Loe raamatut: «Sehnsucht nach Gott»

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WOLFRAM WEIMER

Sehnsucht nach Gott

Warum die Rückkehr der Religion

gut für unsere Gesellschaft ist


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ISBN 978-3-89710-888-2

eISBN 978-3-89710-956-8

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„Der Glaube ist die größte Leidenschaft des Menschen.“

Søren Kierkegaard

Inhalt

Die Diagnose

Spurensicherung Gottes

Die Anamnese

Der zeitgeschichtliche Zusammenhang

Der politische Rahmen

Der philosophische Bezug

Die Therapie

Warum die Sehnsucht Kultur schafft

Warum die Sehnsucht Staat macht

Wie die Sehnsucht Gewissen formt

Die Rehabilitation

Person würdigen

Familie lieben

Religion prägt den Kulturkreis

Tradition hegen

Recht und Ordnung achten

Tugend pflegen

Das Heimweh

Die soziale Sehnsucht

Die persönliche Sehnsucht

Literaturinspirationen

Die Diagnose
Spurensicherung Gottes

Fingerabdrücke Gottes sind überall und immer, in der Natur, im Tod, in der Liebe und im Leben, überall, wo Menschen sind. Wir haben ihm Tempel gebaut, Pyramiden, Kathedralen. Wir haben ihm die größten Kunstwerke gewidmet, ihn verehrt, angebetet und gefleht, politisiert, missbraucht, verflucht und verraten, ignoriert. Und selbst wenn wir ihn verloren zu haben glauben, also nichts mehr glauben, so irritieren uns seine Spuren, so spüren wir in uns einen Zweifel über den Zweifel, eine leise, aber doch unsterbliche Sehnsucht nach dem Unsterblichen, eine Sehnsucht nach der Antwort auf die letzten Fragen. Und je weiter man sich persönlich oder als Gesellschaft von Gott entfernt, desto größer wächst dieses eigentümliche Heimweh.

Es ist eigenartig, dass die Spuren Gottes, egal wie nihilistisch oder areligiös die Menschen gerade denken, nie verschwinden. Angesichts der überwältigenden Nachhaltigkeit dieser Spuren zu allen Zeiten in allen Kulturen, angesichts also der erdrückenden Beweislast massenhafter Indizien über Jahrtausende hinweg, wirkt die Vorstellung, Gott könne womöglich gar nicht existieren, ziemlich forsch. Ist nicht der Glaube an das Nichts ein viel gewagterer Glaube als der an Gott? Ist nicht der Mensch, der Gott konkret gefunden hat, ein glaubwürdigerer Zeuge als der, der abstrakt behauptet, es gebe ihn nicht? Denn Ersterer bezeugt etwas Manifestes, Letzterer behauptet etwas über jemanden, dessen Existenz er abstreitet. Das Sehen der Zeugen wiegt doch eigentlich schwerer als das Nicht-Sehen der Gegen-Zeugen.

Und trotzdem spielen wir in Europa seit ein, zwei Jahrhunderten ein Versteckspiel mit Gott. Obwohl seine Spuren überall sind, halten wir Gott für tot. Im 20. Jahrhundert religiös verstorben. Und kulturell vergessen. Wir haben ihn systematisch umgebracht, unsere Philosophen, die Psychologen, die Ideologen der abendländischen Neuzeit. Friedrich Nietzsche und Charles Darwin, Arthur Schopenhauer und Karl Marx und all ihre Epigonen. Sigmund Freud diagnostizierte den Gottesmord zutreffend als die große „Kränkung“ der Moderne. Das 20. Jahrhundert und seine gottvergessenen Ideologien dokumentierten dies schließlich mit pathologischer Brutalität. Am Ende besorgten der Alltags-Atheismus und die Vergesslichkeit eines materialistischen Zeitalters den Rest. Die postmodernen Wohlstandsgesellschaften spülten sogar die kulturellen Restbestände des Christentums aus dem Bewusstsein einer geistig zerstreuten Zeit.

Mit der gelassenen Arroganz unserer Aufklärung haben wir Gott in den vergangenen Jahren immer öfter wie einen verstorbenen Großvater betrachtet. Schließlich trägt jeder gebildete Europäer die Kritik des Metaphysischen mit sich herum wie ein Erbstück vom Großvater. Kopernikus rückt die Welt aus ihrer Mitte, Kant macht uns die Grenzen der Erkenntnis klar, Darwin biologisiert unsere Herkunft, Feuerbach („Das Wesen des Christentums“) erinnert uns an den Projektionscharakter der Religion, Marx enttarnt ihr politisches Wesen („Opium des Volkes“), und mit Freud („Die Zukunft einer Illusion“) betrachten wir Gott immer auch als Vexierspiel unserer eigenen Psyche. Kurzum: Wir tragen Nietzsches Gott-ist-tot-Postulat wie Wechselgeld unserer Sinngebung durchs Leben.

Obendrein hält es das alte Europa nach den bitteren Erfahrungen der Religionskriege schlichtweg für vernünftig, die Sphären des Religiösen und des Politischen tunlichst zu trennen. So sehr, dass man sich in der EU-Verfassung den Gottesbezug nicht einmal mehr zu erwähnen getraut hat.

Inzwischen aber wirkt dieses alte Europa wie eine agnostische Insel in einem Meer neo-religiöser Bewegungen. Die Neo-Religiosität erobert sich den öffentlichen Raum der großen Weltpolitik. Die neue und zum Teil aggressive Vitalität des Islam ist dabei nur die sichtbarste Entwicklung. Auch der christlich-orthodoxe Kulturkreis, ganz Osteuropa lädt sich religiös neu auf. Asien befindet sich in theologischer Restauration. Vor allem aber in den USA – der wichtigsten Nation des Erdkreises – ist der Prozess allenthalben manifest. Immer deutlicher wird sichtbar, dass die neue Religiosität große Folgen haben könnte. Selbst so säkular geprägte Staatengebilde wie die moderne Türkei werden zutiefst erschüttert durch die Religionsbewegung. Und sogar Indien und China erleben ein politisch brisantes Comeback der Massenspiritualität.

Denn es geschieht das völlig Unerwartete: Gott kehrt plötzlich zurück. Die Religion erlebt rund um den Erdball eine Renaissance, die kaum einer für möglich gehalten hätte. Nur in Westeuropa ist die „Wiederkehr der Götter“ (Friedrich Wilhelm Graf), die „Rückkehr der Religionen“ (Martin Riesebrodt), die „Desecularization of the World“ (Peter Berger) erst langsam in Fahrt gekommen. Nicht mehr lange …

Das 21.Jahrhundert wird wohl auch uns Europäer lehren, dass das Agnostische nicht das Ende der Geschichte ist. Vielleicht wird Europa aufgrund seiner enormen intellektuellen Kraft sogar vom neo-religiösen Nachzügler zu einem kulturellen Gestalter dieses Prozesses. Was man nur wünschen kann, um den gefährlichen Teil dieses gewaltigen Trends gewissermaßen zu zivilisieren. Denn die Wiederkehr von „Glaubenskonflikten in der Weltpolitik“ (Wilfried Röhrich), der blutige „Clash of Civilizations“ (Samuel Huntington) ist längst kein Gespenst von Scharfmachern mehr. Ob man sie nun als „Rache Gottes“ (Gilles Kepel) oder als „Kampf für Gott“ (Karen Armstrong) deutet, der „Terror im Namen Gottes“ (Mark Huergensmeyer) und die „Sacred Fury“ (Charles Selengut) sind bereits Wirklichkeit. Da könnte Europa, das schon aus historischer und geistesgeschichtlicher Erfahrung genau um die gefährliche „Ambivalenz des Heiligen“ (Scott Appleby) weiß, das wilde Pferd des Neo-Religiösen zähmen, domestizieren und zum kultivierten Ausritt bewegen.

Zurzeit wirkt Europa noch wie der kühle Pol der globalen religionspolitischen Erhitzung. Bei genauem Hinsehen aber zeigt sich, dass wahrscheinlich gerade aus der europäischen Tragödie im 20. Jahrhundert für die Welt ein Signal ausging, dass die globale Rückbesinnung auf Religionen befördert hat. Denn das Europa des 20. Jahrhunderts hat die Welt gelehrt, dass ohne Gott die politischen Katastrophen noch teuflischer geworden sind.

Das 20. Jahrhundert war – religiös gesehen – eines der gottlosesten der Menschheitsgeschichte. Politisch gesehen wurde es auch deswegen zur humanitären Katastrophe. Die großen politischen Ersatzreligionen – der Faschismus und der Kommunismus – haben nicht nur Abermillionen Menschenleben gekostet und das Elend in die Seelen ganzer Generationen eingraviert. Sie haben auch aus der Heimat aller modernen Kulturen, aus dem guten, alten Europa, die grausame neue Hölle gemacht – und sie damit verraten.

Europa hatte nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) eine politische wie intellektuelle Grundüberzeugung, dass es im Sinne der praktischen Vernunft wohl besser sei, den lieben Gott aus der Politik und dem öffentlichen Leben zu verbannen. Nur: Infolge seiner philosophischen und habituellen Vernichtung zum Ende des 19. Jahrhunderts geriet Europa ins andere Extrem. Die beiden Weltkriege sind aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts der zweite Dreißigjährige Krieg Europas (1914–1945) gewesen. Der erste war von radikalen Theismen getrieben. Den zweiten schürten radikale Atheisten.

So wie die führenden Gesellschaften nach dem ersten Dreißigjährigen Krieg die Religion instinktiv marginalisierten, so werden sie nach dem zweiten Dreißigjährigen Krieg das Gegenteil tun. Womöglich könnten die Todesmaschinerien von Faschismus und Kommunismus, die Europa und die Welt bis 1989 geprägt haben, einen ähnlichen psychologischen Langzeiteffekt haben wie der Dreißigjährige Krieg innerhalb Europas. Nur umgekehrt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts mobilisiert sich eine gewaltige Antithese, die nun das Religiöse wie einen Reflex zurückbringt ins Bewusstsein der Weltbevölkerung.

Das 21. Jahrhundert wird ein Zeitalter der Religion. Gott kehrt zurück, und zwar mit Macht – im doppelten Sinne des Wortes. Nicht nur als philosophische Kategorie, revitalisierte Tradition, theologische Überzeugung oder spirituelle Kraft. Er kommt mitten hinein ins wahre Leben. Die Pandemie verstärkt diesen Prozess. Wie das Erdbeben von Lissabon 1755 den kollektiven Gottesglauben erschütterte, so frisst ein winziger Virus 2021 einen existenziellen Zweifel in die säkularisierte Welt. Die Moderne, ihre Globalisierung, eine offene Welt zwischen Flughafenlounges und Ischgl-Partys, entpuppt sich als riskantes Gebilde. Schlagartig ist unsere, die ganz offene, selbst-genügsame, diesseitige Welt eine gefährliche. Damit bricht das Gefühl des Die-Welt-im-Griff-Habens in sich zusammen. Etwas ganz Winziges bringt eine ganz große Überzeugung zu Fall – die der Machbarkeit und Autonomie des Menschen. Und plötzlich wird der Blick frei für die Realität einer anderen Welt, für den Tod und die Endlichkeit, für Kategorien wie Schicksal und Glaube. Die vorliegende Streitschrift vertritt die These, dass sich der Säkularisierungsprozess umkehren wird. Die Pandemie ist dabei ein Meilenstein des neuen Weges: Wir gehen vom post-modernen ins neo-religiöse Zeitalter.

Die Anamnese
Der zeitgeschichtliche Zusammenhang

Wenn heute über das Comeback der Religion räsoniert wird, gilt der 11. September 2001 als das zentrale Bezugsdatum. Selbst theologiekritische Intellektuelle vermeinen inzwischen die religiöse Zeitenwende zu spüren, die mit diesem Ereignis einhergeht: „Als hätte das verblendete Attentat im Innersten der säkularen Gesellschaft eine religiöse Saite in Schwingung versetzt“, befindet Jürgen Habermas. So richtig es ist, dass der 11. September wie die formale Geburtsstunde des polit-religiösen Jahrhunderts angesehen werden kann – tatsächlich begann die historische Zeitenwende schon Jahre zuvor.

Das Ende der globalen Säkularisierung bahnte sich tief in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an.

Die doppelte humanitäre Katastrophe des Faschismus und des Kommunismus hat den Marsch in die Moderne ethisch gewissermaßen entkleidet. Die kulturelle und intellektuelle Pervertierung des Fortschrittsglaubens in ent-göttlichten, radikal-diesseitigen Ideologien beendete, zunächst unterbewusst, zusehends dann auch reflektiert den Säkularisierungsprozess, weil dieser seine moralische Integrität verloren hatte. Europa war nach dem ersten Dreißigjährigen Krieg so weit von Gott weggelaufen, wie es nur irgend ging, um diesem Trauma religiöser Verblendung zu entfliehen. Am Ende geriet es ins neue Trauma der Freiheitsverblendung und Selbstvergottung.

Robert Spaemann beschrieb den jahrhundertelangen Säkularisierungsprozess einmal als „Teleologieabbau“ – seitdem Rousseau damit begonnen habe, den Menschen aus seinem Telos, seiner universellen Zielgerichtetheit, in die reine Natur zu entlassen. Die Katastrophe des 20. Jahrhunderts ließ die Sehnsucht nach einer religiösen Unbedingtheit zurückkehren. Die teleologiefreie Zone der Weltgeschichte war buchstäblich implodiert.

Aber nicht überall. So ist es kein Zufall, dass die Religion den politischen Raum durch die Tür Amerikas wieder betrat, die einzige Großmacht des Abendlandes, die ohne traumatische Brüche und moralische Diskreditierung noch direkt an der Nabelschnur der Vormoderne hing. Schon für Tocqueville war Amerika „in der Welt der Ort, wo die christliche Religion am meisten wirkliche Macht über die Seelen bewahrt hat … hier verschmilzt die Religion mit allen nationalen Gewohnheiten und vaterländischen Gefühlen; das verleiht ihr eine besondere Kraft.“

Das blieb auch im gottlosen 20. Jahrhundert so. Amerika verkörperte eine religiös aufgeladene politische Kultur mit Strahlkraft – eben eine Tocquevillesche „Zivilreligion“ –, selbst als Europa in existenzialistischen Selbstzweifeln und in tiefer Ironie versank. Amerika trug die Re-Missionierung daher schon als Blaupause in die Welt zurück, als alle noch auf die Trümmer der europäischen Säkularisierung starrten.

Schon der Kalte Krieg gegen den Kommunismus wurde zum ersten Glaubenskrieg der Postmoderne. Denn mit der Sowjetunion stand den christlich-religiösen USA eine betont atheistische politische Kraft gegenüber. Das war der Nationalsozialismus auch, aber der stellte im Wesentlichen eine machtpolitische und keine intellektuelle Auseinandersetzung dar. Der Kommunismus schon. Und deswegen führte dieser globale Konflikt zu einer ersten großen Schärfung des religiösen Selbstbewusstseins in Amerika und in anderen Teilen des Westens. Seitdem ist der „Kampf gegen Ungläubige“ nicht nur ein Topos abendländischer Politik, er ist auch ein Legitimationsmuster der eigenen Macht und ein Identitätsstifter von relativistischen Freiheitsgesellschaften.

Nicht, dass dies irgendwie von langer politischer Hand gesteuert oder im Pentagon, bei der CIA, im Vatikan oder bei Walt Disney Teil eines Masterplans gewesen wäre. Aber das Ergebnis war die Transponierung der religiösen Idee in den machtpolitischen Raum – lange bevor es Al Quaida gab. Dass am Ende des Kalten Krieges die Religion sogar einen sehr greifbaren Part beim Sturz der kommunistischen Regime spielte – man denke nur an die Rolle der katholischen Kirche in Polen –, war insofern auch kein Zufall. Und im islamischen Raum wurde der Afghanistan-Krieg zur ersten sichtbaren Politisierung der Konstellation Gläubige versus Ungläubige. Die Mudschahedin konnte man nur zum jahrelangen und letztlich erfolgreichen Widerstand gegen die totalsäkularisierten Sowjetinvasoren bewegen, indem man ihre religiösen Saiten zum Schwingen brachte. Die Amerikaner sollten es später noch bereuen, dass sie das Spiel mit der religiösen Massenrevitalisierung in dieser Region machtpolitisch derart befördert hatten. Am Ende aber schloss sich der Kreis, indem die religiösen Amerikaner ihren Widerstand gegen die politischen Religionen Europas beendeten und den islamischen Kulturraum mit in die Re-Theologisierung führten. Spätestens in der Rhetorik und Politik Ronald Reagans bekam der Missionscharakter des Kalten Krieges gegen die Sowjetunion dann auch seine programmatische Rückkopplung an die Religion.

In Amerika wird die breite „Resurgence of Religion“ jedenfalls schon seit Anfang der achtziger Jahre diagnostiziert, und so wundert sich keiner, dass in den jüngeren Wahlkämpfen die Politiker öffentliche Glaubensbekenntnisse intimster Art ablegen. US-Soziologen haben diesen Prozess sehr klar dokumentiert. Auch heute noch wünschen sich nach Umfragen mehr als 70 Prozent der Amerikaner „einen deutlich stärkeren Einfluss der Religion auf die Politik“. Die strategische Allianz, die Amerikas Konservative im Allgemeinen und die Republikanische Partei im Besonderen mit den Evangelikalen geschlossen haben, sicherten ihnen strukturelle Mehrheiten weit über den bible belt hinaus. Die amerikanische Gesellschaft – seit jeher religiöser, als Europa das wahrhaben wollte – hat sich in den vergangenen Jahrzehnten wieder so sehr der Religion zugewandt, dass alle Fragen nach moralischer Integrität, nach emotionaler Identität und nach dem vision thing, wie Polit-Profis jeden ideellen Überbau der Realpolitik gerne bezeichnen, mit der Religion beantwortet worden sind. Das heutige Amerika ist auch im Alltag wieder wesentlich kirchenbezogener, als es dies in den siebziger Jahren gewesen ist. Heute bilden sich selbst mitten im Finanzzentrum New Yorks wieder Tausende von Gebetsgruppen am Arbeitsplatz. Breakfast Prayer Meetings oder Lunchtime Bible Studies sind Zeugnisse eines ziemlich unerwarteten Comebacks der Religion.

Dass sich die religiösen Sphären ausweiten und inzwischen die Welt des Politischen stark beeinflussen, wird kaum jemand mehr bezweifeln. Merkwürdigerweise aber werden Religion und Glauben gemeinhin nur als Sekundäreffekte sozialer oder wirtschaftlicher Phänomene interpretiert. Dass sie originär sind und unmittelbar politisch wirken, hat der Harvard-Professor Samuel Huntington in seinen Büchern über Religions- und Kulturspannungen schon lange vor dem 11. September 2001 festgestellt. Nur wird er bis heute dafür arg gescholten.

Selbst nachdem am 11.September 2001 die gekaperten Flugzeuge in die New Yorker Twin Towers rasten und eine Serie von Bombenattentaten auf westliche Ziele, von Touristen in Bali oder Ägypten bis zu U-Bahn-Pendlern in London oder Madrid, nach sich zogen, suchte das europäische Bewusstsein zunächst nach sozio-ökonomischen Ursachen für den neuen Krieg des 21. Jahrhunderts. Unser eigener Ökonomismus und Materialismus prägten so sehr unser Denken, dass uns andere Erklärungsmuster fremd, ja fast ideologisch erschienen. Erst zögernd begriffen die westlichen Gesellschaften und noch langsamer ihre Intellektuellen, dass dieser Konflikt ganz wenig mit Geld, aber sehr viel mit Gottessehnsüchten zu tun hat. Die meisten Attentäter – von New York bis Bagdad – entstammten relativ wohlhabenden Familien, waren hoch gebildet und hätten beste Perspektiven für ein gutbürgerliches Leben nach westlichen Vorstellungskategorien gehabt. Die anfängliche Annahme, hier handele es sich um ein soziales Phänomen, hier revoltierten die armen Massen des islamischen Raums gegen die ungleiche Verteilung von Reichtum in der Welt, ist inzwischen gründlich widerlegt.

Langsam haben wir begriffen, dass immer mehr Menschen auf der Erde nicht von Geld und Gier, sondern von religiösen Gefühlen motiviert werden.

Auch das zweite gängige Erklärungsmuster – es handele sich bei religiösem Fanatismus um ein Phänomen zurückgebliebener Kulturen – erweist sich bei genauem Hinsehen als völlig falsch. Immerhin ist im Westen der modernste und am höchsten entwickelte Staat – die USA – religiös am weitesten aufgeladen. Im islamischen Raum sind es ebenfalls die reichen und höher entwickelten Länder wie Saudi-Arabien oder der Iran, in denen die religiösen Impulse für politisches Handeln am aggressivsten wirken. Das neue Zeitalter der „Religio-Politics“ wird nicht von den Peripherien, sondern von den Kraftzentren der Globalisierungsbeschleunigung definiert.

Damit wird klar, warum die Religion auch ohne den islamistischen Terror als gesellschaftliche und politische Macht zurückkehrt. Denn selbst die säkularisiertesten Kulturen registrieren seit einigen Jahren jenes Phänomen, das Harold James als „Wille zum Glauben“ beschrieben hat. Damit ist ein messbares Bedürfnis nach moralischer Letztbegründung, nach „Werteorientierung“ gemeint. Auch wenn Nietzsche solcherlei als „Begriff-Halluzination“ diffamiert hat, die nur gilt, wenn man an sie glaubt, so ist das Phänomen doch da. Die Rückkehr des Aberglaubens und der Sekten, die Ausbreitung der Esoterik, die massenhaften Formen privatisierter Metaphysik, ja der neuerdings anzutreffende Respekt vor dem „Wertkonservativen“ sind Indizien dafür.

Die Renaissance der Religion im Westen wird von der ethischen Dürftigkeit der materialistischen Wohlstandsgesellschaften befördert. Die neue Legitimation des Christlichen als politisch-moralische Instanz baute sich mit dem Zusammenbruch des Kommunismus auf. Die Kirchen spielten die Rolle als moralisch integre Oppositionsbewegungen gegen Diktatur und Entmündigung in Osteuropa und eroberten sich so im öffentlichen Bild polit-moralische Autorität zurück. In den großen Ethos-Debatten der Medizin und der Naturwissenschaften hatte die religiöse Bewegung plötzlich wieder Achtung. Ob menschliches Klonen oder „Euthanasie“, Beginn oder Ende des Lebens: Die neo-religiöse Bewegung formierte und artikulierte sich erfolgreich, weil die totalsäkulare Gesellschaft ethisch auf schwankenden Grund geraten war.

Auf einmal schienen politische Kompromisse auf den Feldern der Bioethik ohne fundamentalen Wertebezug nicht mehr denkbar: Die neue Wertorientierung wurde schon über die Sprachfindung hergestellt, denn in den neunziger Jahren gelang es religiösen Gruppierungen erstmals seit Jahrzehnten wieder, die Sprache und die Metaphorik des Religiösen in den politischen Raum zurückzuführen. Worte wie „Schöpfung“ oder „Demut“ kamen plötzlich wieder heraus aus den Kirchen und hinein in den öffentlichen Diskurs. Theologen avancierten zu beliebten Talk-Show-Gästen und wurden als Experten gefragt, während gleichzeitig Politiker aller Couleur aus der religiösen Motivation ihrer Position auch öffentlich keinen Hehl mehr machten.

Wie kulturübergreifend das Comeback der Religionen inzwischen spürbar ist, zeigt selbst ein Blick nach China, wo die politische Emanzipation der neuen kapitalistischen Klasse zuvorderst über religiöse Bewegungen (von Falung Gong bis zur christlichen Missionierung) voranschreitet. Aber auch in Indien sind Nehrus Vorstellungen von einer säkular-sozialistischen parlamentarischen Demokratie in den vergangenen Jahren von mehreren und immer stärkeren religiösen Bewegungen attackiert worden. Wie in der Türkei siegte auch hier eine religiöse Sammlungsbewegung und machte das tiefgreifende Comeback der Religion in der Gesellschaft zum politischen Faktum.

Russland wiederum lebt den Kulturwechsel in seiner vollen Bandbreite aus. Man war als Sowjetunion eine bekennend atheistische Weltmacht. Doch just diese Sowjetunion ist in dem Moment, wo die Religion massiv in die Weltpolitik zurückkehrt, implodiert und einem russischen Staat gewichen, der in mancherlei Hinsicht die alte orthodoxe Kultur zu seinem neuen Kleid gewählt hat. So behauptet Putin heute in just jenem Kreml, den die gottlosen Kommunisten für Jahrzehnte okkupiert hatten, dass der christlich-orthodoxe Glaube „für die Verankerung und Entwicklung von Russlands Spiritualität und Kultur“ entscheidend sei. Binnen zwei, drei Jahrzehnten ist die Religion in Russland aus den entlegensten Nischen provinzieller Privatheit zurückgekehrt mitten hinein in das politische und gesellschaftliche Bewusstsein einer Weltmacht. Am Beispiel Russland lässt sich der Comeback-Effekt der Religion aus den ideologischen Trümmern des 20. Jahrhunderts besonders plastisch beobachten. Hier war es Alexander Solschenizyn, der 1994 in einem dramatischen Appell öffentlich forderte: „Holt Gott zurück in die Politik!“ Inzwischen ist dies geschehen.

In Russland glauben nach repräsentativen Umfragen heute wieder mehr als zwei Drittel der Bevölkerung an Gott. Der atheistische homo sovieticus ist eine Episode der Geschichte geblieben. Allerdings zeigen die soziologischen Studien, dass der atheistische Anteil der Bevölkerung bei den heute 50- bis 60-Jährigen besonders hoch ist, die gewaltsame Säkularisierung durch den Kommunismus in dieser Generation also Spuren hinterlassen hat. Umso bemerkenswerter ist die Rückkehr der russischen Jugend zum Bekenntnis religiöser Identität.

Dieser Trend zeichnet sich in vielen Staaten Europas ab. Allerdings heißt das nicht immer, dass damit die Kultur der Kirchlichkeit zurückkehrt. Die neue Religiosität zeigt sich in neuen Typologien. So diagnostiziert die jüngste Europäische Wertestudie in Europa vier dominante Cluster: Ein gutes Drittel der Europäer sind klassische, kirchenorientierte Religiöse. Etwa 10 Prozent kann man als „Privatreligiöse“ bezeichnen, deren Glaubensbewusstsein vital ist, aber weitgehend ohne Kirchenorientierung. Ein weiteres Drittel der Europäer gelten als „Distanzsympathisanten“ ohne engere Kirchenbindung und ohne ausgeprägtes Religionsbewusstsein, aber ausgestattet mit einer Grundsympathie und Offenheit für den Wertekanon der christlichen Kultur. Etwa 20 Prozent der heutigen Europäer sind „Atheisierende“ mit einer kritischen oder distanzierten Haltung zu Kirche und Religion. Das heißt: Das Verhältnis der religionsoffenen Europäer zu den Ablehnenden beträgt heute wieder 80 zu 20.

Paul Nolte beschreibt das übernationale Comeback des religiösen Bewusstseins so: „Wie in einem System konzentrischer Kreise, die unserem eigenen Standort immer näher rücken, hat sich allenthalben die neue Aufmerksamkeit für Religion in den letzten Jahren aufgebaut.“

Wenn man die Wiederkehr des religiösen Bewusstseins im politischen Raum weiterdenkt, lässt sich erahnen, welche identitätsstiftende Kraft in diesem Prozess steckt. Womöglich wird das Nationale als Identifikationsfigur der Massen nachlassen, insbesondere in einer globalisierten Welt des permanent erfahrbaren Multikulturalismus. Womöglich wird die Religion das neue Gefäß kollektiver Identität. Schon jetzt macht der Begriff der „Glaubensbrüder“ Karriere. Im islamischen Raum ist er längst zu einem starken Ferment politischen Verhaltens geworden. Wer sagt uns, dass wir nicht auch im Westen in einigen Jahren in den Kategorien des Christlichen die politische Weltkarte betrachten und politische Ereignisse danach beurteilen? Wie lange noch scheinen altmodische Werte wie Demut, Verantwortung, Würde, Nächstenliebe bloß als niedliche Accessoires einer Welt, in der das Eigentliche immer nur das Machbare und Moralfreie zu sein hat? Sie könnten somit ganz rasch auch forderndes Programm werden. Denn wo das ironische Denken dominiert, wird alles Moralische zur Provokation.

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Žanrid ja sildid

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