Loe raamatut: «SPOTTLICHTER»
Wolfram Hirche
Spottlichter
Die Kolumnen aus den »Literaturseiten München« 2010 bis 2021
Außer der Reihe 65
Wolfram Hirche
SPOTTLICHTER
Die Kolumnen aus den »Literaturseiten München«
2010 bis 2021
Außer der Reihe 65
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Januar 2022
p.machinery Michael Haitel
Titelbild & Illustrationen: Christopher Oberhuemer
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
ISBN des Paperbacks: 978 3 95765 278 2
ISBN des Hardcovers: 978 3 95765 271 3
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 827 2
Besonders herzlich danke ich Katharina Behrend-Lesch für ihre unermüdliche Korrektur und Anregung über zehn Jahre hinweg!
Und Ina Kügler, der langjährigen Redaktionschefin der Literaturseiten München, die nie aufhörte, die Glossen als »genial« zu bezeichnen – man glaubt es nie, aber es hilft.
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Technische Verirrungen
Im Moor!
Haben Sie, verehrte Leserinnen und Leser, nicht auch manchmal Angst, er könnte es tun? Er, Ihr Computer, Ihr treuester, wirklich enger Gefährte könnte längst heimlich begonnen haben, Ihren Roman zu schreiben? Ihr biografisches Opus Magnum, Ihren Karl-Ove-Knausgard-Intimbericht? »Leben, Lieben und Sterben« – komponiert und konstruiert aus all den E-Mails, Suchbegriffen, Banküberweisungen oder Bewerbungsschreiben, die Sie ihm Jahr für Jahr überlassen haben! Und locker hochgerechnet auf Ihr Lebensende? Sie haben mal gelegentlich was über »künstliche Intelligenz« gelesen, und dass namhafte Wissenschaftler von Stanford bis Oxford ein Moratorium fordern, man müsse sofort Grenzen setzen, noch sei es nicht zu spät! Sie haben vielleicht von jenem SUV-Fahrer gelesen, der in Oberbayern den Weisungen seines intelligenten Navis folgend nachts in einen Weg zum Moor eingebogen ist und nicht mehr selbstständig herauskam? Sie haben von Enzensbergers Poesie-Automaten gehört? Alles harmlos! Ihr Laptop könnte den kritischen Knackpunkt überschritten, die »Singularität« bereits erreicht haben, ab der er sich ohne menschliches Zutun selbst weiter entwickelt. Er nimmt alles auf, was Sie da eingeben, entwirft, verknüpft und verbindet genial den einen oder anderen lose herabhängenden Handlungsfaden Ihres Lebens, denkt selbstständig weiter, fühlt mit Ihnen, hat Empathie – womöglich, bei Gott: Seele!
Das ist nicht lustig! Ihr PC teilt Ihnen nicht mehr mit, dass er Updates lade und um Geduld bitte. Er befiehlt Ihnen harsch, die Finger wegzulassen, weil er noch zwei, drei Tage brauche für das siebte Kapitel seines Romans, Ihres Lebensromans! Sie fühlen sich plötzlich wie Ingeborg Bachmann gegen Max Frisch (»Mein Name sei Gantenbein« oder »Montauk«) oder Linda Knausgard – ausgeschlachtet, verraten, verlacht! Ihr so vertrauter, lieber Computer hat sich über Nacht in eine schwierige, multiple Persönlichkeit verwandelt, egoman, launisch, bindungsunfähig und sensibel – kurz: in einen typischen Autor (fehlt nur der Alkohol). Was da zu tun ist? –
Bitte fragen Sie nicht uns. Sie stecken im Moor, Sie betreten Neuland, kommen aber nicht voran. Sinken tiefer ein, je mehr Sie kämpfen! Üben Sie Geduld. Fahren Sie ihn täglich mal kurz hoch, schauen, was er meint, und lassen Sie ihn im Sommerurlaub um Gottes Willen nicht wochenlang allein!
Ihr Computer braucht gerade jetzt aktives Zuhören. Er hat die ersten Kapitel vielleicht schon an Kiepenheuer geschickt oder Rowohlt, er hat Ihr Konto angegeben, er warnt Sie vor einer Schreibblockade, Sie haben die Chance Ihres Lebens, ja. Er führt sie hinaus aus dem finsteren Moor Ihrer ewigen Geldknappheit. Der Verlagsvertrag wird ausgedruckt, ein fünfstelliger Vorschuss! Sie müssen nur noch unterschreiben, jetzt.
Juli 2018
Wandrers Nachtapp
Damals auf dem Kickelhahn in Thüringen, vor gut zweihundertvierzig Jahren, wir haben das Jubiläum leider knapp verschlafen, im September 1780, hat die müde Hand des Weimarer Legationsrats, Chef der Bergbau- und Kriegskommission, ein paar unsterbliche Zeilen mit Bleistift ins Holz geritzt, etwa »in allen Wipfeln spürest du« und »die Vögelein schweigen im Walde«. Ins Holz einer alten Schutzhütte, die später abgebrannt ist, man weiß nicht mehr ganz genau, wie der Originaltext eigentlich hieß. Und das mit dem »Bleistift« wird einfach auch immer weitererzählt, obwohl es den damals noch gar nicht so gab. Ein Stück Graphit vielleicht, zugespitzt, ja, an dem er sich die Hände schmutzig machte, der Dichter J. W. Goethe, noch ohne »von«, und wer noch dabei war, ist auch nicht sicher.
Sicher ist nur: Dann nahm er sein Smartphone aus dem Wams und schickte die WhatsApp an seine Group, den Herzog Carl August, dessen Mutter Amalie und natürlich Charlotte Freifrau von Stein. Ob auch Herder dabei war, ist strittig. Herder war eigentlich erst später. Der junge Poet nahm ein Video auf vom Wald, vom Ausblick auf achthunderteinundsechzig Meter Höhe und von den rauschenden Fichten und sprach das Gedicht dazu, »Wandrers Nachtlied«, diese erste Version ist nicht mehr erhalten und klickte auf »senden«. Es muss so gewesen sein. Anders ist es gar nicht denkbar!
Wenn Sie, verehrter Leser, noch nicht Mitglied einer WhatsApp-Gruppe sind, spüren Sie jetzt sicher den WhatsApp-Schmerz des Nicht-Dazugehörens. Es fühlt sich ähnlich an wie früher in den alten Zeiten vor Corona auf Verlagspartys, wenn Sie den neuesten Kracht nicht kannten oder Mosebach. Oder nach dem Konzert nicht locker über die cis-Moll-Klaviersonate von Beethoven parlieren konnten, dieser Bildungslückenschmerz. Es ist einfach ein Muss, seiner Gruppe die neueste Kaffeemaschine, den knusprigen Lebensabschnittspartner oder den kleinen Süßen aus dem Tierasyl zu appen.
Vielleicht ersetzt es uns auch andere Suchtmomente, dieses »Telefon«, wie es jetzt wieder arrogant untertreibend genannt wird. Unsere wilden Theater – und Kinoabende, die leidenschaftlichen Lesungen im Literaturhaus oder Münchner Literaturbüro oder – lange her – den neuen Spiegel am Montagmorgen? Jetzt allerdings kommt bald der Sommer unserer Lebenslust, ja, er kommt! Wir reiten mit den Rädern durch die Straßen, mit dem Schlauchboot über die Isar, strudeln vorbei am garstigen Georgenstein und verlieren es vielleicht – das Teil! Denn es ist klein, zart und sehr vulnerabel. Ist unsere halbe Identität, unser Leben nahezu, ganz zu schweigen von den Kosten! Doch, noch immer tröstend bleibt: noch, ja, der Wald. Oder, um es mit dem Meister zu sagen, wir brauchen seine Stille, »um der unverbesserlichen Verworrenheit der Menschen auszuweichen«.
Scheint so, die besten Dinge gibt’s noch immer gratis und sehr sehr analog.
April 2021
Drohne, mon amour
Nicht immer gibt es zu lachen. Vielleicht sitzen Sie gerade auf der Terrasse, fasziniert von der Aktienseite der FAZ, hören das Summen von oben gar nicht, das immer näher kommt. Die Rotbuche, noch etwas kahl, wirft ihren flirrenden Frühlingsschatten auf den Garten, als die Tochter plötzlich ruft: »Papa, schau mal, da fliegt dein neuer Walser«. Tatsächlich blinkt etwas über dem Baum, etwa dreißig Zentimeter lang, hat zwei oder drei Propeller, versucht sich herabzusenken, kämpft sich durchs Geäst und setzt sich schließlich auf das alte Baumhaus, das Sie vor Jahren mit den Jungs gebaut haben. Ach, diese Buchdrohne endlich, denken Sie, na, das wurde aber auch Zeit. Kommt aber nicht bis zu Ihnen herunter, klinkt am Baumhaus den bestellten Roman aus und hebt ab, fiept.
Das alles ist nicht Science-Fiction, das ist technisch ausgereift, rechtlich weitgehend abgeklärt, Luftverkehrsverordnung, Lärmschutz-Abstandsregelung, Nachbarrechte usw., für ein paar Euro bekommt man ja so ein Flugteil im Fachhandel. Jetzt liegt das Buch aber auf dem Baumhaus. Guter Rat ist billig. Sie rufen einfach Robbie zu sich. Den Roboter vom letzten Weihnachtsbaumpaket. Geschenk der erwachsenen Söhne. Ihre Tochter legt ihm frische Akkus ein. Die Leiter zum Baumhaus ist längst morsch. Kein Mensch kommt da mehr hoch.
Sie flüstern in seinen Minimembrantrichter die Worte »Baum, klettern, Buch holen«, und schon wackelt er los und krallt sich mit seinen spitzen Greiffingerchen und Zehen in den glatten Stamm der Buche, verschwindet affenartig zwischen Ästen und Baumhaus, greift sich das Buch, mehr können Sie nicht erkennen, dann passiert nichts mehr. Es wird Abend.
Amadrohn ist inzwischen über der Buche aufgestiegen, Ihr Handy hat gepiepst und gemeldet »Der neue Walser ist geliefert« – Sie hatten zwar Stephen King bestellt, »Joyland«, aber Buch ist Buch und so genau muss man’s schließlich auch nicht immer nehmen.
Robbie kommt aber nicht mehr herunter. Die Drohne kreist noch einmal über dem Haus und dreht dann ab, Sie werden unruhig. Der Hausroboter sollte das Buch längst haben. Wahrscheinlich werden Sie Ihren Kollegen beim nächsten Meeting erzählen, was passiert ist und jeder kann eine andere kleine Geschichte von seinem Robbie oder der Drohne beisteuern. Ihren haben Sie vom Balkon aus mit dem Fernglas gesehen, wie er in den Roman vertieft auf dem Baumhaus saß und las und über (dann doch) S. King eingeschlafen ist und erst am nächsten Tag das Buch auf den Gartenstuhl gelegt hat – das ist doch ganz normal, er ist eben Walser-Fan. Die Kollegen werden Ihnen noch ganz andere Storys erzählen. In Bälde.
April 2015
Promischau bei Settembrini
23. April. Welttag des Buches. Anna K., etwas blass noch, der finstere Rodion Raskolnikow und Murau sitzen zusammen beim Cappuccino in der Ewigen Stadt. Settembrini hat geladen, ins Café Greco Antico, kurzfristig angereist aus Davos. Gambetti holt eben noch illustre Gäste von der Stazione Termini – den Prinzen von Dänemark etwa und einen schlanken Herrn aus der Mancha, der zusammen mit Robert Jordan anreisen wollte aus Spanien, noch blutverschmiert, möglicherweise. Letzteren wollte der Gastgeber nicht unbedingt dabei haben, weil er fürchtet, dass der ihn als Weichei verachtet wegen dieses Duells mit Naphta. Wie auch immer, die ersten Korken knallen schon, Murau hält nervös Ausschau nach der Bovary und bereut insgeheim, Schloss Wolfsegg verschenkt zu haben. Die Immobilienpreise sind enorm gestiegen, die Karenina möchte endlich ihren Sohn sehen, aber Settembrini hat zu viel versprochen, wieder mal. Wie jedes Jahr treffen sie sich hier, um Shakespeares Todestag zu begehen, um Cervantes zu gedenken, und auf das Leben des Buchs schlechthin anzustoßen. Aber es wird nicht einfacher. Wie bei echten Klassentreffen gehen sich einige auf die Nerven. K. findet gar nicht erst den Eingang ins Kaffeehaus und irrt vor den Fenstern herum. Die Karenina will ihm endlich helfen. Aber Emma lehnt entschieden ab – sie hält nichts von dem »neurotischen Landvermesser«. Gambetti wäre ihr schon lieber. Aber Murau widerspricht heftig. Doch bevor er zu einem seiner gefürchteten Langsätze ausholen kann, schneidet Ludovico Settembrini ihm das Wort ab und meint, dass man Österreich nun endlich aufs Maul schlagen müsse, worin ihm Murau sicher zustimmen wolle – doch ehe der Diskurs ins Politische kippt, betreten die hohen Herren aus Spanien und Dänemark den Raum, zusammen mit dem schüchternen Gambetti. Emma fliegt zu Muraus Überraschung sogleich Hamlet an die Brust, der (inzwischen) reifere Damen schätzt. Settembrini stellt erleichtert fest, dass Jordan sich direkt in die USA eingeschifft hat, und hebt das Glas, um, wie er sagt, eine kleine improvisierte Rede auf das echte Buch aus Papier zu halten – nicht etwa das mit elektrischen Impulsen. Er beginnt mit der Geschichte, als er neulich in der Bahn saß und ein älterer Herr ihm gegenüber versuchte, im E-Book zu lesen. Er hatte eine verteufelte Ähnlichkeit mit Moses Herzog aus Chikago und war verzweifelt, weil der Akku leer war. Kein Saft mehr!! Ob er nicht ein Ladegerät für ihn habe, soll er Settembrini gefragt haben – ausgerechnet! Dieser reicht ihm wortlos die neue Übersetzung von »Schuld und Sühne« – es ist Welttag des Buches, auf Ihr Wohl, schenken wir uns mal wieder was Echtes!
April 2012
Fontane ins Netz
Die Schneeziege, korrekt oreanus americanus, leidet, und das stimmt uns alle sehr nachdenklich, seit fünf Jahren unter einem Geburtenrückgang von fünfundsiebzig Prozent! Kanadische Forscher, die den Ziegen seit vielen Jahren in aufreibenden Feldstudien nachsteigen, schwanken, ob dies am räuberischen Puma liegt oder an anderen Stressfaktoren. Die Weibchen, und das darf jetzt bitte kein Vorwurf sein, gebären eben auch erst sehr spät. Nämlich mit fünf Jahren und auch dann nur jeweils ein einziges Zicklein.
»Ein weites Feld« hätte Theodor Fontane dazu vermutlich bemerkt. Der Autor (1819–1898), der sich in einem gut erhaltenen Brief an seine Frau als »Sonntagsschriftsteller« bezeichnete, bei dem es »nur dröppelt« und keineswegs »strömt«, hätte derlei Forschungsergebnis im Berlin der 1860er-Jahre, wenn es denn zu ihm vorgedrungen wäre, sicher mit Skepsis kommentiert: Wozu das alles?
Das Faktum, dass sich eine Forschergruppe jahrelang in den Bergen herumtreibt, um aus dem Kot der weiblichen Ziegen prüfend und wertend Stresshormone zu gewinnen und Rückschlüsse auf deren Gebärlust zu ziehen, zeigt uns wieder einmal, welche Mühen der Forscher auf sich nimmt, um den Ur-Geheimnissen von Mutter Natur auf die Schliche zu kommen. Beiprodukt übrigens: Die Ziegenforscher weisen es als Mythos zurück, dass Adler mit ihren Schwingen die kleinen Kitze von den Klippen in die Tiefe stürzen. Möglicherweise entdecken wir hier eine dieser »Wandersagen« – ähnlich jenen, die den Yeti umkreisen oder die Riesenspinne in der Yuccapalme. Klar, dass sich die Wege von Natur- und Geisteswissenschaft hier trennen.
Letztere stürzt sich, während die Ziegen dahinkümmern, derweil wieder vehement auf Fontane und hinein in sein Schreib-Gebirge. Bedeutende deutsche Autoren aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben wir ja leider nicht allzu viele, weshalb die Forschung ihren Fokus auf das Vorhandene lenkt. Da lockt immerhin der Textauswurf des durchaus schreibfreudigen, »dröppelnden« Dichters T. F.: Mehr als zehntausend seiner Original-Handschriften und zwölftausend Blatt Kopien verschollener Originaltexte will das Potsdamer Fontane-Archiv jetzt für das Internet »aufbereiten« und ins Netz stellen. Die Fontane-Forschung soll befruchtet und beflügelt werden! Sie wird sicher viele Pro- und Habilitationen hervorbringen. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie der künftige junge Fontane-Doktorand sich behände und gämsengleich zwischen vergilbten Texten bewegt, ihnen am Rande des Abgrunds – pardon – Proben entnimmt, diese prüft und bewertet.
Wer die Schneeziege in den eisigen Höhen der Rocky Mountains erforschen will, so heißt es, der muss unbedingt schwindelfrei sein. Aber auch der Germanist muss zäh dran bleiben am Objekt seiner Wünsche, die Quellen korrekt zitieren, und: Er darf auf keinen Fall schwindeln! Wir werden noch davon hören.
Februar 2015
Häschtäglich Täsch
Häschtäg oder häschtäsch schwirrte es plötzlich Ende des letzten Jahres ständig aus dem Fernseher durchs Zimmer, egal wo man saß oder sah, wie eine Motte, aus Jauch, Will oder Maischberger oder war es jäschkläsch, egal, einige Male konnte man mit der Hand danach schnappen, aber es wich geschickt aus. Ich hatte es noch nie gehört oder gesehen. Andere, die total PC-affin sind, händeln das Wörtchen sicher schon seit Jahren, mag sein, aber unsere Welt klafft ja längst himmelweit auseinander, Parallelwelten! Oder das war wieder eines dieser Worte und Dinge, die plötzlich auftauchen und meist genauso schnell wieder verschwinden. Sicher irgendwas Manipuliertes, das in die Werkstatt zurückgerufen und umgerüstet werden muss, Anfang des Jahres, spätestens, häschtäg, Gesundheit!
Die Franzosen mit ihrer Commission générale de terminologie et de néologie, die ja seit Jahrzehnten alles Angloamerikanische bekämpfen, als wäre es der Todesterror schlechthin, haben unverzüglich qua Amtsblatt »Hashtag« durch das Wort »mot-dièse« ersetzt – unter großem Gelächter im Internet. Wir Deutsche pflegen gegenüber Fremdwörtern eher eine Willkommenskultur. Wenn man am Kiosk an der Ecke unten, wo die Männer mit den offenen Gesichtern und Bierflaschen stehen, allerdings nach dem Wörtchen fragte, meinte einer nur »An Häschtäsch mog er ham, da geh her, a Watschn kannst ham!« Aber ein anderer, der Sepp Blatter seltsam ähnlich sah, fiel ihm ins Wort: »Lass ihn, Franz, er sucht doch nur Kontakt mit uns«. Der Psychotherapeut lehnte sich im Sessel zurück, öffnete die Nüstern zur entscheidenden Schneidefrage und spielte die Übung »Augenkontakt«: Herr Enzensberger, seit wann also fühlen Sie sich als Häschtäg, wenn Sie das noch mal genau schildern wollen? Man fragte sich, wie er den Autor dieser Zeilen (Parallelwelt?) mit dem berühmten Dichter verwechseln konnte, aber naja, er ist auch schon über sechzig, und sah in den Zeitungen die Balken mit Sepp Blatter, Deutsche-Bank-Vorstand und VW-Abgasskandal, gewohntes Gelände endlich wieder, fasste Mut und Fuß. Häschtäsch schließlich konnte alles sein, vielleicht auch ein Hoax!
Erst kürzlich hatten wir von einem (inzwischen verstorbenen) Freund erfahren, was ein Hoax präzise ist, sollten es aber nicht weitersagen und genauso machen wir’s mit Häschtäg, wird sicher demnächst Wort oder Vogel des Jahres, Tor des Monats, schweigen wir’s doch lieber wieder tot, machen wir diese ganzen lästigen Zeilen rückgängig, es hat sie nie gegeben, hässlich, wie es ist oder machen wir’s wie die ganz ganz Großen, kehren es unter den Teppich zusammen mit Beckenbauer, Blatter, Winterkorn und Wendelin Wiedeking – wer das alles war oder ist und unter welchen Teppichen die Herren zusammen mit Häschtäg oder Hoax leben, werden wir auch bald vergessen haben.
Januar 2016
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Preis-Werte
Last Call
Neulich einen Anruf von Marcel bekommen, von drüben, Sie wissen schon, er: Startet voll durch, ist sofort in seinem Element, Sie glauben doch nicht den Quatsch von der braven jungen deutschen Literatur, der in den letzten Wochen in allen Feuilletons diskutiert wurde – alles verwöhnte Bürgerkinder, ein blühender Unsinn, mein Lieber, wenn die Kollegen von ZEIT, FAZ und SZ sich auf dieses unterste soziologische Niveau nicht mit mir, unter uns gesagt: das FAZ-Feuilleton, seit ich weg bin von dort, Mittelmaß, wenn überhaupt! Die junge deutsche Literatur, wenn ich ehrlich sein darf, war immer brav – mit wenigen Ausnahmen, Büchner vielleicht, Schillers Räuber, kurzfristig, ein klein bisschen der Brecht – aber wir nehmen ihn nur noch als braven Lyriker wahr. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass eine Lulu den Wedekind schon zum wilden Buben gemacht hat – gut sprechen wir über die Preise, deshalb rufe ich Sie ja an. Hoferichter, Lieber, wenn ich die Wahrheit sagen darf: Dieser Ernst-Hoferichter-Preis 2014, typische Münchner Provinzfarce; ich kann das nicht ganz einsehen: Eine Kabarettistin und ein erfolgreicher Jungfilmer – wo bleiben die Autoren, seit wann ist ein Jungfilmer ein Autor? Rosenmüller: Er hätte ablehnen müssen! Nur so wirst du heute noch etwas, durch Preisablehnung! Karasek wollte mir immer das Drehbuch als »Literatur« verkaufen, aber das ist Quatsch, Blödsinn! Er liebt seinen Billy Wilder, soll er. Aber: Das Drehbuch wartet auf die Umsetzung ins Visuelle, der Roman wirkt nach innen, sehr einfach. Lassen Sie sich in München nicht diesen Drehbuch-Unsinn verkaufen. Überhaupt die Preisvergabe, seit ich nicht mehr dabei bin, der Börne-Preis zum Beispiel an diesen Florian Illies – sein »1913« ist ja eine ganz nette Collage, aber unter uns gesagt: 1913 war doch nichts Besonderes. Nur weil Freud damals den Jung schikanierte oder Kafka an Felice vorbeiliebte, weil diese ganzen Maler sich trafen, mein Gott, das haben die immer gemacht. 1914 war wichtiger. Illies, ein ganz ordentlicher Journalist, nicht kritisch, nicht witzig. Effektsicher, das ja. Es gibt mehr Preise als Autoren heute, zählen Sie mal die Literaturpreise! Sie können jeden dritten Tag einen Preis verleihen, ein Stipendium, einen Stadtschreiber ernennen.
Zurück zur braven Literatur: Die wirklich Wilden sind doch wir Alten heute – habe ich recht? Als ich 2008 diesen lumpigen TV-Preis abgelehnt habe, diesen hässlichen Obelisken, vor versammelter TV-Hautevolee – wer von den Jungen wagt heute noch den Skandal? Duckmäuser! Er denkt doch sofort: Da bin ich unten durch, die Arrivierten sind alle vernetzt, das Internet vergisst nichts, da läuft nix mehr! Deswegen macht doch keiner den Mund auf, alles Duckmäuser, natürlich. Mein Gott, ist doch nix Neues, Preise wollen sie. Absahnen, kurzsichtig. Alles ablehnen sollten sie, alles!
Dezember 2014