkupiert hat. Revolutionär ist der Arbeiter heute eben nicht als »produktiver« sondern nur noch als kollektiver Saboteur.

Die Revolution heute erfordert eine ganz andere Radikalität als im 19. Jahrhundert. Konnte man damals glauben, dass die gegenständliche Welt nur ihren Besitzer wechseln müsse und man danach frisch ans Werk gehen könne mit dem Aufbau einer vernünftigen Gesellschaft, so ist es heute notwendig, die gegenständliche Welt zu zerschlagen. Sie ist unbrauchbar, materialisierte Brutalität, materialisierte Isolierung – materialisierter Kapitalismus. Man steht gewissermaßen vor der Aufgabe, die Resultate einer hundertjährigen Fehlentwicklung beseitigen müssen, um wieder an den Punkt zu gelangen, wo die Revolution notwendig gewesen wäre, aber versäumt wurde. Der war vor 100 Jahren. Benjamin hat Recht wenn er sagt, die Komplexität der Welt vereinfache sich sehr schnell wenn man sie nur unter dem Aspekt betrachtet, was an ihr zerstörenswert ist.

›Wem der Boden nicht so heiß ist, dass er ihn lieber mit jedem anderen vertausche, als dass er da bliebe, dem habe ich nichts zu sagen. Aber auch wir ... meinen, daß wir denen, die angesichts des heraufkommenden Bombengeschwader des Kapitals noch allzu lang fragen, wie wir uns dies dächten, wie wir uns das vorstellten und was aus ihren Sparbüchsen und Sonntagshosen werden soll nach der Umwälzung, nicht viel zu sagen haben.‹ (Brecht, Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus)

Brecht widerspricht hier dem Aberglauben, revolutionäre Radikalität wäre verbal, in rationaler Diskussion kommunikabel zu machen. In der Tat: Was haben wir dem Arbeiter zu sagen, der kleinbürgerlich um sein Sparbuch, sein Auto und seine Sonntagshosen fürchtet? Was hilft es, ihm den Terminus der Ausbeutung unter die Nase zu reiben, wenn dieser eine analytische Kategorie ist, von der alle erfahrbaren Inhalte abgezogen sind? Was hilft es auch, seine Ängstlichkeit zu beschwichtigen durch die Versicherung, für ihn und seine Habseligkeiten bestehe gar kein Risiko. Die durch die Ängstlichkeit geschärfte kleinbürgerliche Schlauheit ist zu gewitzigt, solche Versicherungen nicht als Betrug zu durchschauen. In der Tat würde eine wirkliche Revolution unter den kleinbürgerlichen Lebensgewohnheiten der Menschen gewaltig aufräumen. Dass keiner ungeschoren davonkäme, weiß jeder, spätestens seit der Kulturrevolution. Benjamins Forderung, die Revolution müsse ihre Energie nicht aus der spießigen Hoffnung auf das Wohlergehen der Enkelkinder beziehen, sondern aus dem Hass, die Generationen von Unterdrückten und Umgekommenen zu rächen, trifft den Kern. Die Sehnsucht nach einem glücklichen Leben kann sich gegenwärtig nicht als Hoffnung auf eine bessere Zukunft konkretisieren, sondern nur als die unumstößliche Gewissheit, dass ein Leben unter diesen Verhältnissen nicht lebenswert ist. Mit dieser Gewissheit verlieren die kleinbürgerlichen Ängste den totalitären Charakter, sämtliche Lebensäußerungen zu beherrschen.«

Und heute? Wir dürfen uns für den Mindestlohn und die Anhebung von Hartz-IV begeistern. Viele Menschen brauchen das Geld. Aber für 100 Euro mehr im Monat militante, strapaziöse und riskante Massendemonstrationen im Regierungsviertel veranstalten? Es lohnt sich einfach nicht.

Als die revolutionäre Radikalität, welche die Protestbewegung zusammen gehalten hatte, erloschen war, begann die Dominanz der Partikular­interessen. Es kristallisierten sich aus der Protestbewegung die vielen verschiedenen sozialen Gruppen heraus, die sich nebenbei von dieser Bewegung die Erfüllung ihrer Wünsche versprochen hatten – verhinderte Autorenfilmer und Schriftsteller, die Schwulen, die Lesben, Anhänger der Vielweiberei, Nacktbader und Freikörperkulturelle, Landkommunarden, Körnerfresser, Gesundheitsapostel, Jesuslatscher, Jute­freaks, Hausbesetzer, Frauenrechtlerinnen, Männerbündische, Antiautoritäre und solche, die gern selbst nach Oben kommen und deshalb das Establishment abservieren wollten.

Und dann gab es noch die Lehrer, echte Lehrerstudenten oder Studierende von Studienfächern, bei denen es zum Brotberuf in der Schule kaum Alternativen gibt. Schon die Bolschewiki hatten das Problem, dass unter den Mitgliedern die Lehrer in der Überzahl waren. Lehrer besitzen eine natürliche Neigung zum Dogmatismus und zur Engstirnigkeit. Es gibt Leute, welche den Dogmatismus der KPDSU aus der Berufszugehörigkeit ihrer nach Anzahl bedeutendsten Mitgliedergruppe ableiten.

Diese Gruppe war auch im SDS stark vertreten gewesen – Germanistik, Geschichte etc. Die Geis­teswissenschaftler hatten sich nach dem Zusammensacken der Protestbewegung als Quartier fürs Überwintern den Marxismus ausgesucht, und sie stellten sich dabei nicht ungeschickt an.

Nach der Devise »Konkurrenz ist gut fürs Geschäft« verteilten sie sich auf verschiedene, einander heftig befehdende Vereine, so dass es nun neben den eigentlichen Marxisten die Marxisten-Leninisten gab, die Maoisten, die Trotzkisten etc. Ein kluger Schachzug, weil durch den Streit zwischen ihnen alle diese gegeneinander rivalisierenden Gruppen beschäftigt waren. Denn eine andere Beschäftigung hätten sie nicht gefunden, weil es für sie keine gab, und Mitglieder erwarten von ihrem Verein, dass er ihr Leben mit Beschäftigung, d.h. mit Sinn erfüllt.

Tasuta katkend on lõppenud.