Das Erbe Teil I

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... draußen vor der Stadt

Sabine lebte weiter draußen vor der Stadt. Ihr Haus stand an dunklen Waldrändern eines flachen Hügelzuges. In der Nähe lagen noch einige weitere Grundstücke verstreut, ansonsten war die Gegend noch recht ländlich-einsam. Felder, Wiesen und hin und wieder einige Waldstreifen prägten hier die Landschaft im schon fernen Weichbild Frankfurts. Wolf steuerte den Wagen vorsichtig über die hier zunehmend unebenen Wege. Kieslöcher und Wasserpfützen breiteten sich aus. Endlich hatte er sein Ziel erreicht und stellte das betagte Fahrzeug an Sabines Gartenzaun ab. Er brauchte nicht zu läuten, die Tür tat sich schnell auf und die Bewohnerin des Anwesens lies ihn eintreten. Im kleinen, dunklen Flur hing sie sich schon an ihn. „Endlich, endlich bist du wieder da,“ hauchte sie ihm ins Ohr. „Du sollst doch nicht so lange in der Stadt bleiben, wenn ich hier auf Dich warte.“ Im geräumigen, gemütlich eingerichteten Wohnraum, in dem es sogar einen kleinen Kamin aus Feldsteinen gab, saßen sie sich dann gegenüber. Der Tee stand schon auf dem Tisch, und das Abendbrot war in der Küche des Landhauses vorbereitet. Wolf fühlte sich bei Sabine wohl, die ihn jetzt intensiv mit ihren grünlichen Augen ansah und augenscheinlich versuchte, seine Gedanken zu lesen. Sabine war keine von den unerträglichen dünnen Modepüppchen, deren Fotos jetzt wieder die Zeitschriften füllten, die ihren Leserinnen einen so völlig fremden wie unwirklichen Lebensstil vorgaukelten und dies alles zum allgegenwärtigen Trend erhoben. Wie sie vor ihm auf dem Sofa saß, die Beine keck übereinandergeschlagen, zeigte sie ihm in dem anliegenden grauen Pulli und der hellen Hose deutlich wieder ihre für ihn so begehrenswerte Figur. Sie lächelte, als sie seine leuchtenden Augen bemerkte. „Du mußt erst essen, und ich auch, du Wilder...“ Sie stand auf, ging in die Wohnküche nebenan und holte eine große, kalte Platte. „Greif zu, ich brauche doch keinen ausgehungerten, sondern einen kräftigen Mann“, sagte sie leise mit einem listigen Lächeln auf den Lippen. Setzte jedoch gleich sachlich hinzu: „Aber mal Spaß beiseite, hast Du Dich nun entschlossen? Willst du die Firma Deines Vaters weiterführen oder geht da wirklich nichts mehr? Und was ist denn nun eigentlich bei dem komischen Anwaltstermin rausgekommen?“

„Das sind viele Fragen auf einmal, meine Liebe“, seufzte Wolf. „Mit der pharmazeutischen Firma meines Vaters ist im Moment nicht viel Staat zu machen. Die Leute sind lange schon entlassen, und der Betrieb ruht. Wir müssen erst mal ein paar Geschäftsverbindungen aktivieren. Unser Prokurist Keller ist gerade dabei. Morgen werde ich von ihm den Stand der Dinge erfahren. Wir können eh‘ nicht gleich ein riesiges Unternehmen aufziehen. Ich schätze, wir werden uns zum Anfang an ein paar Naturheilprodukte halten. Ein paar Sälbchen, Tropfen und noch dies und jenes. Aber auch das braucht Abnehmer und Werbung. Es kostet eben alles zuerst mal Geld. Den Start des Betriebes brächten wir auch noch auf die Beine, hat zumindest Keller gesagt. Aber was so ein alter Prokurist ist, der hätte eben gerne noch einen gewissen Rückenhalt bei der Sache.“

„Ich seh‘ schon, ich werde Dich eines Tages doch noch in meiner kleinen Landwirtschaft aufnehmen müssen. Da weißt du in diesen Zeiten wenigstens, daß du nicht verhungern mußt“, lachte sie ihn an. „Aber erzähl‘ weiter.“

„Nun, bei Meurat war es interessant. Stell Dir vor, hat doch mein alter Herr eine Art Hinterlassenschaft für mich bei ihm deponiert.“

„Eine Hinterlassenschaft, was war das denn?“ staunte Sabine. „Ein Päckchen“, beeilte sich Wolf zu erklären. „Darin sind verschiedene merkwürdige Sachen. Karten, Gegenstände, alte Fotos und so. Alles stammt noch aus den letzten Kriegsjahren. Er muß da in einer Art geheimer Untergrundfabrik auf heute polnischem Gebiet eingesetzt gewesen sein, wo er zudem noch irgendetwas Wertvolles versteckt hat. Und genau das soll und will ich jetzt holen. Die Beschreibungen und Anweisungen in dem Päckchen sind deutlich. Und Meurat wußte auch irgendwie darüber vorher schon Bescheid. Wenn ich Vaters Hinterlassenschaft fände und bergen könnte, dann wären wir saniert, so zumindest die Botschaft. Es hängt jedenfalls auch eng mit dem Orden zusammen. Ich denke, es sind vor allem auch einige wichtige Sachen aus den Archiven, die damals verborgen wurden. Wenn ich das Material berge, es dann auf die Burg schaffe, stehen uns möglicherweise alle Wege offen.“

„Du mit deinen ominösen Herren vom Stein. Das ist mir alles unheimlich, weißt du das eigentlich. Ich habe Angst um dich“, regte sich Sabine auf. „Herren vom schwarzen Stein“, verbesserte Wolf. „Aber sind sicher keine unheimlichen Leute, die gar Böses im Schilde führen, meine Liebe, das weißt es doch eigentlich“, lachte er dann leise auf. Setzte sich dicht neben sie, nahm sie fest in den Arm und strich ihr liebevoll durch das rötlich schimmernde Haar. „Du brauchst überhaupt keine Angst zu haben. Man möchte doch nur, daß nicht alles weiter verkommt. Und nach dem Krieg soll das gute und fortschrittliche Erbe nicht völlig vergessen werden. Die Alliierten zerstörten vieles, doch quälen sie anscheinend noch immer gewisse Ängste. Und dafür könnten sie auch allen Grund haben. Denn dieser liegt in jenen Leuten, die noch immer im Verborgenen als die Bruderschaft der Herren vom Schwarzen Stein mit ihren geheimen Aktivitäten wirken. Diese setzen wohl ein uraltes Vermächtnis fort. Sie sind noch da und besitzen sicherlich auch bestimmte Machtmittel, die irgendwo ruhen. Und den Hauch einer Ahnung haben ihre Widersacher schon davon. Diese sind aber sehr vorsichtig geworden, lecken sich ihre Wunden, die ihnen im Verborgenen geschlagen wurden. Da bei versuchen sie aber weiter in die Organisation einzudringen, besonders ihrer Köpfe und der Geheimnisse habhaft zu werden.“

Es war unterdessen vollends dunkel geworden im Raum. „Sei still, sei doch endlich still“, sagte Sabine leise, während sie ihn leidenschaftlich zu küssen begann und immer fester an sich zog. Der Duft ihrer weichen Haut und ihre so fraulich-runden Formen nahm Wolf schließlich vollends den Atem. Und bald schwanden ihrer beider Sinne im samtenen Licht ferner, nebelhafter Sterne.

Es war dann mitten in der Nacht, als Sabine allein am breiten Fenster des Wohnraumes stand und nachdenklich in die dunkle Stille hinausschaute. Die helle Gestalt ihres Körpers hob sich vorm dunklen Hintergrund sanft ab. Ihre warmen Hände rangen miteinander, an Schlaf war nicht zu denken. Sie fürchtete für den Mann, der hinter ihr friedlich schlafend auf der breiten Couch ruhte. Noch nie hatte sie eine solche Angst um ihn verspürt. Sie hegte keinen Zweifel, daß er sein Vorhaben in die Tat umsetzen und in das ferne, gefährliche Gebirge zu den dort ruhenden Geheimnissen aufbrechen würde. Er war, so lange sie ihn kannte, schon immer eigensinnig gewesen. Was er sich in den Kopf setzte, mußte er ausführen. Auch auf die Gefahr hin, dabei zu verlieren. Sie konnte ihm kaum raten. Sein Entschluß stand wohl schon fest. Dass er eine geheimnisvolle Organisation für seine Ziele ausnutzen wollte, deren tieferer Sinn ihr sich noch nicht vollends offenbart hatte, störte sie weniger. Sie hatte schließlich auch eine ausgeprägte Ader für mystische Dinge, sah aber auch gern die Realitäten. Und die bestanden in den von ihren Eltern geerbten Land und dem kleinen Hof. Hier hatte sie auch Wolf kennen gelernt. Er war auf einer Fahrt zurück nach Frankfurt in der Nähe mit Reifenschaden liegengeblieben. Kein Mensch weit und breit. Dann kam sie und half ihm mit fehlendem Werkzeug aus. Ein plötzlicher Regenguß hatte sie dabei beide durchnäßt. Also bat sie den ihr sofort sympathischen Pechvogel ins Haus. Er strömte eine besondere Art von Wärme und Zutrauen aus, die sie schon sehr lange vermißte. Und ihr Wolf fuhr seit diesem Tag bald öfter zu dem kleinen Hof an den waldigen Höhenzügen. Es dauerte auch nicht lange und sein Auto blieb bis zum frühen Morgenlicht stehen. Hatte es ihm doch seine einstige Pannenhelferin inzwischen mehr als angetan. Und dies beruhte nun schon über ein Jahr auf wachsender gegenseitiger Sympathie.

Eulengebirge
Ein halbes Jahr später

Die wilden, dunklen Wälder schoben sich dicht an die schmale Fahrstraße heran. Hoch oben zogen sich neblige Bergkämme über dem Tal dahin, das sich hier in vielen Windungen tief in das einsame Gebirge schlängelte. Der Weg war nicht gepflastert, aber die alte Splittdecke sorgte noch immer für ein recht sicheres Fahren. Der dunkle Personenwagen zog brummend weite Serpentinen hinauf, sich immer mehr einer bestimmten Gipfelregion nähernd. Mit Erleichterungen stellte Wolf fest, daß offenbar niemand sich in den Bergwäldern aufhielt. Jedenfalls weder Menschen noch Fahrzeuge waren ihm in der letzten dreiviertel Stunde begegnet. Er wollte sich vorerst einen Überblick verschaffen. Sein Ziel war die Gegend, wo sich der Zugang zu der Stollenanlage befinden mußte. Er machte sich keine Illusionen darüber, daß das Auffinden dieses Einganges wahrscheinlich das Schwierigste an dem ganzen Unterfangen sein könnte. Die Karte neben ihm auf dem Beifahrersitz, sorgsam abgedeckt gegen eventuelle unbefugte Blicke, wies ihm zwar in groben Zügen den Weg, aber das eigentliche Loch im Berg war auf ihr nicht detailliert angegeben. Hier mußte er die Handskizze Meurats zu Hilfe nehmen. Dieser hatte nach seiner Erinnerung ungefähr den Platz markiert.

Bald sollte neben der Straße der Verlauf der ehemaligen Schmalspurbahn auftauchen, die damals angelegt worden war und die sich wie eine Bergbahn zur Gipfelregion des Komplexes „Steinberg“ schlängelte. Eine Umladestation zwischen Straße und Bahntrasse hätte hier existiert, wo die Gleise kurzzeitig parallel zum Fahrweg verliefen. Dieses laut Karte langgezogene Hochtal, mit einem rauschenden Wildbach, müßte er gleich erreicht haben. Und tatsächlich glitzerte da auch schon unter dichten Tannen am Weg das Wasser eines Wildbaches. Der Nebel des frühen Morgens hing dicht über den waldigen Höhenzügen, und der frische Duft von Tannengrün und nassem Moos drang immer stärker durch das spaltbreit geöffnete Fahrerfenster ins Innere des alten Wagens. Aufmerksam steuert Wolf ihn nun in den sich endlich hier öffnenden Talgrund hinein.

 

Nochmals verglich er die Karte mit der Örtlichkeit und fuhr langsam weiter. Das leise Brummen des Motors wurde vom Morgendunst der dichten Waldungen zu beiden Talseiten gedämpft. Und das namenlose Wildwasser rauschte zudem angenehm laut über die uralten und dick bemoosten Felsbrocken in seinem Bett.

Langsam schälte sich der ehemalige Umschlagplatz zwischen Bergbahn und Gebirgsstraße aus den grauen Schleiern heraus. Ein paar alte Schuppenreste, ein kleineres gemauertes Gebäude und ein rostiger Wasserhochbehälter standen neben dem ehemaligen Bahndamm. Wolf fuhr den betagten Opel in die Deckung der ruinenartigen Bauten, stieg aus und sah sich vorsichtig um. Allenthalben lagen überall noch die Reste verschiedenster Baumaterialien herum. Hier eine Ladung längst zu Stein erstarrter Zementsäcke, dort ein Haufen rostiger Rohre, an anderer Stelle wiederum Stapel inzwischen vermodernden Bauholzes. Die feuchte Witterung des Gebirgstales sorgte für den schnellen Verschleiß dieser lange zurückgebliebenen Dinge. Und schon zogen auch die grünen Walddickichte sich wieder enger um den verlassenen Platz einstiger menschlicher Aktivitäten. Etwas Unheimliches hatte der menschenleere Ort schon an sich. Fröstelnd zog Wolf die Schultern zusammen und schritt über knirschenden Bausand zu dem Gebäude unmittelbar an der schmalen Bahntrasse.

Wie sich herausstellte, war es eine Art kleiner Güterschuppen mit angebautem Aufsichtsraum. Das Innere des Lagergebäudes zeigte sich dunkel und leer, nachdem Wolf vorsichtig die marode Schiebetür quietschend aufgezogen hatte. Der ehemalige Aufsichtsraum bot ein noch traurigeres Bild. Blinde Fensterscheiben verbreiteten in dem wüsten, kleinen Büro mit dem rostigen Kanonenofen ebenfalls nicht gerade viel Helligkeit. Hier war gründlich geplündert worden. Zerschlagen der massive Schreibtisch, die Türen der alten Blechspinde aufgebrochen, auch ansonsten bedeckte nur Unrat den Boden. Sich schüttelnd verließ der einsame Besucher wieder den verwilderten Bau. Draußen begann sich der Nebel nun endlich etwas zu lichten. Feuchtigkeit schlug sich an den rostroten Schienen nieder, die hier in Fragmenten noch vorhanden waren. In den tief dunkelgrünen Waldungen um den Platz rief plötzlich ein Eichelhäher laut in die Stille. Wolf zuckte ungewollt zusammen und suchte automatisch Schutz hinter einem Haufen Schrott, der neben einer maroden Hochzisterne lag.

Er bereute plötzlich, allein gefahren zu sein. Pawlek, aus dem Dorf am Fuß des Gebirges, hatte seine Begleitung angeboten. Er war der Mann, dessen Adresse Wolf noch kurz vor seiner Abreise ins Eulengebirge überraschend von Meurat bekommen hatte. Der Anwalt teilte ihm mit, daß Pawlek ihm sozusagen als Verbindungsmann zur Verfügung stünde. Der gebürtige Pole sei früher eine Art Adjutant gewesen, spreche fließend Deutsch und kenne sich in der Gegend gut aus. Er würde daher stets verläßlich schweigen, um dieses Geheimnis zu wahren, von dem in seinem heimatlichen Umfeld niemand wußte, so die knappen Auskünfte Meurats.

Doch Wolf war dennoch mißtrauisch. Seinen ersten Gang in die Berge wollte er unbedingt allein unternehmen. Da brauchte er keinen Aufpasser. Und der alte Pole zeigte sich sehr wortkarg und war keineswegs begeistert, als Wolf bei ihm auftauchte. Es war in der Abenddämmerung gewesen. Pawlek werkelte in einem kleinen Schuppen neben der Holzhütte herum, in der er wohnte. Kaum hatte sein Gast sich zu erkennen gegeben, zerrte er ihn auch schon vom windschiefen Gartenzaun weg. Erst im Schuppen, in Deckung eines mächtigen Holzstapels, musterte Pawlek ihn mißtrauisch. „Sie kommen von unserem gemeinsamen Freund. Und ich soll ihnen gegebenenfalls helfen“, murmelte er leise und schaute sich immer wieder nervös um.

Wolf bejahte, worauf sein Gegenüber ihn noch dichter an den Holzstapel zog. „Es ist gefährlich“, zischte der Mann wie eine Schlange. Das zerfurchte, braune Gesicht war dabei todernst. „Lassen Sie diese Dinge ruhen.“

„Nun machen Sie mal halblang. Ich habe hier etwas zu erledigen, weiter brauchen Sie eh‘ nichts zu wissen. Das dient ja auch Ihrer Sicherheit. Ihre Hilfe in allen Ehren, ich bin aber nur im Ausnahmefall darauf angewiesen“, sagte Wolf zu dem Alten. „Und denken Sie daran, daß bestimmte Leute, die es noch immer gibt, nichts vergessen haben. Also, ich rate Ihnen keine Dummheiten zu machen.“ Die deutlichen Worte taten ihre Wirkung. Der Mann kroch förmlich in sich zusammen. „Ja, ja, natürlich.“

„Gut jetzt“, unterbrach ihn Wolf, nun schon etwas versöhnlicher klingend. „Wenn ich etwas von Ihnen will, weiß ich jetzt, wo ich Sie finde. Das reicht fürs Erste.“

„Wenn Sie in die Berge wollen, begleite ich Sie.“

„Das ist nicht nötig. Einen ersten Eindruck verschaffe ich mir gerne selbst“, gab Wolf kurz zurück. „Ansonsten melde ich mich.“

Er verabschiedete sich und wandte sich wieder der zerfahrenen Dorfstraße zu. Aus den Augenwinkeln bemerkte er noch, wie der Alte unter dem Schuppendach ihn mit stechendem Blick verfolgte. Wolf verließ das Bergdorf zu Fuß, das sich mit seinen niedrigen Hütten förmlich in das Tal duckte, die nur vom Kirchturm überragt wurden. Am Rande des Ortes erreichte er seinen Wagen, mit dem er in die Kreisstadt zurückfuhr, wo sich sein Hotel befand.

Er wußte nicht, daß der Alte nach seinem kurzen Besuch in den Keller seines Hauses hinabstieg und dort in einem verborgenen Verschlag eine telefonähnliche Anlage in Betrieb nahm, deren getarnte Leitung sich tief in die nahe des Dorfes beginnenden Massive des Gebirges zog.

Die Basis

Major Dr. Martin Hahnfeld saß in dem abgeschabten Sessel vor dem zentralen Kommandopult. Vor ihm eine Vielzahl stummer Instrumente, Anzeigetafeln, Schaltknöpfe und einige kleine Fernsehbildschirme. Seine bestiefelten Füße lagen auf einem Hocker, und neben ihm stand ein metallenes Beistelltischchen mit Kaffee und Zigaretten. Zerlesene Zeitschriften der letzten Jahre verteilten sich daneben auf dem hellen Boden. In den mächtigen unterirdischen Systemen, über die er wachte, herrschte eine geradezu geisterhafte Stille, wenn nicht ab und an irgendwo in den dunklen Hallen und fernen Gängen ein Wassertropfen überdeutlich aufschlug.

Mit müden Augen schaute er auf die zum großen Teil stillgelegte Technik, die, vor nicht allzu langer Zeit und teilweise wohl noch immer, weltweiten Höchststand verkörperte. Hier unten hatte man alles vom Feinsten installiert. Die Bedeutung der Anlage „Gigant“ ließ den Aufwand schließlich zu. Mochten Russen und Amis sich bei ihrem Vordringen in Österreich und Deutschland an anderen Orten die Zähne ausbeißen und glauben, sie hätten nun entscheidende Funde gemacht und alles ausgehoben. In „Gigant“, dem Geheimobjekt, das als aufgegebene Baustelle bekannt war und wo man mittels scheinbarer Auslagerungen erfolgreich den Anschein erweckte, hier wäre alles verlassen und unfertig stehen geblieben, lag die eigentlich letzte Bastion des untergegangenen Dritten Reiches in Mitteleuropa.

Hahnfeld konnte noch immer nicht ein schadenfreudiges Grinsen unterdrücken, wenn er daran dachte, wie die Sieger staunend und ratlos vor gewaltigen technischen Hinterlassenschaften gestanden haben mochten, im Glauben, nun alles gefunden und erobert zu haben. Die nach Kriegsende weltweit in die Schlagzeilen geratene V-Waffen-Fabrik bei Nordhausen war zum Beispiel ein solcher Ort oder die ausgedehnten Anlagen der Heeresversuchsanstalt Peenemünde. Natürlich waren den Alliierten auch ungeheure Werte in die Hände gefallen. Doch auch hier täuschte das häufig nur installierte Bild ...

Seit Kriegsende saß Hahnfeld in der Basis im Eulengebirge und wartete auf letzte entscheidende Befehle hinsichtlich des Einsatzes hier befindlicher Technik. Anfangs war er lange nicht so einsam gewesen wie heute. Eine große Gruppe deutscher Werwölfe hatte bei ihm ihren Standort gehabt und von hier aus operiert. Doch waren die Jungs draußen immer mehr aufgerieben worden oder von Einsätzen einfach nicht zurückgekehrt. Ihr rätselhaftes Ausbleiben hatte ihm große Sorgen bereitet. Als auch der Letzte dieser Männer für immer verschwand, hatte er sich persönlich nach draußen begeben und den gesonderten Zugang verschlossen und gesichert, den die Werwölfe bis dahin benutzt hatten. Das war nun über ein Jahr her. Vielleicht hatten es viele von ihnen auch einfach satt gehabt. Auch das konnte Hahnfeld nun langsam verstehen.

Ein schrilles Klingeln riß ihn plötzlich aus seinen Betrachtungen. Sein Verbindungsmann mit der Außenwelt meldete sich überraschend. Eine kurze Serie von Punkten und Strichen zeichnete die absichtlich einfache, aber todsichere Morsetechnik auf dem Papierstreifen auf. Der ehemalige Adjutant des Objektkommandanten schickte ihm überraschend eine Warnung. Nach dem vereinbarten Codesystem, das keineswegs dem normalen Morsealphabet entsprach, teilte er nach dem obligatorischen Kennungscode kurz mit, es nähere sich höchstwahrscheinlich eine Person dem Berggebiet, in dessen Tiefe die von ihm gewartete und bewachte Basis lag. Sehr beunruhigt nahm Hahnfeld die ungewöhnliche Nachricht zur Kenntnis; da mußte er unbedingt alle aktiven Sicherungsanlagen überprüfen. Das duldete nun keinen Aufschub.

Von den Zugängen in den geheimen Bereich der eigentlichen Basis konnte so gut wie niemand wissen. Die Werwölfe hatten nur die unterirdische Kaserne gekannt, deren Tor in die Außenwelt Hahnfeld eigenhändig unzugänglich gemacht hatte. Auch der innere Zugang von dort war von ihm versperrt worden, als sie ausblieben. Würde sich jemand von der äußeren Talseite her zu schaffen machen, ertönten innen die Alarmglocken. Dann wäre der Eindringling aber auch schon tot. Dieser Fall war jedoch noch nie eingetreten. Außerdem war dieser Außeneingang zur Kaserne sehr gut getarnt und offenbar bis heute nicht verraten worden. Die Gegend der Basis war außerdem bei der Bevölkerung des Landstrichs am Gebirgsrand bewußt in bösesten Verruf gebracht worden. Nur ungern hielten sich die Einheimischen in diesen Wäldern auf. In den Jahren nach Kriegsende waren hier mehrere Holzfäller spurlos verschwunden, und die Leiche des letzten Försters hatte man übel zugerichtet in einer Schlucht am Gebirgsrand gefunden ... Seitdem lastete ein regelrechter Alp auf den Gebirgsbauern, Zapfenpflückern und Holzfällern. Die wildesten Gerüchte gingen um, und jeder hielt sich tunlichst von der unheimlichen Gegend um das Steinbergmassiv fern.

Hahnfeld verließ den halbrunden Raum mit dem Befehlsstand und ging durch eine Stahltür in einen anschließenden Gang. Nur wenige Schritte weiter führte eine Eisentreppe in eine große Halle hinab. Hier, im Licht nur weniger Lampen, die automatisch aufflammten, als Hahnfeld sie betrat, zeigten sich allerlei große technische Anlagen. Mit verschiedenen Farben markierte Rohrleitungen, dicke Träger für Elektrokabel, hohe Schaltkästen, mächtige Tanks und eine Vielzahl anderer Aggregate standen in der mächtigen unterirdischen Grotte, ohne diese jedoch auszufüllen. Es war noch genug Platz für breite Gänge, in denen sich auf markierten Fahrbahnen kleine Elektrofahrzeuge bewegen konnten, die jetzt allerdings schon lange abgeschaltet in ihren dunklen Nischen standen. Hahnfeld würdigte dieses Wunderwerk an Ingenieurleistung keines Blickes. Er eilte durch den dämmrigen breiten Hauptgang zwischen den technischen Systemen, der sich in Form eines weiten Halbkreises unter dem bedeckenden Gebirge hinzog. Endlich kam er an einer weiteren Stahltür an, die im dunklen Fels eingelassen war. Er gab einen Code in die Zahlentafel, und brummend fuhr die lukartige Abdeckung zur Seite. Dahinter flackerten automatisch trübe Lampen auf, als er den benachbarten Raum betrat. Es war ein langgezogener Felstunnel mit zwei schmalen, glänzenden Stahlgleisen auf dem spärlich geschotterten Boden. Hier wehte kühle Zugluft, und es roch undefinierbar nach Brackwasser, feuchtem Gestein und altem Öl. Hahnfeld ging mit unheimlich in der Dunkelheit hallenden Schritten zu dem kleinen Bahnsteig des unterirdischen Haltepunktes und erreichte schließlich eine Elektrodraisine, die dort immer bereitstand.

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