Loe raamatut: «Extra Krimi Paket Sommer 2021», lehekülg 10

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»Gehören Sie auch zum Scherkenhof?«

»Ja. Wollen Sie auch dort hin?«

»Einer der Mitbewohner war so leichtsinnig, mich einzuladen. Johann Thelen.«

Sie grinste anerkennend: »Jo rührt überall die Werbetrommel. Ich heiße übrigens Marlies Ackeren.«

»Freut mich. Jens Rogge.«

Den Rest der Strecke schob sie ihr Rad. Er schätzte die Frau auf Ende zwanzig, sie hatte ein offenes, energisches Gesicht und schien gern zu lachen. Ohne Nachfrage erfuhr er, dass sie seit zwei Jahren auf dem Hof lebte, zuständig für die Buchführung und als Aushilfe im Laden tätig war, der heute freilich geschlossen hatte. Über ökologischen Landbau sprach sie sehr gelassen, es war eine Chance, solange man direkt vermarkten konnte und Kunden fand, die bereit waren, etwas mehr für die Produkte zu zahlen. Mit den Erträgen haperte es noch, wie sie freimütig erläuterte, und bis für jede Fläche die optimale Fruchtfolge gefunden war, würden noch ein paar Jahre mühevoller Experimente vergehen. Zudem hatte Bauer Scherken den lehmigen Boden mit seinen schweren Traktoren stark verdichtet, sie mühten sich noch ab, die Böden aufzulockern und eine stabile Bodenfauna aufzubauen.

»Wie ist der Bauer eigentlich auf die Idee gekommen umzustellen?«, forschte Rogge neugierig und Marlies Ackeren schnalzte deftig mit der Zunge: »Er hat einen Brunnen, einen Hausbrunnen. Der wird vom Gesundheitsamt des Kreises regelmäßig geprüft und beim letzten Mal hatten sie ihm verboten, sein eigenes Wasser zu trinken. Wegen zu hoher Nitratbelastung. Das hat ihm einen Stoß versetzt.«

»Verständlich«, murmelte er.

Schon in Sichtweise des Hofes lehnte Marlies Ackeren ihr Rad an einen Baum und führte ihn in die Felder. »Ich enthülle Ihnen jetzt unser größtes Geheimnis«, wisperte sie listig. »Das hier.«

Verständnislos schaute er sich um. Eine Art Hecke, ziemlich wild und verfilzt. Am Fuße der Sträucher und Büsche waren Steine auf gehäuft, wie ein kleiner Wall, dicht bewachsen mit allem möglichen Unkraut.

»Das hier?«

»Ja, genau.« Rogges hilfloses Gesicht bereitete ihr diebische Freude. »Unser Heimangebot für Insekten, Vögel und Nager. Garantiert nicht gespritzt, also giftfrei.«

»Und wozu das?«

»Damit sich hier wieder Tiere ansiedeln, die Bauer Scherken vorher systematisch ausgerottet hat. Tiere, die Schädlinge fressen, Schlupfwespen zum Beispiel.« Die junge Frau lief weiter und Rogge kam kaum mit. Nach dreihundert Metern blieb sie vor einer Gruppe von Bäumen stehen. »Sehen Sie? Wir lassen das morsche Holz einfach liegen und diesen abgestorbenen Baum fällen wir nicht. Ahnen Sie, warum?«

»Damit sich bestimmte Vögel Bruthöhlen hacken können.«

»Genau. Und dann für andere räumen. Was meinen Sie, wie Schleiereulen unter den Mäusen wüten. Noch Kraft in den Beinen?«

»Aber immer.«

Es machte ihr sichtlich Spaß, einen Zuhörer zu haben. Sie stapften quer über eine Wiese, die aussah, als habe hier eine Panzerkompanie exerziert, und sie bestätigte: »Unsere Schweine. Im nächsten Monat säen wir eine Mischung aus Gras, Klee, Luzerne und Wildgerste aus.«

Dann mussten sie stehen bleiben, weil der Boden vor ihnen feucht und sumpfig wurde. Der kleine Bach hatte Tümpel und Pfützen gebildet, an deren Ränder Weiden und Erlen sprossen, und aus den Steinen und Brettern, mit denen der Bach früher eingefasst war, »reguliert«, wie sie klagte, war eine Art Staumauer gebaut worden.

»Setzen Sie Fische aus?«

»Nein. Zumindest nicht in den ersten Jahren.« Sie runzelte missbilligend die Stirn. »Sie sind ein echter Städter.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie wollen überall eingreifen, nachhelfen, etwas beschleunigen. Zur Ökologie gehört auch Geduld, die Natur weiß schon, was sie will.«

»Wenn man sich Geduld leisten kann«, grunzte Rogge.

»Da liegt der Hund begraben.« Marlies Ackeren seufzte tief. »Über Jahre weniger Erträge und mehr Handarbeit, wer kann das bezahlen bei diesem verrückten EU-Landwirtschaftssystem? Und dabei haben wir noch Glück, der andere Bauer im Tal hat aufgegeben und wir haben dessen Flächen dazupachten können. Wenn Sie zu aller Arbeit auch noch unter Nachbarn leiden, die dauernd meckern ...«

»Wie hat es Sie denn auf den Hof verschlagen?«

»Ich habe Gartenbau gelernt und nie genug gespart, um einen eigenen Betrieb aufzuziehen.«

»Und wie steht’s mit dem Hofbrunnen? Dürfen Sie ihn jetzt benutzen?«

»Nein, der Nitratgehalt sinkt zwar, ist aber immer noch zu hoch. Außerdem haben wir Athrazin entdeckt.«

Auf dem Hof hatte man sie schon bemerkt, Johann Thelen schielte Rogge beunruhigt an, offenbar kannte er das Temperament seiner Marlies, aber Rogge beruhigte ihn: »Ich habe eine Menge gelernt.«

»Das war der Zweck der Übung.« Sie praktizierte einen beachtlichen Händedruck und ließ nicht sofort wieder los: »Wir laden Sie zum Essen ein, allerdings müssen Sie dann in der Küche aushelfen.«

»Helfen will ich gerne, aber das Mittagessen habe ich mir abgewöhnt.«

Ihr prüfender Blick auf seine Taille war Gold wert. »Schlank ist gesund, aber Sie sind zu mager.«

»Das wirft mir mein Arzt auch vor.«

»Es gibt doch noch vernünftige Mediziner.« Lachend verzog sie sich.

Auf dem Hof herrschte Feiertagsruhe und Thelen führte Rogge in den Blumengarten: »Marlies will unbedingt Unterglaskulturen aufbauen.« Sein Ton verriet einerseits Skepsis, andererseits Resignation; Rogge begriff, dass man bei einem Disput gegen Marlies nur schwer gewinnen konnte. Blumen entdeckte er nur wenige, das meiste Grünzeug waren Küchenkräuter, die sie in wachsender Menge absetzten. »Aber die blühen auch schön!«, verteidigte Thelen halbherzig Marlies praktischen Sinn.

Die Sitzecke wurde durch eine halbrunde Wand aus unbehauenen Stämmchen gegen den Wind geschützt, hier ließ es sich aushalten. Weil Rogge Thelens Unruhe spürte, begann er vorsichtig: »Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Ja? Wobei denn?«

»Erzählen Sie mir etwas über Benno Brockes und Andrea Wirksen.«

Bis Thelen sich warmgeredet hatte, verstrich eine ganze Weile und Rogge ließ ihm Zeit, musterte das Bauernhaus, an dem renoviert und umgebaut wurde, die Ställe und die Silos, drängte nicht und schien manchmal vor sich hin zu träumen.

Also Benno. Ursprünglich sollte Benno den Familienhof übernehmen, aber dann verunglückte er mit dem Trecker und das Bein heilte nicht mehr richtig zusammen. Seitdem fuhr er einen Milchtransporter für die Molkerei. Trotz seiner Behinderung ein Schläger, gefürchtet wegen seiner Kräfte und seiner Brutalität. Rücksichtslos und verlogen. Wenn man ihm fünf Mark lieh, kam er nach einem Monat und drohte, gib mir sofort den Zehner zurück, den ich dir geborgt habe. Im Streit hatte er seinen Vater halb tot geprügelt und war vom Hof geflogen, seitdem hauste er in einer alten Schäferhütte. Allein, obwohl er immer wieder Mädchen aufgabelte, die es aber nicht lange mit ihm aushielten. Wer Benno kannte, schlug einen großen Bogen um ihn.

»Bis auf diese Andrea«, warf Rogge ein.

»Die ist doch kein Stück besser! Die Betten, durch die sie sich noch nicht gedrückt hat, kann man an einer Hand abzählen. Geil und geldgierig. Wer mit einem Hunderter wedelt, kann alles von ihr haben.«

Rogge zweifelte nicht an den Worten, wunderte sich aber über den gehässigen Tonfall. Ob Thelen auch seine Erfahrungen mit Andrea gemacht hatte?

Benno und Andrea schliefen manchmal miteinander, daraus machten beide kein Geheimnis, aber nach Thelens Eindruck legte sie mehr Wert auf Benno als er auf sie. Sie rannte hinter ihm her, er wehrte sie ab, ein komisches Paar, wirklich.

»Wie der Wirt und die Wirtin im Bären«, stimmte Rogge scheinbar gelangweilt zu und Thelen ging in die Falle.

Olli und die schöne Angi, ja, das war was. Wie die wohl zusammengefunden hatten?! Und warum Angi nicht fortlief?! Thelen lachte unsicher, weil er merkte, dass er etwas zu viel von seinen Gedanken verraten hatte. Der Bauer, der ihnen den Scherkenhof überlassen hatte, hatte Angi schon als Mädchen gekannt und schwärmte noch heute von ihr. An jedem Finger zappelten zehn Verehrer, was Angi genau wusste und genoss.

»Und was hat Sie auf den Scherkenhof verschlagen?« Rogge musste das Thema wechseln, bevor Thelen misstrauisch wurde.

»Mein Meister hatte sich zur Ruhe gesetzt ... und bei anderen hat’s mir nicht gefallen«, schloss Thelen lahm.

Das war eine klassische halbe Wahrheit, dachte Rogge. Nicht gelogen und das Wichtigste verschwiegen. »Na, dann werde ich mich mal wieder auf die Beine machen.«

Thelen schien erleichtert.

Auf dem Rückweg traf Rogge Monika Ziegler, die ihn verlegen begrüßte, »Ich glaube, er wartet schon sehnsüchtig auf Sie«, sagte Rogge ernsthaft und sie lachte. »Bis bald mal!«

Warum hatte sie die Vergewaltigung nicht angezeigt? Fürchtete sie das Getuschel? Oder den Prozess? Oder hatte sie den Mann erkannt und wagte nicht, etwas gegen ihn zu unternehmen?

Rogge drehte sich nach ihr um und ärgerte sich über ihre krumme Haltung. Den Kopf eingezogen, die Schultern nach vorne hängend, als habe sie kein Recht, aufrecht zu gehen und aller Welt ins Gesicht zu sehen.

Darüber dachte er auch nach, als er abends, mit schmerzenden Füßen und juckenden Waden, sein Abendessen bestellte. »Wo wohnt Ihre Freundin eigentlich?«

»Monika? - Bei ihren Eltern. In der Brückenstraße.«

»Ah ja.«

Nun war Gertrud anders gestrickt als Monika Ziegler, neugierig beugte sie sich vor: »Warum fragen Sie?«

»Ach, ich war heute auf dem Scherkenhof und auf dem Rückweg ist sie mir begegnet.«

Wie ein alter Kumpel zwinkerte sie ihm zu: »So, so. Monikas Vater ist Lehrer und seine Tochter mit einem verkrachten Elektriker - o je.«

Er lachte und bei dem Geräusch richtete sich auf der Bank rechts neben dem Eingang Benno Brockes auf. Er musste schon eine Menge getankt haben, es fiel ihm nicht ganz leicht, Rogge zu fixieren. Seinen Hass verbarg er nicht.

Unangenehm berührt drehte Rogge seinen Stuhl zur Seite. Was hatte er dem ungehobelten Klotz getan? Eine halbe Stunde später stellte sich Brockes mühsam auf die Beine, winkte dem Wirt schwerfällig zu und taumelte aus dem Bären.

Gertrud brachte Rogge das zweite Bier und flüsterte empört: »Gut, dass der Kerl gegangen ist. Wissen Sie, was der sich erlaubt hat? - Hat mir Vorwürfe wegen meines Ausschnitts gemacht.«

Der wies auch bei wohlwollender Beurteilung eine gewisse Großzügigkeit auf, die sie sich leisten konnte. Sie blies viel Luft ab: »Soll er sich doch seine Andrea vornehmen.«

»Gertrud!«, mahnte Rogge, nicht wirklich schockiert.

»Ist doch wahr!«

Im ruhigen Teil der Gaststube hatten der Arzt und sein Begleiter Platz genommen, sie unterhielten sich mit langen, beiden sichtlich peinlichen Pausen. Am Tresen tranken die zwei Alten wieder ihr Bier und schienen in ihre alte Diskussion vertieft; Olli schlief gleich im Stehen ein. Rogge war zu müde aufzustehen; kurz vor der Brückenstraße hatte er sich zu einem anderen Weg entschlossen und war bis nach Karlsau gewandert. Die Karte hatte nicht gelogen, Rogge hatte nur übersehen, dass der Bus am Sonntag nicht fuhr, und hatte den ganzen Weg wieder zurücklaufen müssen. Jetzt protestierte selbst sein Kreuz. Am Ende des dritten Glases entschloss er sich. Noch ein Schluck Bier und er würde die wenigen Meter zum Gästehaus nicht mehr bewältigen.

IX.

Draußen war es ungewohnt dunkel, Rogge atmete tief durch und stakste wie ein Storch zur Tür.

Der Schuss krachte so laut, dass es ihm die Ohren verstopfte und das Gehirn blockierte. Welcher Idiot - Rogge wollte sich umdrehen, verlor dabei das Gleichgewicht und plumpste wie ein nasser Sack auf den Boden. Wahrscheinlich keinen Moment zu früh, ein zweiter Schuss dröhnte, der Hauptkommissar presste sich an den Boden, jetzt wieder hellwach, und rührte sich nicht. Das hatte ihm gegolten.

Doch nun hörte er nichts mehr. Keine Schritte, kein weiterer Schuss, kein Knirschen von Sand oder Steinchen. Absolute Stille. In der Gaststube schien keiner etwas vernommen zu haben, niemand kam herausgestürzt oder rief.

Millimeterweise hob Rogge den Kopf. Nichts. Rechts, einen Meter entfernt, wuchs ein dichter Strauch neben dem Weg. Wenn er den erreichte ... - Schneckengleich schob er sich voran, ängstlich bemüht, den Körper nicht weiter als unbedingt nötig anzuheben. Aus dem Küchenfenster des Bären fiel etwas Licht in den Garten, aber hier war es eigentlich zu dunkel für einen Schützen ... und an einen Restlichtverstärker hinter dem Zielfernrohr wollte Rogge nicht denken ... geschafft.

Nach zwei Minuten beruhigte sich sein Atem. Jetzt hörte er auch das leise Klappern von Tellern aus der Küche. Wer immer auf ihn geballert hatte, gab sich mit den beiden Schüssen zufrieden. Oder er dachte, er habe getroffen, weil Rogge fast zeitgleich mit dem zweiten Schuss hingestürzt war. Nein, Vorsicht war immer noch der bessere Teil der Tapferkeit, den Eingang würde er nicht benutzen. Auf Knien und Ellbogen kroch Rogge bis zur Hausecke und richtete sich erst in ihrem Schutz auf. Bevor er zum Essen gegangen war, hatte er das Fenster zum Lüften seines Zimmers geöffnet, und wer zum Teufel wollte ihm vorschreiben, wie er sein bezahltes Zimmer betrat?

Trotzdem zog er die Vorhänge vor, bevor er das Licht anknipste.

Wenigstens hatten Hose und Jacke den zweiten Sturz des Wochenendes heil überstanden. Feuchte Erde, die würde trocknen, das konnte er morgen früh ausbürsten. Danach betrachtete er mit zusammengebissenen Zähnen das Telefon. Sollte er Hilfe holen ... ?

Rogge wälzte sich lange schlaflos in seinem Bett und dämmerte gerade hinüber, als ihn ein Geräusch hochriss. Merkwürdig gedämpft und doch ganz in der Nähe. Auf dem Flur? Vor seiner Tür?

Mit angehaltenem Atem horchte er, aber es wiederholte sich nicht, und als er endlich auszuatmen wagte, wusste er, dass er hellwach war und an Einschlafen nicht denken durfte, bis er eine Erklärung für das Geräusch gefunden hatte. Leise zog er sich Hose und Pullover über, schaltete das Licht aus, drehte im Zeitlupentempo den Schlüssel und zog die Zimmertür auf. Der Flur lag im Dunkeln, er trat hinaus und witterte. Wenn die Augen versagten, half manchmal die Nase oder ein siebter Sinn, einen versteckten Menschen zu ahnen. Doch ohne Erfolg, Rogge wollte sich schon wieder umwenden, als ihm ein schwacher Lichtstreifen auffiel, direkt über dem Boden, am Ende des Flures auf seiner Seite. Neue Gäste? Dann war das schwache Rauschen das Wasser, das in einer Dusche lief?

Verdammt, es würde ihm ja doch keine Ruhe lassen! Wütend auf sich selbst schlich Rogge in sein Zimmer zurück, tastete sich zum Fenster und stieg in den Garten hinaus. Ja, im letzten Zimmer brannte Licht, offenbar waren die Vorhänge vorgezogen, aber jetzt wollte er es wissen. Hauptkommissar Jens Rogge als Voyeur! Doch besser ausgelacht als noch einmal angeschossen!

Als hätte er es bestellt! Zwischen den beiden Vorhanghälften klaffte ein winziger Spalt, durch den er einen Ausschnitt des Zimmers beobachten konnte, das Fußende des Bettes. Dann bewegte sich das Laken und plötzlich stand ein nackter Mann im Zimmer, der sich abtrocknete. Rogge starrte ihn an wie ein Weltwunder, den Knaben hatte er noch nie gesehen. Wieder bewegte sich das Bettlaken, die Frau richtete sich auf und rutschte im Bett auf den Knien zum Fußende, um den Mann zu umarmen, der schon in seine Unterhose gestiegen war. Die nackte Schönheit kannte er, Frau Wirtin hatte also einen Liebhaber. Was Rogge ihr einerseits gönnte, ihn andererseits wegen ihrer Unvorsichtigkeit verwunderte. Oder konnte sie sicher sein, dass Olli sie hier nicht überraschte? Und wenn ja, warum?

Unbemerkt erreichte Rogge wieder sein Zimmer und lag im Dunkeln noch wach, bis er verstohlene Schritte und das vorsichtige Knacken der Haustür hörte. Danach schlief er schnell ein.

Montag, 18. September

Angi bediente ihn mit unverändert melancholischer Miene, seinen Blick meidend, und Rogge hütete sich, auf den Vorfall anzuspielen. Der Mann war etwas älter gewesen als sie, ein eher schmächtiges Hemd, auf jeden Fall das totale Gegenteil von Olli.

Wibbeke rollte das Metallkügelchen ratlos hin und her: »Was ist denn das, Herr Rogge?«

»Eine Kugel.« Im Tageslicht hatte Rogge die Einschlagstelle im Putz neben der Tür zum Gästehaus entdeckt und das Klümpchen vorsichtig herausgepult. Wahrscheinlich viel zu deformiert, um noch Züge zu erkennen, aber ihn interessierte in erster Linie, ob die Kugel aus einer Handfeuerwaffe oder einem Gewehr stammte. Ein Gewehrschütze musste sich nicht auf dem Gelände des Bären aufgehalten haben, Rogge hatte die beiden Männer vor Schönborns Villa nicht vergessen, dafür sorgte schon seine brennende Schulter. Dass sie geflohen waren, hatte wenig zu bedeuten, schließlich hatte er seinen Wagen seelenruhig vor Schönborns Haus geparkt. So ganz einfach wurde es einem Normalbürger nicht gemacht, an Hand des Kennzeichens einen Halter zu ermitteln, aber unmöglich war es für niemanden, selbst an einem Wochenende nicht.

»Und was soll ich damit?«

»An die KTU schicken. Ohne meinen Namen zu erwähnen.« Rogge schmunzelte, aber Wibbeke teilte seine Heiterkeit nicht.

»Sie verschweigen mir doch etwas!«

»Ja, tue ich. Aber ich gebe mein großes, mittleres und kleines Ehrenwort, dass ich alles beichte, wenn der Fall abgeschlossen ist.« Was, wie Rogge mit etwas schlechtem Gewissen dachte, noch lange dauern konnte.

Der Oberkommissar musterte ihn misstrauisch, resignierte aber schließlich: »Na schön, mir wird schon was einfallen,«

»Vielen Dank. Und wenn Sie den Kollegen etwas Dampf machen könnten ...«

Heute sündigte Rogge und besorgte sich in der Touristinformation einen Busfahrschein für eine Rundtour durch das so genannte Vorland. Erstens hatte er schlecht geschlafen, zweitens behinderte ihn seine Schulter und drittens musste er ja heute Nachmittag noch die Strecke von Herlingen nach Stockau zurücklaufen. Man kann alles auch übertreiben, pflichtete er seiner Entscheidung Beifall und war eingeschlafen, bevor der Bus das Ortsausgangsschild passierte.

Die Besichtigungsfahrt wurde so schlimm, wie er sich das ausgemalt hatte, einige Fahrgäste schleppten irre Mengen von Bier mit, das sie während der Fahrt systematisch und lautstark vernichteten. Die Kirchen und Klöster interessierten sie weniger, sie wachten aus ihrem Tran nur auf, als ihr Führer einen Fehler beging und erwähnte, dass die Klosterbrüder früher einen weithin gerühmten Bitterschnaps gebrannt hätten. Dass es den nicht zu probieren gab, beschäftigte die enttäuschten Saufköppe noch eine ganze Stunde.

Rogge bemitleidete den Führer, der sich aber nicht aus der Ruhe bringen ließ und seine Erklärungen immer schneller und lustloser herunterspulte. Er schien Kummer gewohnt. Das überteuerte Essen schenkte Rogge sich und bummelte an dem Bach entlang, immer noch unschlüssig, ob er morgen abreisen oder verlängern sollte.

Olli fischte mit dem Zimmerschlüssel einen Zettel aus dem Fach, den Rogge sofort auffaltete. »Ein Herr Simon wartet auf Rückruf.«

»Ach nee!« Rogge grummelte und Olli taxierte ihn aus verhangenen Augen.

»Meine Frau hat mir ausgerichtet, Sie wollten mir was auf den Schreibtisch legen.« Simon klang verschnupft.

»Ich hab’s mir anders überlegt.«

»Was soll das heißen?«

»Warum soll ich Ihnen Informationen geben, wenn Sie Ihre zurückhalten?«

»Ich halte nichts zurück.«

»Da bin ich anderer Meinung.«

»Das Grundgesetz garantiert die Meinungsfreiheit.«

»Eben.«

»Trotzdem irren Sie. Ich weiß nichts Konkretes, habe nur ein dummes Gefühl, mehr nicht.«

»Ich bleibe noch bis Ende der Woche.«

»Meinetwegen«, grollte Simon, bevor er grußlos auflegte, und Rogge schwankte einen Moment, ob er nicht zu weit gegangen war.

Gertrud freute sich, ihn zu sehen, und brachte ein Bier, bevor er sich richtig gesetzt hatte. »Den Tag gut verbracht?«

»Ach, es geht. In einem Reisebus mit einem Haufen angesoffener und grölender Faulpelze.«

Kritisch sah sie sich um: »Na, dafür wird’s hier heute umso ruhiger.«

Sie behielt Recht, Olli wankte um zehn Uhr aus der Gaststube, weil nichts mehr zu tun war, und sie setzte sich zu Rogge. Er war jetzt der einzige Gast und bot ihr an, sofort zu zahlen, damit sie schließen konnte.

»Eine halbe Stunde warten wir noch.«

»Von Benno und seiner Bande hat sich heute keiner sehen lassen.«

»Nee, die haben im Moment andere Sorgen.« Sie kicherte schadenfroh. »In der Disko hat’s am Samstag gewaltig Zoff gegeben. Eine Schlägerei, die Bullen - äh, die Polizei ist angerauscht und hat mächtig zugelangt.«

»Meine Kollegen können sich auch eine nettere Samstagabend-Beschäftigung vorstellen.«

»Und ob! Einige von Bennos Brüdern werden kräftig löhnen müssen.«

»Warum war Benno nicht in der Disko?«

»Richterliches Hausverbot seit Monaten.« Sie nickte nachdrücklich.

»Und Andrea Wirksen? Geht die in die Disko?«

»Wenn sie einen Dummen findet, der für sie blecht — klar.«

Warum Rogge sich so plötzlich entschloss, wusste er selbst nicht: »Gertrud, wer ist der Liebhaber der Chefin?«

Sie tat nur so, als sei sie schockiert, und als Rogge spielerisch eine Faust unter ihr Kinn stupste, hob sie beide Hände: »Okay, okay. Ziegler heißt er. Der Lehrer.«

»Monikas Vater?« Damit hatte sie Rogge verblüfft.

»Ja. Monika darf nichts davon wissen, ach Gott, das gäbe ein Drama.«

»Aber Sie wissend doch auch.«

»Weil die Chefin zu dämlich ist, die Bettlaken richtig im Wäschesack zu verstauen. Und das Zimmer sieht morgens immer aus! Sie haben gestern wieder rumgetobt.«

»Ja.«

»Olli stört das nicht, der hat kein Interesse mehr an seiner Frau. Aber Monikas Mutter - o je, halten Sie bloß den Mund.«

»Versprochen.«

Düster starrte Gertrud auf ihre gefalteten Hände, die Fingerknöchel leuchteten weiß von dem Druck. »Manchmal widert mich der ganze Laden ziemlich an. Die saufen und lügen und huren herum und immer muss ich so tun, als wäre ich zu dämlich, bis drei zu zählen. Lange halte ich das nicht mehr aus.«

Eine Gertrud mit einem moralischen Kater war sehr ungewohnt, Rogge betrachtete sie schweigend. Warum suchte sie sich nicht eine andere Stelle? So tüchtig, wie sie war, musste sie doch überall etwas finden.

Sie spürte seinen prüfenden Blick: »Heute bin ich nicht die große Nummer, wie?«

»Nein, aber sympathisch wie immer.«

»Damit ist der Tag ja gerettet.« Es sollte burschikos klingen, aber es verunglückte total, sie merkte es und seufzte: »Dann machen wir mal Schluss für heute.«

Bokholt und Mähl hatten das Schießpulver nicht erfunden, das war Weinert von Anfang an klar gewesen, aber so dämlich stellten sich nicht einmal Amateure an. Parkten direkt vor der Villa und ließen sich von Schönborn und einem Kriminalbeamten überrumpeln. Dann kriegten sie natürlich das große Hosenflattern, fuchtelten mit Ballermännern herum und flohen wie die Hasen vor dem Hund. In einem Auto mit einem tauben Kennzeichen, das sich nur ein Dienst beschaffen konnte. Wenn der zweite Mann wirklich von der Kripo gewesen war, hatte er sich die Autonummer gemerkt. Und im Bestand recherchiert ... Immerhin war diesen Vollidioten auf gefallen, dass sich Schönborn und der Kripomensch abgesprochen hatten. Was eine zusätzliche Komplikation bedeutete: Schönborn würde also von dem tauben Kennzeichen erfahren. Zumindest mussten sie davon ausgehen. Und damit war ihre wichtigste Spur erledigt, verschüttet, verboten, verbrannt. Rückzug auf der ganzen Linie! Großartig! Warum nur lief in diesem verfluchten Fall alles schief?

Nach fünf Minuten stemmte Weinert sich hoch. Es nutzte ja nichts, er musste beichten, welchen Bock der Verfassungsschutz geschossen hatte. Hoffentlich war Reineke einigermaßen gut gelaunt.

Dienstag, 19. September

»Ich würde gerne noch bis Freitag bleiben«, sagte Rogge leise, als Angi den Kaffee abstellte.

»Ich freue mich, dass es Ihnen bei uns gefällt«, antwortete sie herzlich. »Das Zimmer ist frei.«

Die Bewölkung hatte sich verzogen, aber die Sonne wärmte nicht mehr so wie in der Vorwoche. Rogge verließ sich wieder einmal auf seine Wanderkarte. Allein zu laufen störte ihn nicht, er ordnete dabei seine Gedanken und fühlte sich frei, wenn er auf niemanden Rücksicht nehmen und keine Fragen beantworten musste.

Bis jetzt hatte er sich nicht mit Ruhm bekleckert. Dank Gertrud hatte Rogge zwar viel erfahren, und bevor er abreiste, musste er noch herausfinden, warum sie so schnell Vertrauen zu ihm gefasst hatte. Aber seine Anwesenheit hatte niemanden wirklich aufgescheucht, obwohl er sicher war, dass Gertrud eifrig im Dorf verbreitet hatte, welchen Beruf er ausübte.

Auf der anderen Seite - die beiden Männer vor Schönborns Villa. Mit einem gefälschten Autokennzeichen und bewaffnet. Und die beiden Schüsse. Irgendeinem Menschen war er schmerzhaft auf die Füße getreten, aber Rogge hatte keine Ahnung, wem und wann. Zuletzt Simons Geheimniskrämerei. Also wohl doch kein Fall einfacher Amnesie. Schönborn würde nach der Samstagepisode schon dafür sorgen, dass Inge Weber geschützt wurde, um die Sicherheit der Dunkelblonden musste Rogge sich nicht den Kopf zerbrechen. Wenn - und das stand leider gar nicht fest - die beiden geflüchteten Knaben wirklich an der Person Inge Weber interessiert waren und nicht doch einen Bruch ausspioniert hatten.

Über Mittag stand Rogge in einer Schmiede und schaute zu, wie zwei Reitpferde beschlagen wurden. In der Volksschule hatten sie ein Lesebuch benutzt, in dem der Schmied noch schmiedete, der Müller mahlte und der Bauer hinter seinen Rössern fröhlich pfeifend schritt. Du meine Güte, wo war das alles geblieben! Die sentimentale Anwandlung gestand er auch dem jungen Meister, der ihn auslachte: »Es kommt alles wieder. Ich hab gut zu tun, wenn Sie Richtung Weltersmühle laufen, sehen Sie gleich zwei Reiterhöfe. Und drüben in Sickenbach wird ein Golfhotel gebaut.«

In Sickenbach kam Rogge mit einer alten Frau ins Gespräch, die im Heimatmuseum Spitzen klöppelte. »Nein, leben könnte ich davon nicht, aber die Rente besseres schon auf!« Bei den Preisen der ausgestellten Stücke schluckte Rogge trocken,

Der Rückweg führte ihn durch die Halterer Berge, hier wurde Wein angebaut und er kaufte sich für zwei Mark ein Faltblatt für den Weinlehrpfad. Dass der Tourismus eine Industrie war, wusste er, aber womit man den Besuchern Geld aus der Tasche zu ziehen vermochte, erregte seine widerwillige Bewunderung.

Im Bären war nichts los. Gertrud hatte ihr Stimmungstief überwunden und brauste im gewohnten Tempo zwischen Tischen und Tresen hin und her. Olli stützte sich mit einer Hand ab, strich sich über den Kopf und war mit den Gedanken weit weg. Die Krakeeler-Bank blieb leer. Doch gegen halb zehn kam Andrea Wirksen in die Gaststube und setzte sich an einen Tisch, Rogge konnte sie im Profil mühelos beobachten.

Sie bestellte ein Bier und einen Klaren und schüttelte sich, nachdem sie den Schnaps gekippt hatte, ihre mürrischverkniffene Miene hellte sich auf, als habe sie etwas heruntergespült, was sie bedrückt hatte. Sobald sie bei Gertrud bezahlt hatte, ging sie zum Tresen und redete auf Olli ein, der sie von oben herab unbewegt musterte und verächtlich die Nase rümpfte, als sie hüfteschwenkend den Bären verließ. Eine Viertelstunde später hinkte Benno Brockes in den Raum, unterhielt sich kurz mit Olli und verließ sofort wieder die Gaststube. Seine hohen Gummistiefel wirkten durch Lehm und Dreck wie gepanzert.

Gertrud lächelte grimmig, ihr entging nicht viel.

»Wo wohnt diese Andrea eigentlich?«

»In der Hauptstraße.« Eine Sekunde zögerte Gertrud, aber die Boshaftigkeit siegte über ihre Diskretion: »Da wird sie heute aber nicht schlafen.«

»Sondern wo?«

»Bei Benno.«

»Wo liegt denn diese alte Schäferhütte?«

»Halbwegs Herlingen. An der Straße zum Deneckerhof.«

In der Nacht blieb alles ruhig.

Mittwoch, 20. September

Den Tag vertrödelte Rogge in Herlingen. Zum ersten Mal langweilte er sich, hockte in einem Café und studierte den Stockerboten von der ersten bis zur letzten Zeile, stöberte in der Buchhandlung und besichtigte die Kirche, die außer einem ehrwürdigen Altar und fragwürdigen Renovierungen künstlerisch nichts zu bieten hatte.

Um die Zeit totzuschlagen, lief Rogge auf der Landstraße zurück, ärgerte sich über die vielen Autos und bog dann in eine schmale Seitenstraße ein, die laut Hinweisschild zum Deneckerhof führte. Die Steigung war beachtlich, doch auf der Kuppe wurde man mit einem schönen Blick in ein Seitental belohnt, an dessen Ende Rogge hinter hohen Bäumen gerade noch einen Fachwerkbau erkennen konnte. Rechts lag die Schäferhütte, wie der Hauptkommissar vermutete, obwohl der Ausdruck Hütte nicht zutraf. Zwar gab es ein kleines Fachwerkhäuschen, aber auch zwei scheunengroße Gebäude, bis zur halben Höhe gemauert, darüber aus Holz gebaut. Die früheren Ställe? Das ganze Anwesen machte einen verlotterten, verlassenen Eindruck. Gemütlich schlenderte Rogge daran vorbei. Es passte zu Benno.

Auf dem Rückweg bemerkte er, dass die Dachfirste der Hütte und der Ställe etwas tiefer lagen als die Kuppe der Anhöhe. Also wind- und sichtgeschützt.

Mittlerweile kannte Rogge viele Gäste vom Sehen und um den einzigen Unbekannten, einen jungen Mann zweite Hälfte zwanzig, kümmerte sich Gertrud so angelegentlich, dass er grinsen musste. Ihre roten Ohren verrieten alles.

»Wie heißt er denn, Gertrud?«, flüsterte Rogge und sie seufzte: »Michael.«

Da hatte der Blitz gezündet, es brannte lichterloh.

Bis zum Einbruch der Dunkelheit verbargen sie sich in dem Dorf. Es schien ausgestorben zu sein, nur in zwei Häusern war Licht, die anderen halb eingestürzten Gebäude lagen im Dunkel, die Straßenlaternen funktionierten wohl schon lange nicht mehr. Kein Hund bellte, keine Katze miaute. Es roch nach Verfall, als ob hier nie Menschen gelebt hätten. Nach dem letzten großen Oder-Hochwasser waren viele weggezogen.