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Informationen zum Buch

Nach »DeisterKreisel« und »Über den Deister« sucht Kommissar Marder zum dritten und letzen Mal einen Mörder im beschaulichen Barsinghausen am Deister.

Informationen zum Autor

Wolfgang Teltscher, Jahrgang 1941, hat sein Arbeitsleben für eine deutsche Fluggesellschaft als Fachmann für Marketing und Verkauf in einigen zentralen Städten der Welt verbracht. Nun, im Ruhestand, lebt er mit seiner Frau in Barsinghausen am Deister und schreibt.

Wolfgang Teltscher

Blutholz

Kriminalroman


zuKlampen!

Impressum

©2011 zu Klampen Verlag • Röse 21 • D-31832 Springe

info@zuklampen.de • www.zuklampen.de

Titelgestaltung: »In Zeiten wie diesen« – Büro für Kommunikation, Konzept & Kreation, Hannover

Konvertierung: Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN 978-3-86674-118-8

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

|5|Prolog

Im Deister gibt es in jedem Jahr Unwetter. Mensch und Tiere wissen, wo sie sich verstecken können, um einen Sturm zu überstehen. Die Bäume biegen sich und reiten den Wind aus. Gelegentlich fällt ein alter oder kranker Baum auf den Waldboden. Das nennt man natürliche Auslese und ist von der Natur so vorgesehen. Als Kyrill vom Meer über die norddeutsche Tiefebene in den Deister kam, setzte er alle Regeln, wie sich ein Sturm zu verhalten habe, außer Kraft. Kyrill war ein Mörder.

|5|1.

Kyrill war ein Killer. Er hatte sich aus dem Nordwesten auf das Land geworfen, keine Zweifel an seinen zerstörerischen Absichten gelassen, auf seinem Weg Sorgen und Furcht verbreitet. Bevor er sich ausgetobt hatte, raste er durch die Wälder des Deisters und schlug wütend auf die Ortschaften an beiden Seiten dieses Bergzuges ein.

Anja nahm den Orkan kaum wahr. Wenn sie, wie heute Abend, in düsterer Stimmung war, hielt sie die Welt und die Menschen, mit denen sie zu tun hatte, für bösartig und ungerecht. In diese Stimmung verfiel sie immer öfter seit ihre Eltern tot waren. Ihr Vater war ein schwermütiger und wortkarger Mann gewesen, der nach dem Beginn des Ruhestands |6|keinen Sinn mehr in einem Leben ohne Arbeit sah, und hatte es sich an einem Teich genommen. Seinen Tod hatte sie noch verkraften können, auch wenn es ihr schwergefallen war, seine Entscheidung zu verstehen. Ihre Mutter hatte nach dem Tod ihres Mannes, von dem sie sich innerlich lange vorher losgesagt hatte, eine neue Liebe gesucht. Als sie glaubte, diese gefunden zu haben, wurde sie von dem Mann bitter enttäuscht, außerdem noch verhöhnt. Da schien ihr das Leben ebenfalls nicht mehr lebenswert zu sein, und sie setzte ihm ein gewaltsames Ende. Von dem Zeitpunkt an war es in Anjas Leben bergab gegangen. Ihr Leben geriet aus der Bahn und sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal glücklich gewesen war. Immer öfter überkamen sie depressive Stimmungen. Immer öfter wurde sie einfach wütend und fing an, die Menschen in ihrer Umgebung zu beschimpfen und ihnen Vorwürfe zu machen. Kein Wunder, dass die Beziehungen zu den Menschen, mit denen sie zusammenlebte, eine nach der anderen in die Brüche gegangen waren. Übrig geblieben waren Trostlosigkeit und Verzweiflung.

Sie blickte auf den Bildschirm des Fernsehers. Sie sah Bilder und hörte Worte, die ihr Bewusstsein nicht erreichten. Es gab für sie keine andere Welt, außer der, in der sie lebte, in der sie unglücklich war.

Wie sollte es weitergehen?

Das Telefon klingelte, es riss sie aus ihrer Hoffnungslosigkeit. Sie brauchte eine Weile, bis sie merkte, dass das schrille Geräusch nicht aus dem Fernseher kam. Sie ließ es klingeln, sie war nicht in der Lage mit jemandem zu sprechen. Wahrscheinlich war es ohnehin nur Bertram, ihr Bruder, der wie immer über das Geld reden wollte, das sie ihm angeblich |7|schuldete. Er war ein Schwächling – anders konnte sie ihn nicht sehen, auch wenn er ihr Bruder war. Es wäre besser, überhaupt keinen Bruder zu haben als gerade diesen. Sie war sich bewusst, dass er sie verachtete. Das war okay, das beruhte auf Gegenseitigkeit. Nur, dass er in seinen Anschuldigungen und Forderungen immer aggressiver und rücksichtsloser wurde.

Sie hörte, wie im Treppenhaus die Haustür geöffnet wurde. Der Wind presste sich in das Haus und drängte selbst durch die geschlossene Tür in ihre Wohnung. Mit einem Knall schloss sich die Haustür wieder. Schritte kamen die Treppe herauf und verschwanden hinter der Tür auf der anderen Seite des Flurs. Das war offensichtlich eins der beiden Mädchen, die dort wohnten. Was für ein entsetzlicher Gedanke, die beiden nur eine Wand entfernt ertragen zu müssen. Wie widerlich, sich vorzustellen, was die in ihrem Schlafzimmer oder sonst wo in der Wohnung trieben. Was hätte sie nicht gegeben, wenn sie die beiden Typen aus dem Haus treiben könnte, und was hatte sie nicht alles versucht, um das zu erreichen. Sie war sich sicher, dass die beiden Frauen sie bis aufs Messer hassten, und sie hatte keine Ahnung, wozu die in ihrem Hass fähig waren.

Ihr Blick fiel durch die offene Schlafzimmertür. Das Bett war nicht gemacht. Sie hatte heute Morgen keine Lust und auch keinen Grund gehabt, das Schlafzimmer in einen appetitlichen Zustand zu bringen. Schließlich kam Einhardt schon seit einiger Zeit nicht mehr zu ihren nächtlichen Vergnügungen. Eigentlich war sie froh, ihn los zu sein, aber sie war sich klar, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Sie war dabei, ihn aus ihrem Leben zu löschen, und sie wünschte ihm |8|nichts Gutes für den Rest seines Daseins. Sie wusste etwas über ihn, womit sie ihn in der Hand hatte, und eines Tages würde sie ihn erbarmungslos zerquetschen. Aber sie wusste auch, dass er wusste, dass sie das wusste. Das machte ihr Sorgen. Wer weiß, was der in seiner Angst tun würde, um seine Zukunft vor ihrem Wissen zu schützen? Vermutlich würde Johanna dabei helfen.

Johanna, diese miese Type, die es nicht einsehen wollte, wenn sie verloren hatte. Hatte sich früher als ihre Freundin ausgegeben, später war die Freundschaft in Hass umgeschlagen. Der natürliche Lauf der Dinge war eben gegen Johanna gewesen und es war totaler Unsinn, dass sie ihr die Schuld dafür gab. Jetzt kocht Johanna in ihrem Unglück und überlegt wohl, wie sie ihr die ganze Sache heimzahlen kann. Dabei würde sie vor nichts zurückschrecken, diese hysterische Ziege.

Anja ging in die Küche. Obwohl sie weder Hunger noch Appetit hatte, musste sie endlich essen, sie hatte den ganzen Tag nichts zu sich genommen. Irgendetwas würde sich im Kühlschrank finden lassen, das noch essbar war. Sie entdeckte ein Schälchen mit Spagetti und Tomatensauce, das mit einer Klarsichtfolie abgedeckt war und erst zwei oder drei Tage dort gestanden hatte. Das würde, kurz in der Mikrowelle aufgewärmt, als Mahlzeit reichen.

Als sie die Tür des Kühlschranks schloss, bemerkte sie eine Postkarte, die mit einem Magnet daran befestigt war. Die Karte hing dort seit Jahren. Es war eine Karte aus dem Harz von Burt Brenner, der sie ihr von einer Tagung der Kriminalpolizei aus Bad Harzburg geschickt hatte. Sie nahm die Karte und riss sie in kleine Stücke, die sie wütend in den Papierkorb |9|hinter dem Küchentisch warf. Sie hätte diese Karte längst entsorgen sollen, sie hatte es nur deshalb nicht getan, weil sie sie nicht mehr wahrgenommen hatte. Die Karte war ein Bestandteil des Kühlschranks geworden, so wie das Logo der Firma, die das Gerät hergestellt hatte. Sie wollte nicht an ihre Zeit mit Burt Brenner erinnert werden, dieser Mann war der größte Fehler in ihrem Leben gewesen. Was der jetzt wohl machte? Ob er mit ihr ebenso abgeschlossen hatte wie sie mit ihm? Wahrscheinlich nicht.

Es war elf Uhr, der Wind ums Haus heulte lauter als zuvor und schien nicht nachlassen zu wollen. Anja erinnerte sich nun, dass es eine Orkanwarnung für den heutigen Abend gegeben hatte. Der angekündigte Sturm schien in voller Stärke eingetroffen zu sein.

Anja war erschöpft. Sie nahm sich vor, bald zu einer Entscheidung zu kommen, wie es weitergehen sollte, wenn überhaupt. Aber nicht mehr heute Abend. Sie zwang sich, ihre Kleidung auszuziehen und ein Nachthemd überzustreifen. Burt hatte es ihr vor Jahren geschenkt, und sie fragte sich, warum sie es nicht längst in den Müll geworfen hatte. Sie legte sich ins Bett und versuchte gegen den Sturm anzuschlafen. Als der Wind gegen Morgen nachließ, träumte sie von einer langen Reise, an die sie sich nach dem Aufwachen nicht mehr erinnerte. Aber in der Nacht war ihr klar geworden, was sie als Nächstes zu tun hatte.

|10|2.

Meine Mutter saß im Straßengraben und weinte. Das ist der erste Moment meines Lebens, an den ich mich bewusst erinnern kann. Alles, was davor geschah, versteckt sich im Nebel der frühen Kindheit und ist nur schemenhaft in meiner Erinnerung vorhanden: Eine große Bauernstube, die ich nur für den Augenblick zurückrufen kann, als ich unter dem Tisch sitze und mich vor dem Nikolaus und seinem Knecht Ruprecht fürchte. Ich sehe mich undeutlich unter einem Baum in einem Innenhof, der von Gebäuden an drei Seiten umgeben ist und zur Dorfstraße hin von einer Steinmauer mit einem Eisengitter in der Toreinfahrt geschützt wird. In den äußersten Winkeln meiner Erinnerung nehme ich Leiterwagen wahr, die vollgepackt mit Menschen in den Hof ein- und ausfahren. Später erzählte man mir, dass es Flüchtlinge waren, die noch weiter im Osten gewohnt hatten, und sich vor der näherrückenden Front in Sicherheit brachten. Und da ist die Wiese neben dem Haus, die zum Bach hin abfällt. Hier war alles grün und friedlich, warm und barfuß. Hinter dem Haus lagen Obstwiesen und dahinter gab es einen großen Fluss.

 

Nach der Szene im Straßengraben verschwindet meine bewusste Erinnerung wieder. Es gab nur Bewegung. Bewegung auf Landstraßen ohne Anhaltspunkte für das Gedächtnis eines Vierjährigen. Lediglich der Geschmack von Kartoffelscheiben, auf einer heißen Ofenplatte geröstet, ist hängen geblieben. Vielleicht war ich damals sehr hungrig und es war meine erste Mahlzeit nach längerer Zeit. Vielleicht habe ich wegen dieser Mahlzeit eine Schwäche für Kartoffelgerichte behalten.

Marder griff nach dem Kaffeebecher, der neben seinem PC |11|stand, er hatte ihn über das Schreiben vergessen. Der Kaffee war kalt. Das passierte ihm selten, kalter Kaffee schmeckte belanglos, er trank ihn lieber so heiß, dass er aufpassen musste, sich nicht zu verbrennen.

Für wen schreibe ich das eigentlich? fragte er sich. Spielt es eine Rolle, ob ich mein Leben festhalte? Warum sollten meine Erinnerungen etwas Besonderes sein, etwas, das wert ist, aufgezeichnet zu werden? Gibt es nicht Tausende, Millionen von Schicksalen, die wichtiger und interessanter sind als mein eigenes?

Marder blickte auf den Bildschirm, dem er den Anfang seines Lebens anvertraut hatte. Ich sollte alles wieder löschen, dachte er, bevor es Gestalt annimmt. Wenn ich zu lange damit warte, wird es zu spät sein – dann käme das Löschen einem heimtückischen Mord gleich.

Die Geschichte meines Lebens ist, wenn überhaupt, lediglich für Generationen in der Zukunft von historischem Interesse, für Menschen, die keine persönlichen Beziehungen zu der Zeit haben, in der wir heute leben. Sollten Altertumsforscher im vierten Jahrtausend nach Christus – wenn Christus dann noch das Maß der Zeit ist – das alte Stade aus den Wattflächen an der Elbe, die die Klimaveränderungen produziert haben, ausgraben und meinen Laptop mit seiner gut erhaltenen Festplatte finden, können sie sich ein Bild über das Leben in unserem Jahrhundert machen. Vielleicht wird man von den Marder-Dokumenten sprechen.

Er schrieb weiter:

Die Reise durch die Kindheit geht weiter. Ich finde mich in einem Dorf an den Hängen eines deutschen Mittelgebirges wieder. Meine Mutter, meine Schwester und ich leben in einem kleinen |12|Zimmer auf einem Bauernhof. Das Leben ist friedlich und dörflich. Der Bauer, bei dem wir untergekommen sind, ist den Flüchtlingen gegenüber tolerant und großzügig. Ich darf sogar mit aufs Feld und Rüben auf einen Wagen werfen, der von zwei Kühen gezogen wird. Ein Mann geht täglich durch das Dorf, und nach dem Anschlagen einer Glocke in seiner Hand verliest er die neuesten Nachrichten.

Es ist ein Leben ohne jeden Überfluss, aber ich kann mich nicht daran erinnern, je hungrig gewesen zu sein. Eines Tages stand ein Mann im Zimmer. Meine Mutter sagte: »Manfred, das ist dein Vati.« Ich lief auf ihn zu, umarmte ihn, weil ich wusste, dass so etwas einem Vater zusteht, aber ich konnte nur die Gefühle eines verwirrten Kindes empfinden.

Marder hatte Schwierigkeiten, sich zu erinnern, wie es danach weitergegangen war. Er war müde. Es war Zeit zum Schlafengehen, am Ende dieses langen Rentnertages sperrte sich sein Gehirn gegen weitere Aufträge – es war schließlich sein erster Tag als Schriftsteller. Er befahl dem Computer, die Datei zu schließen. Die Maschine fragte ihn, ob er den Text speichern wollte. Natürlich, erst speichern. Der Computer war nachsichtig und stellte seinem vergesslichen Nutzer diese Frage auch zum x-ten Mal in einem unaufgeregten Ton. Zum Glück war seine Frau ebenso tolerant, wenn er etwas vergessen hatte, was er vor kurzem gesagt hatte, oder wenn er sich nicht daran erinnern konnte, was er ihr am Tag vorher versprochen hatte.

Es war elf Uhr, Iris war vor einer halben Stunde im Schlafzimmer verschwunden. Schlafengehen war ein kostbares und kostenloses Vergnügen, wenn man im Ruhestand war. Er beugte sich mit Mühe zu den Füßen hinunter und zog seine |13|Socken aus, danach setzte er sich auf seine Seite des Doppelbettes und begann sein allabendliches Ritual: Er nahm verschiedene Medikamente ein, gemeinsam sollten sie ihm helfen, noch eine Reihe freudvoller Jahre auf der Erde zu erleben. Abgesehen von den beginnenden kleineren und größeren Beschwerden des Alterns, fand er, dass alt zu sein, durchaus seine Vorteile hatte. Vor allem brauchte man nicht mehr auf alles Mögliche zu verzichten, in der Hoffnung, alt zu werden, man war schon alt. Er nahm seine Arzneien dennoch gewissenhaft jeden Abend vor dem Schlafengehen, nur die Pillen gegen hohen Blutdruck schluckte er morgens, um auf die Aufregungen des neuen Tages besser vorbereitet zu sein. Er hoffte, durch diese vorbeugenden Maßnahmen zumindest das Durchschnittsalter der männlichen deutschen Bevölkerung zu erreichen, vielleicht mit dem Bonus einiger zusätzlicher Jahre. Er beendete seine Gesundheitsvorsorge mit einer heißen Tasse Kräutertee, auf deren Verpackung die Zusicherung einer geruhsamen Nacht stand.

|13|3.

Die Dämmerung hatte eingesetzt, von den Bäumen tropfte Nässe. Es waren die Reste des Schnees, der vor kurzem gefallen war, vielleicht der letzte dieses Winters. Bis zum Ende des befestigten Weges waren es noch wenige Meter, dann würde sich der Weg als Pfad zwischen den Bäumen verlieren. Ein junger Mann und eine junge Frau kamen Anja Hand in Hand entgegen. Sie grüßten oberflächlich, als ob sie sie nicht wirklich |14|wahrgenommen hätten. Sie waren ineinander vertieft, glücklich, ohne wahrzunehmen, wie unglücklich die einsame Spaziergängerin war. Dann waren sie hinter der nächsten Biegung verschwunden.

Ein Mann kam aus einem Seitenweg. Sie ging langsamer. Der Mann kreuzte ihren Weg, ging auf der anderen Seite wieder in den Wald. Ihr schien, er trug einen Gegenstand unter seiner Jacke, den er verborgen hielt. Er hatte sie nicht angeschaut und sie hatte sein Gesicht nicht sehen können. Für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl gehabt, er käme ihr vertraut vor. Hatten seine Schritte nicht für einen Augenblick gezögert? War er nicht zusammengezuckt, als sie sich annäherten? Im gleichen Moment hatte sie einen Anflug von Angst gehabt. Sie fragte sich, warum er gerade jetzt und hier aufgetaucht war. War es wirklich nur ein beliebiger Zufall? Unsinn, dachte sie, du fängst an Gespenster zu sehen. Als sie die Wegkreuzung erreichte und nach links schaute, war der Mann in der Dunkelheit bereits verschwunden.

Es war düster geworden, die Welt existierte nur noch wenige Schritte um sie herum.

|14|4.

Das Messer stach durch die Haut. Es dauerte nur Sekunden, bis das Blut kam, Blut aus der Wunde, die das Messer geöffnet hatte, erst Tropfen, dann ein kleiner Strom. Ein Teil des Blutes tropfte auf einen Baumstamm, der auf dem Waldboden |15|lag. Es sah aus, als hätte der tote Baum Blut geweint, dann drang das Blut in das Holz ein und hinterließ einen rotbraunen Fleck auf seiner Oberfläche.

|15|5.

Iris seufzte.

Marder bemerkte, dass seine Frau nicht wie gewöhnlich vor dem Einschlafen ein Buch las, sondern sich mit offenen Augen gegen das Kopfende des Bettes lehnte. Sie blickte auf ein Gemälde von Vincent van Gogh an der Wand gegenüber, die Kopie eines Bildes des halb wahnsinnigen Künstlers, das Sonnenblumen in der gleißenden Hitze auf einem Feld in der Provence zeigte. Sie hatten das Bild während der letzten Ferien in einem Museumsshop in Südfrankreich gekauft, es war ihr erster Urlaub im Süden Europas gewesen. Solange er arbeitete, hatte Marder darauf bestanden, ans Meer oder nach Dänemark in den Ferien zu fahren. Dabei zog er die Nordsee vor, denn an der Nordsee fühlte er sich frei, dort fing das Meer an – an der Ostseeküste hörte lediglich das Land auf. Iris hatte seit Jahren gesagt, sie würde gern auch einmal ans Mittelmeer fahren, und im letzten Sommer hatte sie sich endlich durchsetzen können. Marder musste nach dem Genuss von täglicher Sonne und täglichem Rotwein zugeben, dass er viel zu lange auf dem Nordmeer bestanden hatte.

»Warum liest du nicht?«, fragte er.

»Ich kann meine Lesebrille nicht finden.«

|16|»Du hast doch drei.«

»Die anderen kann ich auch nicht finden.«

»Ich sage doch, du solltest die Brillen immer an dieselben Stellen legen, dann findest du sie auch wieder.«

»Das habe ich ja getan, aber sie liegen nicht mehr dort.«

»Soll ich dir beim Suchen helfen?«

»Nein, danke, ich will im Moment sowieso nicht lesen. Ich denke lieber nach.«

»Worüber denn?«

»Über dich und mich, die Kinder und die Enkel.«

»Machst du dir Sorgen?«, wollte Marder wissen.

»Nicht wegen dir oder mir, aber ein bisschen wegen der Enkel.«

»Was ist denn mit den Enkeln?«

»Eigentlich nichts Besonderes. Mir fällt halt auf, dass sie ganz anders erzogen werden, als wir es mit unseren Kindern gemacht haben. Manchmal beunruhigt mich das.«

»Ich denke, dass unsere Kinder gute Eltern sind, es kann nicht alles falsch sein, was sie von uns gelernt haben. Oder?«

»Ich weiß nicht … ich denke nur, dass die Kleinen zu oft fernsehen dürfen. Anstatt die Welt selber zu entdecken, wird ihnen alles ins Haus geliefert. Außerdem glaube ich, dass sie mit zu viel Sicherheit aufwachsen. Sie werden vor allem geschützt und total behütet.«

Während Iris das sagte, zog sie die Bettdecke bis ans Kinn hoch, als wolle auch sie sich schützen.

»Was meinst du damit?«

»Na, zum Beispiel, an jeder Treppe im Haus ist ein Kindergitter angebracht. Selbst wenn sie im Garten auf |17|dem Kinderfahrrad herumfahren, müssen sie einen Helm tragen.«

Iris rutschte im Bett ein Stück nach unten. Marder rutschte nach.

»Was soll daran so schlimm sein? Das ist doch eher vernünftig.«

»Ich denke nur, sie lernen nicht, selbst aufzupassen und Gefahren zu erkennen. Später, wenn sie mal größer sind, müssen sie das auch tun … aber vielleicht sollte ich so was nicht sagen. Es wäre furchtbar, wenn sich einer von ihnen verletzen würde, nur weil ich gesagt habe, sie brauchen beim Radfahren keinen Helm.«

»Ich sehe das ähnlich wie du, mein Schatz. Aber als Großmutter hast du darauf ebenso wenig Einfluss wie ich als Großvater. Früher war das Leben für kleine Kinder zwar interessanter, heute ist es dafür sicherer, und ich weiß nicht, was besser ist. Aber unsere Kinder lassen sich da sowieso nicht reinreden.«

Iris setzte sich wieder aufrecht, lehnte sich an die Kopfstütze des Bettes, lächelte ihren Mann zustimmend an.

»Weißt du«, meinte der abschließend. »Es ist alles nicht so wichtig, was wir denken. Das Wichtigste ist, dass die Eltern die Kinder lieben und umgekehrt.«

Marder liebte alle seine Enkel mit gleicher Inbrunst, auch wenn sie ganz unterschiedlich waren. Torsten war robuster als der sensible Darius, den er meistens Manfred nannte, weil die Eltern dem Jungen als zweiten Namen »Manfred« angehängt hatten, um dem Großvater eine Freude zu machen. An den Tag, als Manfred Darius … na ja … genau genommen … Darius Manfred getauft wurde, dachte er mit Freude zurück. |18|Er hatte sich damals gefühlt, als wäre er selbst zu neuem Leben erweckt worden.

Miriam war in nichts zu vergleichen mit … mit … Das schlechte Gewissen packte ihn, es war nicht das erste Mal, dass ihm der Name seiner jüngsten Enkeltochter nicht einfallen wollte. Es war eine Krux mit den Namen, die Eltern ihren Kindern heutzutage gaben. Wenn man die Namen der Neugeborenen in der Zeitung las, konnte man zu dem Schluss kommen, dass Stade am Bosporus oder am Chinesischen Meer lag.

Es waren nicht nur die Namen seiner Enkel, die ihm gelegentlich nicht einfallen wollten. Manchmal konnte er sich am Morgen nicht erinnern, was er am Tag zuvor getan hatte, dann versuchte er durch unschuldige Fragen den vorigen Tag wiederzufinden, ohne dass seine Frau merkte, warum er diese Fragen stellte. Er war überzeugt, dass Iris keine Ahnung von seinen gelegentlichen Kämpfen mit seinem Gedächtnis hatte. Wenn sie sich über »früher« unterhielten, hatte er nur selten Schwierigkeiten, sich an die Ereignisse in seiner Jugend oder seines Mittelalters zu erinnern, oft auch an die unwichtigen, überflüssigen, oder noch schlimmer, peinlichen Momente. Die waren ihm im Gegensatz zu den Erlebnissen in der jüngsten Vergangenheit stets gegenwärtig. War diese zunehmende Vergesslichkeit der Grund, warum es ihn drängte, seine Memoiren zu schreiben? Dabei war Memoiren bestimmt das falsche Wort. Memoiren waren Bücher, die prominente Leute schrieben. Vielleicht würde sein Freund Erich Falkenberg einmal zu diesen Berühmtheiten zählen, denn er war der wichtigste Mann der Kriminalpolizei in Niedersachsen. Wer weiß, wo der noch enden würde?

 

|19|Nathalie hieß sie. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Der Name seiner Enkelin war ihm wie von selbst zugeflogen.

Die Frau neben ihm im Bett, die er seit fünfzig Jahren kannte und deren Namen er nie vergessen hatte, war noch nicht eingeschlafen.

»Sage mal Manfred, worüber grübelst du die ganze Zeit?«

Marder wollte gerade protestieren.

»Und sage nicht, dass du nicht grübelst. Beim Grübeln atmest du nämlich ganz anders als beim Schlafen.«

»Über nichts Besonderes.«

Das war eine Antwort, die zum Nachfragen aufforderte.

»Du denkst doch wohl nicht schon wieder über deine Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis nach?«

Richtig. Darüber hatten sie sich gestern unterhalten. Das hatte er ganz vergessen. Marder legte einen Arm um seine Frau und schob sich näher an sie heran. Iris fiel noch etwas ein, das sie ihrem Mann vorher mitzuteilen hatte.

»Übrigens, bevor ich es vergesse. Gisela Falkenberg hat heute angerufen und gefragt, ob wir am Wochenende zusammen Rad fahren wollen.«

»Um diese Jahreszeit? Es ist doch fast noch Winter. Gestern hat es sogar ein bisschen geschneit.«

»Ja, aber heute ist alles wieder geschmolzen und am Wochenende sollen es über zehn Grad werden.«

»Und was hast du Gisela gesagt?«

»Dass ich erst einmal mit dir sprechen will und ich sie morgen wieder anrufe.«

»Und was wirst du ihr sagen, wenn du sie anrufst?«

»Dass wir uns beide sehr darauf freuen, mit ihr und Erich Rad zu fahren.«

|20|»Aber du hast mich doch gar nicht gefragt, ob ich mich darüber freue.«

»Warum sollte ich das? Ich weiß immer, was du willst, ohne dich zu fragen.«